Zur Lage in Ostdeutschland.

Bericht des Netzwerkes und des Innovationsverbundes Ostdeutschlandforschung (Auszüge).

Vorwort

Über die sozioökonomische Lage und Entwicklung in Ostdeutschland gibt es eine Vielzahl von Einzelbefunden, aber auch große Lücken. Vor allem aber fehlt der Versuch, den Zusammenhang zwischen den verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu untersuchen. Im Frühjahr des Jahres 2005 haben daher sieben außeruniversitäre Institute - Berliner Debatte/GSFP, BISS, IPRAS, SFZ, WISOC, Thünen-Institut und ZSH - einen Workshop einberufen und ein Netzwerk Ostdeutschlandforschung gegründet (vgl. Netzwerk Ostdeutschlandforschung 2005a; 2005b). Ziel war es, den Zusammenhang der einzelnen Befunde und Forschungsergebnisse zu diskutieren und einen neuen Ansatz für die wissenschaftliche Untersuchung und die gesellschaftliche Strategiebildung zu finden. Unter den Überschriften "Paradigmenwechsel der Ostdeutschlandforschung" und "Neue Ostdeutschlandforschung" wurden erste Konzepte und Ergebnisse veröffentlicht. Gleichzeitig nahmen wir uns vor, den hier nun vorliegenden Bericht zu erarbeiten, der verschiedene Forschungen integriert und erstmalig versucht, die aus unserer Sicht wichtigsten Zusammenhänge in einem Gesamtbild zu vereinen.

Dank der Unterstützung der Otto-Brenner-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung konnten wir Workshops, Netzwerktreffen und Kolloquien durchführen und eine Webseite mit Informationen über Forschungsergebnisse und Aktivitäten des Netzwerkes aufbauen. In besonderem Maße haben das Land Berlin, der Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur und die Wissenschaftsverwaltung unsere Arbeit gefördert. Mit ihrer Hilfe konnte im November 2005 der Innovationsverbund Ostdeutschlandforschung als Kooperation der Institute des Netzwerks Ostdeutschlandforschung mit dem Zentrum Technik und Gesellschaft (ZTG) der TU Berlin aufgebaut werden, in dessen Rahmen Forschungsarbeiten zu diesem Bericht finanziert wurden. Wir danken den genannten Förderern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Institute des Netzwerks und des Innovationsverbunds Ostdeutschlandforschung am ZTG der TU Berlin.

Der vorliegende Bericht basiert auf einer Vielzahl einzelner Befunde aus verschiedenen Projekten, Veröffentlichungen und Kolloquien, die wir sekundär ausgewertet haben, darunter außer unseren eigenen Forschungen insbesondere die des Sonderforschungsbereichs "Gesellschaftliche Entwicklung nach dem Systemumbruch" Halle und Jena, aus Universitäten, dem IRS, dem IWH und anderen Instituten. Er umfaßt Darstellungen zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, zum Problem der Finanz- und Realtransfers, zur Wirtschaftsstruktur und dem Wandel von Produktionsmodellen, zur Erosion der Erwerbsarbeit, den neuen sozialen Problemlagen und der Ghettoisierung von Überflüssigen im "sekundären Integrationsmodus", zum demographischen Wandel und der Lage der jungen Generation, zu den Problemen einer schrumpfenden Gesellschaft und dem Stadtumbau, zu regionalen Disparitäten und zu neuen Ansätzen der Bildung von Sozialkapital. Dies ist ein sehr breites Spektrum; trotzdem fehlen wichtige Themen wie Kultur, Hochschulen, Schulen, Verkehr u.a. Auch der Versuch, die verschiedenen Themen und Befunde zu integrieren, sollte nicht als Anspruch auf eine geschlossene und in jeder Hinsicht kohärente Darstellung mißverstanden werden. Eine allumfassende Darstellung der Lage in Ostdeutschland ist in der gegebenen Zeit und mit den vorhandenen Mitteln nicht möglich - vor allem aber kann sie auf der Basis der vorliegenden Forschungen und Befunde gar nicht erarbeitet werden. Denn trotz der großen Zahl einzelner Studien und Untersuchungen gibt es erhebliche Forschungslücken. So weiß man beispielsweise sehr wenig über die unterschiedlichen Strukturen der oft beschworenen "Cluster" in Ostdeutschland, weshalb auch die an eine "Clusterförderung" geknüpften Erwartungen aus wissenschaftlicher Sicht höchst spekulatives Wunschdenken sein könnten. Ebensowenig erforscht sind die Sozialisationseffekte in den vielen seit 1990 mit Mitteln der Arbeitsmarktpolitik oder der europäischen Strukturfonds geförderten "Projekten", besonders hinsichtlich der Wirkungen langjähriger Maßnahmekarrieren in der jüngeren Generation. Und auch zu so "einfachen" Fragen, wie denen der sozialen und regionalen Differenzierung der Einkommen, gibt es nur lückenhafte Darstellungen. Wir verstehen diesen Bericht daher als ersten Schritt einer neu auszurichtenden und empirisch zu erweiternden Forschungsoffensive.

Der Versuch, viele einzelne Befunde in einen Zusammenhang zu stellen, sie als Elemente eines Umbruchszenarios zu verstehen, erforderte theoretisch-konzeptionelle Thesen, die insbesondere durch die Zusammenarbeit mit dem Forschungsverbund Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung Deutschlands (SOEB) entwickelt werden konnten. Bereits für den 2005 erschienenen Bericht zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland hat Rainer Land Forschungsergebnisse zu Ostdeutschland in die Debatte über den Umbruch des deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells eingebracht. Umgekehrt erwies sich die Umbruchsthese der sozioökonomischen Berichterstattung (SOEB 2005: 11ff.) als wichtiger Schritt zu einer "neuen Ostdeutschlandforschung". Die im Jahr 2003 begonnene Zusammenarbeit war für die Ostdeutschlandforschung sehr fruchtbar: die in der sozioökonomischen Berichterstattung entwickelten Thesen und Konzepte zum Um--bruch des deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells und die kritische Revision der Transformationskonzepte in der Ostdeutschlandforschung paßten zusammen, ergänzten sich und halfen der Ostdeutschlandforschung, die Grundkonturen des "Paradigmenwechsels" zu entwickeln, den wir zum Gegenstand unseres ersten großen Workshops im April 2005 gemacht haben. Darüber hinaus glauben wir, daß die Ergebnisse der Forschungen über Ostdeutschland auch der sozioökonomischen Berichterstattung geholfen haben, den im Westen ablaufenden Umbruch besser zu verstehen und zu erkennen, welche Tragweite die Entwicklungen im Osten für Gesamtdeutschland haben. Für die gute Zusammenarbeit danken wir dem SOEB-Team, insbesondere seinem Leiter Peter Bartelheimer.

Im Jahre 2006 fanden im Rahmen der sozioökonomischen Berichterstattung (SOEB) einige Werkstattgespräche statt. Auf der dritten Werkstatt "Ostdeutschland - fragmentierte Entwicklung" haben wir einen ersten Entwurf unseres Bildes der Entwicklung in Ostdeutschland in einer für die Zwecke der Berichterstattung geeigneten Weise zur Diskussion gestellt. Das "Diskussionspapier" zu dieser Werkstatt enthält die wichtigsten Befunde unserer Arbeit in einer an den Fragestellungen der Berichterstattung orientierten Form (vgl. www.soeb.de).

