Pfui Osten, pfui Berlin

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Berlin kann bei der Tilgung des exorbitanten Schuldenberges von sechzig Milliarden Euro nicht auf Bundeshilfe hoffen. Das ist ein Lehrstück in Heuchelei.

Aber konnte man wirklich etwas anderes erwarten? Von einem Gremium, das sich aus genau jenen westdeutschen Eliten rekrutiert, die gerade erst die Föderalismusreform auf den Weg gebracht haben?

Beide Entscheidungen hängen eng miteinander zusammen, und beide zeigen einmal mehr, wohin der Hase im seit 1990 "vereinigten" Deutschland läuft. Beigetreten war der Osten damals, und nun wird auch dem Letzten - und mithin auch all jenen Westberlinern, die immer noch nicht gemerkt haben, daß sie in den Augen der westdeutschen Eliten Osten geworden sind - verklickert: Ein Beitritt ist ein Beitritt ist ein Beitritt, und das Wort "Beitritt" darf dabei getrost auf der zweiten Silbe betont werden.

Die Föderalismusreform entbindet die Bundesregierung ihrer im Grundgesetz verankerten Pflicht, für gleichwertige Lebensverhältnisse Sorge zu tragen. Sie ersetzt das Solidarprinzip durch den "Wettbewerb" - und das heißt nichts anderes als: Den Habenden wird gegeben und den Nichthabenden nicht - also genommen. Der Teufel scheißt auf den größten Haufen, und der liegt nicht in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern und nicht in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen.

Und auch nicht in Berlin! Denn noch einmal: Berlin ist Osten und sonst nichts. Trotz Nikolassee und Frohnau, Dahlem und Grunewald.

Ja, als Westberlin noch Westen war - da sprudelten die Geldquellen. Da zahlten sie "drüben" alle willig ihren Westschaufenster-Zehnt an Westberlin. Nicht nur die kleinen, sondern auch die ganz großen westdeutschen Steuerzahler. Und die Summen konnten gar nicht gewaltig genug sein. Sieben Milliarden D-Mark flossen noch 1990 direkt in die Senatskassen - genug Geld, um, zum Beispiel, eine öffentliche Verwaltung aufzubauen, die um ein Fünftel mehr Stellen auswies als in vergleichbaren westdeutschen Ballungsgebieten. Nimmt man die Subventionen für die nach Zehntausenden zählenden Arbeitsplätze in den "verlängerten Werkbänken" der großen westdeutschen Konzerne hinzu, kommt man in den achtziger Jahren auf 35 Milliarden DM jährlich.

Und 1994 - just in dem Jahr, in dem die Entscheidung fiel, daß Bundestag und Bundesregierung nach Berlin ziehen werden - wurden aus den sieben Milliarden D-Mark für die eine Hälfte der Stadt plötzlich 0 - in Worten: Null - D-Mark fürs Ganze.

Daß man den Osten damit bestrafen wollte, lag auf der Hand. Was mußte der auch jahrzehntelang versuchen, dem Westschaufenster ein Ostschaufenster entgegenzusetzen und also ebenfalls Milliarden an Subventionen in die Stadt zu pumpen, für die es nun keinen Ersatz mehr gab. Selber schuld. Bloß: Aus der Ostbestrafung wurde blitzschnell die Bestrafung der ganzen Stadt, denn auch die subventionierten Arbeitsplätze in Westberlin waren nun nicht mehr effizient und "fielen weg". 135 000 Industriearbeitsplätze verlor Berlin von 1992 bis 2002 - und mußte zugleich den "Wegfall" jener Zehntausenden Arbeitsplätze schultern, die mit der Hauptstadtfunktion Ostberlins zusammenhingen.

Das alles sind - wer wollte das ernsthaft bestreiten - Bundesangelegenheiten, sind Folgen der Politik der alten Bundesrepublik und der "weggefallenen" DDR, deren Erbe die Bundesrepublik seinerzeit - man erinnere sich der überstürzten Herbeiführung der Währungsunion - gar nicht schnell genug antreten konnte. Und nun hebt man die Hände und will mit all dem nichts zu tun haben. Pfui Osten, pfui Berlin - helft euch doch selber!

Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, einen Blick in das Berlin-Bonn-Gesetz von 1994 zu werfen - jenes Gesetz, mit dem gesichert werden sollte, daß Bonn nach dem Verlust der Hauptstadtrolle nicht in ein tiefes Loch stürze. "Parlament und Regierung", heißt es da, sollten "wieder" in der "deutschen Hauptstadt Berlin" ihren Sitz haben, denn die sei "in über 40 Jahren deutscher Teilung ein Symbol des Willens zur deutschen Einheit" gewesen.

