Gesundheitsreform: Griff nach Kassen und Körpern

"Die schwarz-roten Gesundheitsreformer gehen nicht nur nicht weit genug, sie gehen in die falsche Richtung." Das vernichtende Urteil einigt die Pressesprecher und Kommentatoren.

Und es trifft die Richtigen. Doch diese Kritik verhindert nicht den drohenden Angriff und lähmt die Orientierungslosen. Denn wir stehen vor der Frage: Mobilisieren wir für eine andere oder gegen ihre Reform?
Noch 1998 hatte die schwarz-gelbe Koalition die Mehrheit der Wählenden gegen sich aufgebracht, als sie die Zuzahlungen insbesondere bei Medikamenten entfesselten.

Ihre rot-grünen Erben hielten - zunächst - ein Wahlversprechen und schraubten die Zumutungen zurück. Ab 2004 zielten sie mit der Praxisgebühr und zahlreichen Zuzahlungen direkt auf die Geldbeutel der Kranken; und leiteten auch damit ihre Schlappe Ende 2005 ein.
Die gesundheitspolitischen Strategen aus CDU und SPD haben schmerzhaft gelernt, wie unmittelbar sie zumindest an den Wahlurnen abgestraft werden. Diesmal stellen sie nicht etwa die Privatisierung des Risikos in den Vordergrund, sondern ihren Staat selbst. Er reglementiert die kranken und gesunden Körper. Er steuert nicht nur die Finanzen, sondern die Krankenkassen, die Medizin samt ihrer Behandlungsobjekte, der Patienten. Die Eckpunkte der drohenden Schnitte unterscheiden sich dabei dreifach von früheren Angriffsplänen.

Streng geheim

Die Entscheidungen über die öffentliche Gesundheitsversorgung fallen wieder unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Doch diesmal geben sich die Unterhändler nicht nur verschämt zugeknöpft. Vor laufenden Kameras und Mikrofonen begründen sie wortreich, wie sie sich untereinander striktes Stillschweigen geschworen haben. Wir kennen bislang nur Bruchstücke von dem, was sie hinter den Rücken der Kranken und Versicherten untereinander ausgedealt haben. Sie wollen uns nichts verraten, erklären, begründen.

Der bereits weitgehend zum Popanz verkommenen Selbstverwaltung der Krankenkassen wird im zweiten Schritt endgültig der Garaus gemacht. Die Beitragshöhe, der Beitragseinzug, die Verwaltung und die Versorgung - all das wird stückweise den Behörden übergeben. Trickreich bleiben die Planer selbst zunächst unsichtbar. Auch nicht der Arzt oder die Apothekerin werden zukünftig die Hand für die staatlich verordneten Zuschläge offen halten. Es sind die Kassen, die sich an ihre Versicherten zum Jahresende halten müssen, um von uns zu holen, was ihnen in der Kasse fehlt. Diese Nachzahlungen werden in Form einer "kleinen" Kopfpauschale Arm und Reich ungleich treffen. Diese private Zwangsversicherung wird auf höchstens 1% des Einkommens begrenzt - vorläufig jedenfalls.

Verständlich, dass die bedrohten Chefetagen in den Kassen an der Seite der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten nicht nur aufgeschreckt protestieren, sondern auch mobilisieren. Und sie wenden sich an die Versicherten und Patienten um Hilfe. Sie ernten dafür ein Wutgeheul bei den Reformern. CSU-Generalsekretär Söder nannte die geplante Kampagne der Kassen eine "unerträgliche Verschwendung von Beiträgen der Versicherten".

Und auch sonst stoßen sie auf wenig Mitleid. Haben die Kassen doch schon die Anhebung der Beitragssätze für die kommenden Monate angekündigt. Fast jeder hat erlebt, wie die Kasse die Bezahlung notwendiger Behandlungen verweigerte. Wir alle haben schon von den Palästen der verschwendungssüchtigen Kassenbosse gehört, offenbar vor unseren Augen versteckte Schatzkammern, ganz anders als die offen ausgestellten Kathedralen der Banken in Frankfurt. An den Schauermärchen wird etwas dran sein...

Unter diesem Druck scheren einzelne Kassenchefs bereits aus. Sie dienen sich öffentlich als Steigbügelhalter für noch weiter reichende Operationen an. So ist IKK-Chef Hermes mit den "Eckpunkten" der Regierung durchaus einverstanden. Doch will er dafür die "wettbewerblichen" Freiräume für die Krankenkassen noch deutlich erweitert wissen. Hermes fordert, die Überforderungsklausel deutlich über 1% anzuheben. Auch Ärzte schauen hungrig auf eine Anhebung der Überforderungsklauseln. Ralf Büchner, KV-Chef in Schleswig-Holstein, erhofft sich dadurch einen Wettbewerb der Krankenkassen um Zusatzversorgungspakete: "Eine Überforderungsklausel von 5-10% wäre sinnvoll".

Piercing oder Tattoos

Das dritte Signal: Wer nicht hören will, was die staatlichen Experten als richtig und gesund beschlossen haben, muss die Folgen fühlen und zahlen. Da kann sich die geplagte Volksseele endlich Luft machen. Die Behandlung von Komplikationen nach Körperdesign sollen aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen gestrichen werden. Ein internes Papier des Ministeriums beziffert das Einsparvolumen der Folgekosten von Piercings, Tattoos und Schönheitsoperationen auf 50 Millionen Euro im Jahr.
Wie bei den meisten angezettelten Missbrauchsdebatten ist der wahre Kern dann viel billiger. Für die Behandlung von "primär nicht heilenden" kleinen Wunden hat die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) nach Angaben des AOK- Verbands 2005 insgesamt 25 Millionen Euro ausgegeben.

Piercings und Tattoos hätten daran wahrscheinlich einen Anteil von 1%. Experten schätzen die Ersparnis insgesamt auf jährlich 249000 bis höchstens 746000 Euro. Dieser Schritt zu mehr "Eigenverantwortung" zielt also gerade einmal auf eine Entlastung von 0,00007 Beitragspunkten.
Beim Zahnarzt wurden wir bereits an das Bonusheft gewöhnt. Der jährliche Stempel im Bonusheft weist nach, dass wir uns der Kontrolle unterworfen haben. Sonst verlieren wir weitere Teile des Versicherungsschutzes. Die 45- bis 55- Jährigen sollen nun auch beim Hausarzt auf dieselbe Weise zur "Vorsorge" getrieben werden. Meist handelt es sich lediglich um eine mögliche medizinische Früherkennung, keinesfalls um Vorbeugung. Doch Gesundheitsministerin Ulla Schmidt straft und belohnt: "Wer mitmacht, wer aktiv dazu beiträgt, vermeidbare Komplikationen nicht entstehen zu lassen, sollte besser dastehen als andere Patienten."
Tatsächliche Prävention, also die Vermeidung von Krankheiten, ist nicht beabsichtigt. Denn ihre sozialen Ursachen, unsere Arbeits- und Lebensbedingungen, passen nicht ins Bonus-Malus-Heftchen.