Der vorliegende Bericht zur Lage in Ostdeutschland ist also in Teilen beeinflußt von der Kooperation zwischen dem Netzwerk Ostdeutschlandforschung und dem Forschungsverbund zur sozioökonomischen Berichterstattung. Selbstverständlich aber liegt die inhaltliche Verantwortung für den nachstehenden Text allein beim Netzwerk Ostdeutschlandforschung und den Autoren der einzelnen Abschnitte. Der Text geht insbesondere insoweit über die SOEB-Werkstatt zu Ostdeutschland hinaus, als er auf die öffentliche Diskussion in Ostdeutschland selbst zielt, auf die Diskussion in der Wissenschaft, zwischen Wissenschaft, Politik und den Akteuren.

Das Ziel dieses Berichts ist es, mit einer kritischen Reflexion der Lage in Ostdeutschland die gesellschaftliche Debatte voranzubringen. Es geht uns um eine rückhaltlose, Illusionen überwindende Darstellung. Ostdeutschland ist seit Jahren "auf der Kippe". Manche meinen, die Abwärtsspirale sei schon unumkehrbar, andere glauben immer noch, daß wir auf dem richtigen Weg sind. Aus unserer Sicht ist ein Strategiewechsel geboten.

Dr. Rainer Land im Auftrag der Herausgeber:

Netzwerk Ostdeutschlandforschung

Dr. Erhard Crome, Berliner Debatte/GSFP
Dr. Michael Thomas, BISS
Thomas Engel, IPRAS
Dr. Thomas Hanf, SFZ
Dr. Erhard Schreiber, WISOC
Andreas Willisch, Thünen-Institut
Bettina Wiener, ZSH

Innovationsverbund Ostdeutschlandforschung im ZTG der TU Berlin

Dr. Birgit Böhm
Dr. Ulrich Busch
Dr. Liudger Dienel
Dr. Babette Scurrell

Bericht des Netzwerkes und des Innovationsverbundes Ostdeutschlandforschung

Vorwort

1. Ostdeutschland braucht einen neuen Anlauf!

2. Gesamtwirtschaftliche Stagnation und zunehmender Transferbedarf, Ulrich Busch

3. Fragmentierte Wirtschaftsstrukturen zwischen Deindustrialisierung, Stagnation und Innovation. Rainer Land

4. Die Überflüssigen und die neuen sozialen Problemlagen. Rainer Land, Andreas Willisch

5. Schrumpfung - Raumordnung oder Gesellschaftsordnung? Rainer Land, Andreas Willisch

6. Ausgegrenzt, abgewandert, weggeblieben. Unsichere Perspektiven für Jugendliche trotz zukünftiger Fachkräftelücken. Christine Steiner, Bettina Wiener

7. Regionale Disparitäten und endogene Bildung neuen Sozialkapitals, Michael Thomas, Rudolf Woderich

Literaturverzeichnis

1. Ostdeutschland braucht einen neuen Anlauf!

Der Bericht "Perspektiven Ostdeutschlands 15 Jahre danach", Deutsche Bank Research 2004, konstatiert die "Enttäuschung" vieler Erwartungen und resümiert: "Das langfristige Wachstumspotential der östlichen Bundesländer liegt aufgrund demographischer Faktoren spürbar unter demjenigen der westlichen Bundesländer. Der Lebensstandard wird zwar weiterhin zunehmen, aber der Abstand zum Westen dürfte anwachsen. Bis 2050 dürfte er sogar eher wieder auf das Niveau von Mitte der 90er Jahre (rund 60 Prozent des westdeutschen Pro-Kopf-Einkommens) zurückfallen." (Deutsche Bank Research 2004: 1)1

Der Bericht des von Klaus von Dohnanyi und Edgar Most geleiteten Gesprächskreises "Kurskorrektur des Aufbau Ost" diagnostiziert eine Stagnation seit 1995/96 und kritisiert die Strategie der (damaligen) Bundesregierung: "Lage und Perspektive sind also dramatisch. Und es ist dem Gesprächskreis unverständlich, dass sich dies nicht deutlicher in der Politik des Bundes und dessen Maßnahmen widerspiegelt." (Dohnanyi/Most 2004: 10) "...die Wertschöpfung der neuen Länder stagniert bei etwa 60% des Westens ... rechnerisch fehlen dem Osten im Vergleich zum Westen allein im verarbeitenden Gewerbe etwa 3.000 mittelständische Unternehmen und etwa 600.000 Beschäftigte ... die Arbeitslosigkeit ... von durchschnittlich 18% erreicht in einigen Regionen katastrophale Größen bei 40-50% ... fortdauernde Abwanderung, insbesondere junger Menschen, erfolgt aus allen Neuen Ländern; es droht eine ... dramatische Überalterung der Gesellschaft ... und ein gefährlicher Verlust besonders gut ausgebildeter Menschen und kreativer Köpfe." (Ebd.: 8f)

Den Befunden des Berichts der Deutschen Bank oder des Gesprächskreises Dohnanyi/Most können wir aus der Perspektive unserer Forschungen in vielem zustimmen. Auch die Empfehlungen scheinen oft plausibel. Der Unterschied zu unserem Bericht besteht nicht in Einzelbefunden, sondern darin, daß wir die Entwicklung in Ostdeutschland als Teil eines übergreifenden Umbruchs sehen und unsere Einzelbefunde von dieser Perspektive aus zu erklären und einzuordnen versuchen.

Umbruch des Wirtschafts- und Sozialmodells

Die These, daß in den entwickelten Industrieländern und der Weltwirtschaft seit dem Ende der 1970er Jahre ein Umbruch der sozioökonomischen Entwicklung abläuft und die Transformations- und Entwicklungsprobleme in Ostdeutschland wesentlich im Kontext dieses Umbruchszenarios verstanden werden müssen, ist anderenorts ausführlich dargestellt worden; sie soll hier nicht noch einmal ausführlich diskutiert werden (vgl. Netzwerk Ostdeutschlandforschung 2005; Land 2005b; Land/Willisch 2005; Land 2003; SOEB 2006: Werkstatt 3).

Umbrüche innerhalb der kapitalistischen Sozioökonomik gab es beispielsweise in den 1860er bis 1880er Jahren (Große Depression mit anschließender Entstehung eines neuen Typs von Industrien, Erwerbsformen und Regulierungsformen) und im Anschluß an Weltwirtschaftskrise und Depression der 1930er und 1940er Jahre. Dieser Umbruch führte in den 1950er Jahren zur Entstehung der fordistischen Sozialökonomik, die in Deutschland zu einer langen Prosperität führte und Grundlage des Wohlfahrtsstaates wurde. Seit Ende der 1970er Jahre befindet sich dieses Wirtschafts- und Sozialmodell weltweit und auch in Deutschland in einem Umbruch. Die Dynamik wirtschaftlicher Entwicklung in den entwickelten Industrieländern und der Weltwirtschaft ist zurückgegangen, in Deutschland reden wir von einer anhaltenden Wachstumsschwäche seit den 1980er Jahren, die nur kurz durch den Vereinigungsboom unterbrochen wurde. Die Arbeitslosigkeit stieg von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus, wir erleben die Erosion des fordistischen Typs der Erwerbsarbeit, die Produktionsmodelle wandeln sich, der Sozialstaat ist nicht mehr in der Lage, die neu auftretenden sozialen Probleme zu bewältigen, die soziale Ausgrenzung wächst. Mit der Umbruchsthese - so meinen wir - lassen sich die Zusammenhänge zwischen den einzelnen empirischen Beobachtungen dieses Szenarios in ihrem Zusammenhang verstehen.