Mal ganz abgesehen von der berückenden Vorstellung, Berlin, Hauptstadt der DDR, sei "in über 40 Jahren deutscher Teilung ein Symbol des Willens zur deutschen Einheit" gewesen, fällt hier auf, daß das Symbol also die Milliardensubventionen schon wert gewesen ist - die leibhaftige Hauptstadt aber ist es nicht mehr.

Und nicht weniger interessant ist auch der Präambelpassus zu Bonn: Bonn bedürfe der Förderung, denn es habe "in Wahrnehmung der Aufgaben als provisorische Bundeshauptstadt Wesentliches zum Aufbau und zur Identifikation des demokratischen, an bundesstaatlichen Prinzipien orientierten Deutschlands geleistet". Förderung als Prämie für Leistung: Wäre das nicht ein Ansatz, nun also auch Berlin zu würdigen? Für Leistungen, die wahrlich und wahrhaftig erbracht worden sind in sechzehn Jahren beim friedlichen Zusammenwachsen nicht nur zweier, sondern - nimmt man die starke türkische Bevölkerungsgruppe hinzu - dreier unterschiedlicher Gesellschaften in einer Stadt? Bei gleichzeitiger Hauptstadtfunktion? Und dem schon erwähnten, durch bundespolitische Entscheidungen herbeigeführten gewaltigen Arbeitsplatzabbau?

Aber all das ist - offensichtlich - den westdeutschen Entscheidungs-Eliten egal. Blitzschnell haben sie die "Jammerlappen"-Platte parat, die sie auch bei der Beurteilung des Ostens insgesamt nur allzu gern abspielen. Objektive Vergleiche - etwa mit den Hauptstädten London und Paris, die sich selbstverständlich auch nicht aus sich selbst heraus finanzieren können - sind nicht gefragt. Und Hinweise darauf, daß Hauptstadtfragen ebenso wie andere Fragen der gesamtgesellschaftlichen Struktur nicht betriebswirtschaftlich gelöst werden können, prallen ab wie alles andere, das nicht in den neoliberalen Kanon paßt. Lohnt es da noch, daran zu erinnern, daß Bismarck tausendmal weitsichtiger war und Berlin 1873 Preußen zugeordnet und es von Preußen hat tragen lassen? Nein, nein: Es soll natürlich nicht wieder Preußen sein! Aber warum nicht die ganze Bundesrepublik?

Nun haben sich die beiden letzten verbliebenen Führungs-Ossis der SPD, Wolfgang Thierse und Wolfgang Tiefensee, für Berlin in die Bresche geworfen. Thierse will - wie übrigens die Linksfraktion auch - den Komplettumzug der Regierung, das heißt: die sage und schreibe größere Hälfte der Regierung, die immer noch in Bonn beheimatet ist (54 Prozent!), soll endlich in die Hauptstadt. Und Tiefensee plädiert für Bundesfinanzhilfen.

Aber beide stehen ziemlich alleine da. Nicht einmal Matthias Platzeck, der eben noch die große Integrationshoffnung der SPD gegeben hat, haben sie auf ihrer Seite. Dem war am Tage der Karlsruher Urteilsverkündung nichts Schmählicheres eingefallen als der herablassende Satz, daß unter diesen Umständen an die Länderfusion Berlin-Brandenburg natürlich überhaupt nicht mehr zu denken sei.

"Pfui Berlin" als Politikprinzip. Ausgerechnet in einer Republik, die als Berliner gilt.

in: Des Blättchens 9. Jahrgang (IX) Berlin, 13. November 2006, Heft 23

aus dem Inhalt:
Wolfram Adolphi: Pfui Osten, pfui Berlin; Friedrich Engels: Unrettbar verloren; Christoph Butterwegge: Von Hartz zu Hartz; Martin Nicklaus: Rechtswerdung; Gertrud Eggert, Peking: Die Geschäfte des Herrn Wei; Peter Braune, z. Z. Qazrin (Golan): Einfach ignoriert; Holger Politt, Warschau: Symbolische Politik; Klaus Hart, São Paulo: Elitekandidat Lula; Günter Wirth: Im Presseclub; Walter-Thomas Heyn: Märkische Ausfahrten; Helmut Höge: Arme Schweine; Ove Lieh: Blindekuh; Henryk Goldberg: Ente gut, alles gut