In Ostdeutschland haben wir es nicht nur mit einer Transformation eines planwirtschaftlich-staatssozialistischen in ein marktwirtschaftlich-kapitalistisches Wirtschaftssystem zu tun. Diese Transformation ist selbst Moment der Erosion des fordistischen Wirtschafts- und Sozialmodells, und sie muß als offener Suchprozeß nach einem neuen, auf Zeit wieder funktionsfähigen Entwicklungsmodell moderner Industriegesellschaften verstanden werden. Es geht also nicht darum, über einen Transformationspfad auf einen bereits vorhandenen und im Kern bekannten Entwicklungspfad einzuschwenken, sondern in Transformation und Umbruch einen neuen Entwicklungspfad zu finden und praktisch durchzusetzen.

Unsere bereits auf dem ersten Workshop entwickelte These ist daher, daß die Entwicklungsprobleme in Ostdeutschland nicht durch einen Nachbau des westdeutschen Wirtschafts- und Sozialmodells gelöst werden können, sondern nur im Zuge der Bewältigung dieses Umbruchs, der im Erfolgsfall in einen neuen, erneuerten Entwicklungspfad münden kann. Dies ist aber keine auf Ostdeutschland beschränkte Angelegenheit. Vielmehr kann der Umbruch nur in Deutschland insgesamt und parallel zu entsprechenden Entwicklungen in den anderen entwickelten Industrieländern, den anderen Transformationsstaaten und in der Weltwirtschaft erfolgen. Die Transformation der ehemals staatssozialistischen Ökonomien ist aus dieser Perspektive Teil eines globalen Suchprozesses nach neuen Entwicklungspfaden. Der Weg aus dem Umbruch führt über Paradigmenwechsel in neue Entwicklungsrichtungen. Die Richtung der Reorganisation und Modernisierung der alten Industrien, Arbeitsformen, sozialen Institutionen ergibt sich erst aus den im Umbruch entstandenen neuen Ansätzen.

Aus der Perspektive dieser Umbruchsthese ergeben sich drei wesentliche Unterschiede zu der Sicht, die den Aufbau-Ost-Berichten der Bundesregierung, der Dohnanyi-Kommission oder der Deutschen Bank zugrunde liegen:

1. Diese Berichte sind aus unserer Sicht unterkomplex. Es werden jeweils bestimmte Aspekte mehr oder weniger isoliert aufgegriffen, meist sind wirtschaftliche und demographische Probleme (Alterung, Abwanderung, Schrumpfung der Bevölkerung) der Ansatzpunkt. Diese werden nicht als Momente eines übergreifenden Zusammenhangs behandelt, sie werden nicht als Teile eines Umbruchsszenarios analysiert oder gedeutet, und in Strategieempfehlungen werden Lösungen eher isoliert bearbeitet.

2. Die Frage nach neuen Entwicklungspfaden, die aus dem Umbruch hinaus in ein neues, auf Zeit funktionsfähiges Wirtschafts- und Sozialmodell, zu einem neuen Typ wirtschaftlicher Entwicklung, neuen Industrien, einer neuen Form der Erwerbsarbeit führen können, wird nicht gestellt. Offene Suchprozesse nach neuen Entwicklungspfaden als Wege aus der Krise kommen im Prinzip nicht vor.

3. Es wird ein verengtes und rückwärtsgewandtes Konzept von Modernisierung verfolgt. Weil der wirtschaftliche und soziale Umbruch und die Frage nach neuen Entwicklungspfaden weitgehend ausgeschlossen sind, bleibt der fordistische Typ industrieller Entwicklung, respektive das westdeutsche Wirtschafts- und Sozialmodell, Maßstab der Analyse und der Strategievorschläge. Dann aber erscheinen die Entwicklungsprobleme eher als Folge von Fehlern bei der Etablierung dieses Modells, nicht als zu bewältigende objektiv bedingte Trendbrüche.

Natürlich werden Reformvorschläge gemacht, aber ein genauer Blick zeigt, daß sie auf eine Reorganisation des fordistischen Entwicklungstyps durch Modernisierung zielen. Verbesserung der Effizienz, Konzentration der Förderung, Senkung der Kosten, vor allem der Lohn- und Lohnnebenkosten, Beschränkung des Sozialstaates auf das wirklich Notwendige sind die Mittel, mit denen auch die Agenda 2010 versucht hat, das alte Modell wirtschaftlicher Entwicklung zu erhalten bzw. zurückzugewinnen.

Im Dohnanyi-Bericht wird zunächst treffend dargestellt: Die ostdeutsche Wirtschaftsstruktur ist defizitär, die Industrie hat zu wenige und zu kleine Betriebe, die Branchenstrukturen sind unausgewogen, die Innovationspotentiale zu schwach und punktuell ungleich verteilt. Dies ist aus unserer Sicht nicht einfach ein Versäumnis, große Unternehmen zu gründen, sondern eine Folge des Umbruchs der fordistischen Ökonomie; allerdings eines unbewältigten Umbruchs. Weil sich die Eingliederung der Industrien der DDR in das westdeutsche Wirtschaftssystem vollzog, als die Entwicklungsgrenzen des Fordismus bereits erreicht waren und die staatssozialistischen wie auch die westlichen Wirtschafts- und Sozialmodelle schon mit den Folgen des Umbruchs konfrontiert waren, konnte eine bloße Modernisierung des alten Entwicklungsmodells nur sehr begrenzte Effekte haben. Da die alten fordistischen Industrien auch in Westdeutschland unter Druck stehen, kaum oder gar nicht mehr expandieren und sich zugleich rasant modernisieren müssen (wobei die Produktivität steigt und die Zahl der benötigten Arbeitsplätze abnimmt), waren die entsprechenden Märkte im wesentlichen besetzt. Für die Modernisierung der ostdeutschen Industrien gab es nur kleine Nischen, nur ein Bruchteil der vorher benötigten Arbeitsplätze konnte erhalten werden. Die Deindustrialisierung der vorher in der DDR dominanten fordistischen Branchen war die systematische Folge einer Modernisierung, die nicht zugleich neue Entwicklungsfelder aufzubauen versuchte. Analoge Argumente könnte man auch zur Erklärung der Funktionsprobleme bei der Übertragung des Sozialstaats, der Arbeitsmarktpolitik, des Bildungs- oder Gesundheitswesens finden.

Begreift man die Entwicklungsprobleme in West- und Ostdeutschland als Teil eines übergreifenden Umbruchszenarios, wird klar, daß die Erosion der fordistischen Industrien, der fordistischen Erwerbsarbeit und des wohlfahrtsstaatlichen Institutionensystems nicht mit den Mitteln einer wie auch immer modernisierten fordistischen Industrieentwicklung überwunden werden können. Zunächst muß die Frage nach neuen, über die fordistische Sozialökonomik hinausweisenden Entwicklungspfaden gestellt werden, nach einem neuen Typ von Industrie, einer neuen Form der Erwerbsarbeit, neuen Teilhabeformen. Erst auf deren Basis kann überhaupt die Richtung und die Grundlage für die Modernisierung der alten Industrien, Arbeitsformen, sozialen Institutionen bestimmt werden.

Wir sehen dabei drei zentrale Ansatzpunkte für die Suche nach neuen, über die fordistische Entwicklung hinausweisenden Pfaden, die für Ostdeutschland besondere Bedeutung haben könnten:

Erstens: Eine der zentralen Grenzen der fordistischen Produktionsweise ist die typische Verkopplung von Natur und Industrie. Massenproduktion auf der Basis der modernen Industrien führte seit den 1960er Jahren zu einer massiven Belastung der Naturressourcen, die sich als Verknappung von Rohstoffen (vor allem von fossilen Energieträgern) und Überbelastung der Natur mit Abprodukten (z.B. in Form von CO2-Emissionen in die Atmosphäre) darstellt. Ein neuer Pfad industrieller Entwicklung ist nur mit einem Paradigmenwechsel möglich: Produktionskreisläufe müssen "reproduktiv" an Naturkreisläufe angeschlossen werden. Das ist ein wesentlicher Bestandteil von "Nachhaltigkeit". Dieses Prinzip erfordert neue Materialien, neue Energiesysteme, Kreislaufwirtschaft usw. Die regenerativen Energien sind das erste große Feld, auf dem dieses neue Prinzip industriell praktiziert wird - wenn auch vorläufig im Rahmen noch dominanter alter Industrien. Es gibt gute Gründe anzunehmen, daß die neu entstehenden Branchen einer reproduktiven Energie- und Stoffwirtschaft die fordistischen Zweige als Innovationsmotoren ablösen, also auch zu den zentralen Schnittstellen des Transfers von Wissen in Produktivkraft werden. Die Entwicklungen in diesem Feld können exemplarisch zeigen, auf welche Weise die Suche nach einem neuen Typ von Industrie zum Ausgangspunkt einer neuen Form industrieller Produktion werden könnte, mit dem Ostdeutschland seine Entwicklungsprobleme überwinden kann.

Zweitens: Der Umbruch hat zu einer weitreichenden Erosion der fordistischen Erwerbsarbeit geführt, weil der Druck auf die Produktivitätssteigerung enorm zugenommen hat, weil zudem die Wachstumsraten in den klassischen Industrien zu gering sind, um die Freisetzungseffekte der Produktivitätssteigerung aufzufangen, und weil drittens sich das industrielle Wachstum in den Schwellenländern gerade auf die klassischen Produkte der fordistischen Massenproduktion konzentriert. Das Ergebnis ist nicht - wie zuweilen behauptet - eine grundsätzliche Bedrohung der Wirtschaftskraft oder der Arbeitsplätze in den entwickelten Ländern, aber auf dem Feld der fordistischen Industriearbeit wird es wohl unmöglich sein, Vollbeschäftigung wiederzugewinnen. Bewältigung des Umbruchs und Suche nach neuen Entwicklungspfaden bedeutet daher auch, nach einer neuen Verfassung der Erwerbsarbeit zu suchen.

In Ostdeutschland haben wir es nicht nur mit einer besonders hohen Arbeitslosenquote zu tun, inzwischen befindet sich auch der größere Teil der Erwerbstätigen in Erwerbsverläufen und prekären Erwerbsverhältnissen, die nicht mehr dem fordistischen Modell der Erwerbsarbeit entsprechen. Unter diesen Voraussetzungen ist eine Strategie des Umbaus der Erwerbsarbeit geboten: die Suche nach neuen Formen der Kombination von Erwerbsarbeit und sinnvoller, gesellschaftlich nützlicher Verwendung der disponiblen Zeit, nach neuen Formen der Teilhabe und einer Neuverfassung des Sozialen, die über die bloße Reparatur des fordistischen Sozialstaates hinausgeht.

Drittens: Umbruch beinhaltet nicht nur Erosion, sondern auch vielfältige Such- und Reorganisationsprozesse. Dazu gehören neue Akteure und Akteurskonstellationen, Raumpioniere beispielsweise, also soziale Prozesse, die im weitesten Sinne als Formen der Bildung von Sozialkapital verstanden werden können. Gerade in Ostdeutschland reichen solche Formen von Selbsthilfeprojekten des täglichen Überlebens von einer kaum überschaubaren Zahl an Trägern und Projekten der Arbeitsmarktpolitik, ökologischen und sozialen Projekten, Vorhaben, die mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds gefördert werden, Netzwerken von Unternehmen und neuen Formen regionaler Governance bis zu bürgerschaftlichem Engagement. Wir betrachten diese Vielfalt der Bildung neuer Handlungs-, Kommunikations- und Kooperationsformen als Teil des gesellschaftlichen Suchprozesses im Umbruch. Auch wenn nicht wenige dieser Ansätze scheitern werden oder schon gescheitert sind und manche als "Mitnahme" von Fördermitteln eingeordnet werden müssen - in diesem Feld entstehen die neuen Entwicklungspfade, Organisationsformen und Praktiken, die für die künftige Entwicklung bedeutsam werden können. Für unsere Analyse und die Frage nach einer Strategie, die aus dem Umbruch auf neue Entwicklungspfade führen könnte, sind die Selbstorganisationsprozesse der Gesellschaft und ihrer Bürger sehr wichtig. Gesellschaftliche Strategien für Ostdeutschland müssen die Lernprozesse, die in diesem Feld ablaufen, ernst nehmen und unterstützen. Politik in Zeiten des Umbruchs bedeutet daher, die Selbstorganisationsprozesse der Gesellschaft zu fördern und von den dort erkennbaren Ansätzen zu lernen, welches tragfähige Strategien sein könnten, welche Reformen tragfähige Entwicklungen verstärken, welche neuen organisatorischen und institutionellen Arrangements sinnvoll und funktionsfähig sein können. Neue Entwicklungspfade haben hier ihren Ursprung.

Einer unserer grundsätzlichen Kritikpunkte an der Mehrzahl der Analysen, Berichte und Strategievorstellungen zu Ostdeutschland lautet: Die tatsächlich stattfindende Reorganisation der Gesellschaft wird kaum wahrgenommen und nicht als Ressource erkannt. In diesem Bericht machen wir dazu einen ersten Anlauf (vgl. Teil 7).

Resümee zur Lage

Der folgende Bericht redet nicht von Licht und Schatten, von mehr Zeit, mehr Geduld und von mehr Geld. Wir versuchen vielmehr das Verständnis dafür zu wecken, warum es trotz vieler guter Ansätze, trotz immenser Geldsummen und vieler Anstrengungen, trotz Optimismus und der Bereitschaft, sich auf Neues einzustellen und dafür auch Opfer zu bringen, 16 Jahre nach der deutschen Einheit nicht zu einem selbsttragenden Aufschwung gekommen ist, der sinnvolle Lebensperspektiven eröffnet. Der Bericht trägt dazu eine Vielzahl von einzelnen Beobachtungen, Analysen, aber auch offenen Fragen zusammen, die sich auf vier Punkte zusammenfassen lassen:

1. Der Aufbau Ost wurde trotz vielfältiger Kritik als "Nachbau West" konzipiert und umgesetzt. Die Erfolge des westdeutschen Wirtschafts- und Sozialmodells fallen in die 1950er, 1960er und 1970er Jahre, das "Modell Deutschland" ist seit Ende der 1970er Jahre selbst in einer Krise und hat mit zunehmenden Funktionsdefiziten zu kämpfen. Seine einfache Ausdehnung auf Ostdeutschland konnte keine zukunftsfähige Antwort auf die Gestaltung des in Ost und West anstehenden gesellschaftlichen Umbruchs sein. Der Nachbau ohne Innovationen des Wirtschafts- und Sozialmodells, ohne Neugestaltung, ohne Experimente und Suchprozesse, konnte kein Erfolg werden. Bis heute aber versteht man unter Reformen nicht die Suche nach Neuem, sondern die Erhaltung des Alten durch seine Reparatur und durch "Abspecken", durch (Neu-)Verteilung von Lasten und Beschränkung, nicht aber die Suche nach neuen Feldern für Entwicklung und Teilhabe aller (vgl. zu diesem Punkt ausführlicher den Bericht über den ersten Workshop der Ostdeutschlandforschung 2005 in: Netzwerk Ostdeutschlandforschung 2005a; 2005b).

2. Die Eingliederung der ostdeutschen Wirtschaft in das westdeutsche Wirtschaftssystem hat dazu geführt, daß große Teile der ostdeutschen Industrie nicht gebraucht wurden, eine weitreichende Deindustrialisierung war die unmittelbare Folge. Einige Teile der alten fordistischen Industrie der DDR, die komplementär in das westdeutsche System paßten oder eigenständig Nischen auf dem Weltmarkt fanden, wurden erfolgreich modernisiert und nutzen die spezifischen Vorteile der ostdeutschen Standorte auf ihre Weise, um zu überleben und zu wachsen. Sie gehören heute zu den zukunftsfähigen Unternehmen, aber ihre Anzahl und Größe reicht bei weitem nicht aus, um die negativen Wirkungen der Deindustrialisierung zu kompensieren. Der entscheidende Fehler war, daß der Abbau überflüssig gewordener und die Modernisierung der entwicklungsfähigen Teile der ostdeutschen Industrie nicht mit einem umfassenden Aufbau neuer industrieller Entwicklungsfelder verbunden wurden. Wirtschaftsförderung beschränkte sich weitgehend auf die passive Unterstützung marktinduzierter Selektionsprozesse und auf wenige Prestigeprojekte, von denen ein Teil scheiterte. Die Behauptung, der Staat könne nur alles falsch machen, wenn er aktive Industriepolitik betreibt, lieferte die historisch gesehen falsche Begründung. Der aktive Aufbau zukunftsträchtiger Industrien lag nicht in der Logik einer eher neoliberalen Vorstellung von Sanierung und Wirtschaftsförderung (vgl. Teil 3 dieses Berichts).

3. Die Deindustrialisierung hat in kurzer Zeit überflüssige Erwerbsbevölkerung erzeugt, die mehr als ein Drittel der erwerbsfähigen Einwohner umfaßt. Diese Größenordnung hat sich seit Anfang der 1990er Jahre nie wieder verringert, und sie wächst seit 2000 sogar weiter an. Zu den Millionen Beschäftigten, die ihre Arbeit in den ersten Jahren durch Betriebsschließungen und Belegschaftsreduzierung verloren haben, kamen und kommen Jahr für Jahr weitere hinzu, darunter Tausende junge Erwachsene, die nach Schule und Ausbildung keinen Arbeitsplatz finden. Die alten und neuen "Überflüssigen" werden seit Jahren in den Schleifen des sekundären Integrationsmodus zwischen Arbeitslosigkeit, Maßnahmen, Umschulungen und Qualifizierungen hin- und hergeschoben. Eine langfristige Lebensperspektive und ein stabiles gesellschaftliches Engagement kann man in einer solchen Lage nicht aufbauen. Ausgrenzung und soziale Desintegration von mindestens einem Drittel der Bevölkerung ist die Folge. Dieser Weg hat zur Deaktivierung großer Teile der Bevölkerung geführt und neue, schwer reparable soziale Problemlagen mit sich gebracht. Die einzige rationale Alternative für viele lautet: abwandern oder auswandern. Nicht wenige sind diesen Weg seit 1990 gegangen (vgl. Teil 4 dieses Berichts).

4. Abwanderung und Geburtenentwicklung, Deindustrialisierung und Ausgrenzung haben demographische und ökonomische Schrumpfungsprozesse in Gang gesetzt, die zu einer zusätzlichen Umverteilung von Chancen und Risiken gerade zu Lasten schwacher Regionen führen. Schrumpfung muß nicht zwangsläufig zum wirtschaftlichen und sozialen Abstieg führen. Aber unter den gegebenen Bedingungen einer stagnierenden Gesamtentwicklung und bereits verfestigter sozialer Ausgrenzungen werden Abwärtsspiralen und soziale Ausgrenzung durch regionale Disparitäten weiter verstärkt. Von der Art und Weise, wie Akteure, Verwaltungen, Unternehmen und Politik in den kommenden Jahren auf Schrumpfung reagieren werden, wird vieles abhängen. Wird Schrumpfung zur weiteren Auszehrung des Sozialkapitals führen, oder kann die Lösung der damit verbundenen Probleme auch die Neubildung und Aktivierung sozialer Netzwerke und Communities in Gang bringen? Derzeit sieht es so aus, als würden "Lösungen von oben" wieder benutzt, um die zunehmenden Lasten auf die schon sozial Ausgegrenzten und Schwachen abzuwälzen. Genau damit aber würde die Fähigkeit, auf einen Umbruch mit Selbstorganisation, mit Suche nach neuen Wegen, innovativen Entwicklungspfaden und neuen Formen der Organisation zu reagieren, weiter untergraben.

Vorschläge für neue Entwicklungspfade

Ostdeutschland kommt auf dem bislang beschrittenen Weg nicht aus der Krise. Ein "Weiter so" führt auch mit mehr Zeit, mehr Geduld und mehr Geld in die Irre. Gestaltung des Umbruchs bedeutet, neue Entwicklungspfade zu suchen, zu erproben und die gesellschaftlichen Strukturen entsprechend umzubauen. Das kann nur in ganz Deutschland geschehen, aber es schließt die Lösung der Entwicklungsprobleme Ostdeutschlands in besonderer Weise ein. Deutschland kann das erreichte wirtschaftliche und soziale Entwicklungsniveau nicht halten, wenn der Osten umkippt. Ostdeutschland könnte aber in mancher Hinsicht als Experimentierfeld für die Suche nach neuen Entwicklungsstrategien fungieren und damit einen eigenen Beitrag in einen gesamtdeutsch zu bewältigenden Strategiewechsel einbringen.

Politik im Umbruch funktioniert anders und muß anders funktionieren als in Zeiten mehr oder weniger stabiler Entwicklung, in denen es um die bestmögliche Umsetzung im wesentlichen feststehender Konzepte geht. Heute wissen wir nicht mehr genau, wie die Zukunft aussehen wird und auf welchem Weg wir sie erreichen. Es geht um die Suche nach einem neuen Entwicklungspfad, den es als solchen noch nicht gibt und den die heute in Deutschland lebenden Generationen finden und erfinden müssen. Politik kann den Leuten nicht sagen, was sie machen sollen, und sie sollte aufhören zu suggerieren, daß sie die richtigen Antworten hat. Sie kann bestenfalls den Prozeß des Experimentierens und des Suchens gesellschaftlicher Akteure organisieren. Zwei aus unserer Sicht zentrale Strategien des Suchens sollen hier umrissen werden.

Regenerative Energien - Ausgangspunkt für die Suche nach einem neuen wirtschaftlichen und sozioökonomischen Entwicklungspfad2

Es war und ist ein Fehler zu erwarten, daß die im Umbruch erforderlichen neuen Entwicklungsrichtungen sich von selbst oder durch die unsichtbare Hand des Marktes automatisch einstellen. Die meisten neuen Industrien oder sozialen Einrichtungen, die Elektroindustrie, die Computertechnologie, die Raumfahrt oder die Sozialversicherung sind zunächst gegen dominante Trends erfunden und etabliert worden. Märkte können effiziente und nicht effiziente Entwicklungen scheiden, wenn sie erst einmal vorhanden sind, aber sie können nicht den Einstieg in neue Entwicklungen herbeiführen. Akteure, Unternehmer, Neuerer, Pioniere müssen erste Schritte tun, Gesellschaft und Staat müssen solche neuen Entwicklungen stützen, bis sie so weit etabliert sind, daß sie sich selbst tragen und durch Marktprozesse verbreitet werden können, konkurrenzfähig werden, an Effizienz gewinnen und alte Entwicklungen ablösen.

Eine der größten Herausforderungen dabei ist die Überwindung einer langfristig in die Katastrophe führenden Art der Energieerzeugung und des Energieverbrauchs. Die Folgen der Klimaveränderungen betreffen auch uns, und die permanent steigenden Preise für Öl, Kraftstoffe, Elektrizität und Wärme fressen einen zunehmenden Teil der Einkommen auf. Inzwischen weiß jeder, daß es eine Alternative gibt. Effizientere Energienutzung durch neue Technologien, neue Konsumgüter und regenerative Energien sind ein gangbarer Ausweg mit weitreichenden Konsequenzen für Wirtschafts- und Siedlungsstruktur, für Arbeits- und Konsumtionsweisen. Würde er massiv und systematisch ausgebaut, wären die Wirtschaftlichkeit und Marktfähigkeit dieses neuen Wirtschaftszweiges schon erreicht.

Bereits 1990 oder wenigstens beim Regierungswechsel 1998 hätten wir uns das ehrgeizige Ziel setzen können, binnen 15 bis 20 Jahren die Abhängigkeit vom Erdöl und anderen fossilen Energieträgern zu überwinden. Mit einem Programm, das Wirtschaft, Politik und Bevölkerung gemeinsam tragen, hätten Energiesysteme umgebaut und die regenerativen Energien zur wichtigsten und zudem nachhaltigen Energiequelle ausgebaut werden können.

Ein Investitionsprogramm zur Steigerung der Energieeffizienz und zum Ausbau der regenerativen Energien (Bioenergie, Solarenergie, Windkraft, Geothermik usw.) vor allem in Ostdeutschland ist aber immer noch möglich. Im Unterschied zu vielen anderen Branchen handelt es sich hier nicht um einen kaum wachsenden und weitgehend besetzten, sondern um einen weltweit expandierenden Markt, auf dem neue Unternehmen viel bessere Chancen haben als in den etablierten Industrien. Deutschland besitzt nicht nur alle wissenschaftlichen und technologischen Voraussetzungen, es hat sogar eine Spitzenposition auf verschiedenen Gebieten der Forschung und Entwicklung. Deutschland besitzt zudem alle Investitions- und Produktionsvoraussetzungen, um den Umbau des Energiesektors voranzutreiben. Und schließlich sind die Flächen, die Standorte, die Arbeitskräfte und die Infrastrukturbedingungen in Ostdeutschland besonders geeignet. Es würden Tausende langfristig sichere Arbeitsplätze entstehen, die Bauwirtschaft müßte nicht gesundschrumpfen, sondern könnte sich innovativ auf dieses neue Feld umstellen. Die steigenden Beträge, die derzeit für Öl ausgegeben werden, könnten für die Erhöhung der Wertschöpfung im Lande verbleiben und für den nachhaltigen Umbau der Wirtschaft, der Infrastruktur und der Konsumtionsweisen investiert werden.

Weltwirtschaftlich ist eine Energie- und Ressourcenwende absehbar, auch wenn Abwehrkämpfe noch das Bild bestimmen. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten müssen Millionen Tonnen fossiler Energieträger und fossiler Grundstoffe durch erneuerbare Energien und nachwachsende Rohstoffe ersetzt werden. Diese Umstellung der Energie- und Rohstoffbasis ist ökologisch zwingend, zunehmend aber auch aus wirtschaftlichen Gründen geboten - und sie ist gerade für Ostdeutschland eine große Chance. Denn die Energie- und Ressourcenwende bietet Vorteile, die in kaum einer anderen Branche oder einem anderen Politikfeld zu finden sind:

- Zu erwarten sind zweistellige Wachstumsraten auf noch nicht kartellförmig organisierten Märkten.

- Regenerative Energien und nachwachsende Rohstoffe sind Hochtechnologien, ihre Entwicklung verbindet Wissens- und Produktionsentwicklung. Es geht nicht nur um Standorte für Windräder und Flächen für Biomassen, sondern vor allem um Forschung und Entwicklung und den Aufbau von Kompetenzzentren in den Regionen.

- Neben Strom und Kraftstoffen wird gegenwärtig der dritte große Energiebereich, die Wärme, zu einem zentralen Thema für regenerative Projekte, die - im Unterschied zur Windenergie - aus dem Handeln regionaler Akteure selbst erwachsen.

- Mit seiner hochproduktiven, großbetrieblichen und deshalb in beträchtlichen Größenordnungen lieferfähigen Landwirtschaft ist der nordostdeutsche Raum prädestiniert für eine Energiewirtschaft neuer Art.

- Unterschiedliche Politikziele wie Investitionen und Arbeitsplätze, regionale Entwicklung und Identitätsbildung, Engagement der Bürger und Stärkung der Kommunen, Umweltschutz und Innovation können parallel und gleichzeitig realisiert werden.

- Eigenständiges Handeln von Kommunen, Stadtwerken, Bürgern und Unternehmen ist möglich, man muß nicht auf externe Investoren warten.

- Ressourcenbezug, Produktion und Verbrauch können im Sinne echter regionaler Kreisläufe aufeinander abgestimmt werden.

- Mit dem Energieeinspeisungsgesetz (EEG) gibt es auf dem Stromsektor eine verläßliche, gesetzliche Grundlage mit langfristigen Vergütungsgarantien, ein analoges Wärme-Gesetz ist in Vorbereitung.

- Im Bereich Biokraftstoffe ist Ostdeutschland heute schon "Europas Standort Nr. 1" und muß dieses Plus gegen unsinnige Steuerpläne der Bundesregierung verteidigen und ausbauen.

- Grundsätzlich könnten nahezu alle Teile Ostdeutschlands zu den Gewinner-Regionen der ökologischen Modernisierung werden, wenn sie das Thema erneuerbare Energien tatkräftig und koordiniert in Angriff nähmen. Würde man schrittweise den gegenwärtigen Energieimport Ostdeutschlands (grob geschätzt zwischen fünf und zehn Milliarden Euro für Erdgas und Mineralöl) durch eigene Energieproduktion ersetzen, wären neue Arbeitsplätze in einer zwar schwer abschätzbaren, aber volkswirtschaftlich doch erheblichen Größenordnung möglich.

Unser Vorschlag lautet, die Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaftsstrukturen auf diesen Entwicklungspfad zu lenken und ein entsprechendes Investitionsprogramm zu entwickeln, das Ressourcen des Staates, der Kommunen, der privaten Wirtschaft und lokaler Akteure bündelt.

Umbau der Arbeitsgesellschaft - Teilhabe statt "Aktivierung"

Die derzeitige Entwicklung schafft disponible Zeit, die als Arbeitslosigkeit sinnlos verschwendet wird und Menschen als Überflüssige ausgrenzt. Dieser Zustand kann durch eine Politik der "Aktivierung", der Entmündigung der Arbeitslosen, der "Maßnahmen" und der alten wie der neuen Verschiebebahnhöfe nicht überwunden werden. Hier hat die Bundesrepublik nach der deutschen Einheit einen grundsätzlich falschen Weg eingeschlagen, der in der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen seinen schlimmen Höhepunkt hatte.

Wir brauchen eine grundsätzliche Erneuerung der Erwerbsarbeit, der Arbeits- und der Arbeitsmarktpolitik, sie kann nur in ganz Deutschland und gemeinsam mit den anderen europäischen Ländern erreicht werden. Dafür sind die ostdeutschen Erfahrungen mit der hohen Arbeitslosigkeit, den "Maßnahme-Karrieren" und den neuen sozialen Problemlagen, die in Ostdeutschland durch eine verfehlte Form der "Bekämpfung der Arbeitslosen" entstanden sind, besonders wichtig.

Der von uns vorgeschlagene umfassende Ausbau eines Wirtschaftszweiges regenerativer Energien wird zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Aber dadurch allein kann die hohe Arbeitslosigkeit wahrscheinlich nicht beseitigt werden. Denn mit der Modernisierung ist die Produktivität der Arbeit erheblich gestiegen - und sie wird und muß auch in Zukunft weiter steigen. Produktivität schafft disponible Zeit, die an sich Zeit für die Entfaltung gesellschaftlicher Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit, Zeit für die eigene Lebensgestaltung der Individuen, Zeit für Bildung, Kinder, soziale, kulturelle und ökologische Projekte sein könnte.

Tatsächlich aber bedeuten Produktivität und disponible Zeit unter den gegebenen Rahmenbedingungen: Überarbeitung der einen, Arbeitslosigkeit und leere Zeit für die anderen. Dies kann sich nur ändern, wenn es die Gesellschaft schafft, einen grundsätzlich neuen Entwurf der Erwerbsarbeit und des Verhältnisses von Arbeit und disponibler Zeit zu schaffen.

Eine neue Form der Erwerbsarbeit muß auf modernen und erweiterten Menschenrechten aufbauen und Formen ihrer praktischen Verwirklichung finden: Jeder hat das Recht auf einen fairen Anteil an der Erwerbsarbeit und an der disponiblen Zeit. Jeder hat das Recht auf einen fairen Anteil an Erwerbseinkommen und das Recht auf eine Nutzung des gesellschaftlichen Reichtums, um disponible Zeit sinnvoll verwenden zu können.

Moderne Gesellschaften müssen um eine Neufassung der Erwerbsarbeit ringen. Erwerbsarbeit und disponible Zeit können im Lebensverlauf so kombiniert werden, daß alle die Möglichkeit haben, zwischen Erwerbszeiten und Nichterwerbszeiten zu wechseln. Anstelle der Lohnersatzleistungen sollten Nichterwerbszeiten durch ein Grundeinkommen finanziert werden. Es geht nicht nur um eine gerechte Verteilung der Arbeit, sondern auch um die gerechte Verteilung der disponiblen Zeit und um Bedingungen für ihre sinnvolle und zugleich gesellschaftlich nützliche Verwendung durch die Individuen.

Wir wenden uns gegen Lösungen, bei denen ein Teil immer erwerbstätig ist und der andere Teil ausgegrenzt aus der Erwerbsarbeit, nur vom Sozialeinkommen lebt. Dies würde die Segmentierung der Gesellschaft festschreiben. Eine neue Arbeitspolitik muß den Graben überwinden zwischen denen, die zuviel arbeiten und keine Zeit für Kinder, Familie, Gesellschaft und zu wenig Freiheit in ihrer eigenen Lebensgestaltung haben, und denen, die keine Arbeit haben, auf "Stütze" angewiesen sind, ihre leere Zeit kaum sinnvoll nutzen und eine selbstbestimmte Lebensperspektive unter dem Reglement der "Aktivierung" nicht finden können.

Teilhabe ist nur möglich, wenn das Recht und die praktische Möglichkeit bestehen, beides im Laufe des Erwerbslebens zu kombinieren. Dies erfordert gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die eine sinnvolle, für die Einzelnen und die Gesellschaft nützliche Verwendung disponibler Zeit gestatten. Mit einem solchen System der Kombination von Erwerbszeiten und Grundeinkommenszeiten würde ein Teil des Arbeitsangebots vom Arbeitsmarkt genommen und ein ausgeglichener Arbeitsmarkt geschaffen werden, in dem Angebot und Nachfrage nach Arbeit gleichgewichtig und das Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgeglichen sind. Ein solcher Arbeitsmarkt würde verhindern, daß die Lohnentwicklung hinter der Produktivitätsentwicklung zurückbleibt und Arbeitsbedingungen verschlechtert werden. Ein ausgeglichener Arbeitsmarkt wäre auch die Voraussetzung dafür, daß der zeitweilige Ausstieg und der anschließende Wiedereinstieg in die Erwerbsarbeit funktionieren können.

Lösungen für eine neue Art der Erwerbsarbeit und neue Formen der Teilhabe an Erwerbsarbeit und disponibler Zeit können nur schrittweise gefunden und erprobt werden. Dabei kann man aber auf bereits vorliegende Erfahrungen und Projekte zurückgreifen, die beispielsweise im Switch-Projekt München (Mutz/Korfmacher 2000) oder im Programm Teilzeit plus in Sachsen gewonnen wurden.

Für den Anfang dieses gesellschaftlichen Suchprozesses schlagen wir vor:

- Das System der zwangsweisen "Aktivierung" wird durch ein freiwilliges System der Fortbildung und der "gesellschaftlich nützlichen Projektarbeit" ersetzt.

- Kurzfristig sind Bedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, mit neuen Kombinationen von Erwerbstätigkeit, Qualifizierung, Projektarbeit und Familienzeiten zu experimentieren und Erfahrungen zu sammeln. Solange langfristige Lösungen noch ausstehen, wird den Teilnehmern an Qualifizierung oder Projektarbeit zur Finanzierung ein Zuschlag zum Arbeitslosengeld gezahlt. Voraussetzung ist, daß sie befristet dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen und kein Erwerbseinkommen beziehen. Dazu werden das SGB II und III entsprechend geändert.

- Die Einzelnen können selbst entscheiden und auswählen, an welchen Maßnahmen, Praktika und Projekten sie teilnehmen wollen und bei welchen Trägern bzw. in welchen betrieblichen oder überbetrieblichen Fortbildungseinrichtungen. Für die Anerkennung von Maßnahmen und Trägern sind neue Voraussetzungen zu schaffen, die das Spektrum sinnvoller und gesellschaftlich nützlicher Arbeit erweitern.

- Auch Erwerbstätige in Beschäftigung haben das Recht, für ein Jahr aus der Erwerbsarbeit auszusteigen und an Qualifizierungen oder Projekten mitzuwirken. Für Erwachsene mit Kindern sollten zusätzlich Familienzeiten auch als Unterbrechungsgrund anerkannt werden. Sie erhalten in dieser Zeit das erhöhte Lohnersatzeinkommen, das perspektivisch in ein Grundeinkommen für erwerbsarbeitsfreie Zeit umgewandelt wird. Der zeitweilige Ausstieg aus der Erwerbsarbeit wird gefördert, wenn zeitweise frei werdende Arbeitsplätze durch Arbeitslose besetzt werden. Der Wiedereinstieg in die Erwerbsarbeit nach einer erwerbsfreien Zeit wird effizient unterstützt, entsprechende Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Erwerbstätigen werden gefördert.

- Das Prinzip der Rotation zwischen Erwerbsarbeit, Qualifizierung und Projektarbeit soll zuerst und in besonderem Maße genutzt werden, um die geburtenstarken Jahrgänge, die noch bis 2010 auf den ostdeutschen Arbeitsmarkt drängen, vollständig in Erwerbsarbeit zu integrieren. Derzeit landet etwa ein Drittel der nachwachsenden Jugendlichen in Arbeitslosigkeit und Maßnahmeschleifen, in denen sie formell als nicht arbeitssuchend gelten, tatsächlich aber aus normalen Beschäftigungs- und Einkommensverhältnissen ausgeschlossen sind. Über Nachwuchskräftepools, die Erwerbsarbeit, Qualifizierung und Projektarbeit kombinieren, kann dieser Zustand überwunden werden. Dies ist wichtig, weil die Ausgrenzung der jungen Generation die Zukunft Ostdeutschlands grundlegend gefährdet - und es ist auch wirtschaftlich geboten, weil der Ersatzbedarf der Betriebe in den kommenden Jahren stark ansteigt, während der Nachwuchs deutlich zurückgeht (vgl. Teil 7).

Diese kurz- und mittelfristig angelegten Vorschläge haben das Ziel, über Experimente Erfahrungen zu sammeln, auf denen eine neue institutionelle Verfassung der Erwerbsarbeit in Kombination mit anderen Formen individuell sinnvoller und gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit erarbeitet und erprobt werden kann. Langfristig sollen auf dieser Basis gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Verfahren und Institutionen entwickelt werden, welche die Kombination von Erwerbsarbeit, gesellschaftlich nützlichen und individuell sinnvollen Tätigkeiten im Lebensverlauf und den Wechsel zwischen Zeiten der Erwerbsarbeit und Nichterwerbstätigkeiten für alle möglich machen. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen und nach einem offenen gesellschaftlichen Diskussionsprozeß könnte das bisherige Arbeitslosengeld in ein Grundeinkommen für Zeiten des Ausstiegs aus der Erwerbsarbeit umgewandelt werden. Dazu gehören denn auch institutionelle Sicherungen für den Wechsel zwischen Erwerbsarbeit, Qualifizierung, Familienarbeit und Projektarbeit sowie die erforderlichen Anpassungen der Sozialsysteme.

Mit den genannten Schritten sollten auch Voraussetzungen für die schrittweise Aufhebung der Trennung der Qualifizierung Erwerbstätiger von der Umschulung, Weiterbildung und dem Training Arbeitsloser geschaffen werden. Auch das System der Berufsausbildung und der betrieblichen Qualifizierung ist dringend reformbedürftig. Berufsausbildung, lebenslanges Lernen, allgemeine Bildung auch ohne unmittelbaren Erwerbsbezug könnten parallel zur Reorganisation der Erwerbsarbeit in einem pluralen und vielfältigen Bildungssystem zusammengeführt werden, das Zukunftserfordernissen besser entspricht.

Auf einem solchen langfristig angelegten Weg kann es gelingen, die bisherige Spaltung der Gesellschaft in Arbeitsplatzbesitzer und Arbeitslose zu ersetzen durch die Unterscheidung von Menschen, die zeitweise in Erwerbsarbeit sind, und anderen, die zeitweise disponible Zeiten für Qualifizierung, gesellschaftlich nützliche Projektarbeit oder Familienarbeit nutzen. Alle könnten zwischen beiden Tätigkeitsformen im Maße der gesellschaftlich verfügbaren disponiblen Zeit wechseln, niemand mehr wäre längere Zeit arbeitslos, auch bei weiterhin hohem Produktivitätszuwachs. Die Frucht steigender produktiver Kräfte des Menschen wäre nicht Arbeitslosigkeit, sondern Zeit für nützliche Tätigkeiten und Zeit für die freie Entfaltung der jeweiligen Fähigkeiten der Einzelnen.

Unsere Vorschläge zielen also nicht einfach auf eine andere Arbeitsmarktpolitik, sondern darauf, die seit mehreren Jahren ablaufende Erosion des alten Typs der fordistischen Erwerbsarbeit bewußt wahrzunehmen und zu fragen, wie Erwerbsarbeit in einem veränderten Kontext neu zu verfassen wäre, wie sie sinnvoll mit Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit kombiniert werden könnte, ohne moderne Menschenrechte und Teilhabetraditionen über Bord zu werfen. Statt an einem überlebten Typ der Erwerbsarbeit festzuhalten und die Folgen seiner Erosion zu flicken, sollten gesellschaftliche Akteure fragen, welche Gestaltungsmöglichkeiten und welche neuen Formen von Teilhabe der Produktivitätsfortschritt in den entwickelten Ländern eröffnet.

Eine starke Position in der öffentlichen Diskussion schlägt vor, die Arbeitslosigkeit vorrangig durch öffentlich geförderte Beschäftigung zu bekämpfen. Aus unserer Sicht ist dieser Weg nur dort und nur insoweit sinnvoll, als es sich um Beschäftigung handelt, die langfristig in normale Erwerbsarbeit umgewandelt werden soll und kann, also um Erwerbsarbeit, die Aufgaben des Staates bzw. des Gemeinwohls erfüllt bzw. notwendige öffentliche Dienstleistungen produziert. Sie muß dann aber auch langfristig nicht aus der Arbeitsmarktpolitik, sondern aus den entsprechenden öffentlichen Haushalten finanziert werden, und zwar als normale Erwerbsarbeit. Öffentlich geförderte Beschäftigung darf nicht als dauerhafte Substitution öffentlicher Aufgaben und öffentlich zu finanzierender Beschäftigung fungieren, weil dies auf die Ersetzung normal bezahlter Arbeitsplätze durch Arbeit zu Billigtarifen hinausläuft.

Unter den derzeitigen Bedingungen unterfinanzierter staatlicher und kommunaler Haushalte erfüllen Staat und Kommunen manche ihrer Aufgaben, beispielsweise im Bildungs-, Umwelt- und Sozialbereich, nur unzureichend - hier kann öffentlich geförderte Beschäftigung als Notlösung eine Überbrückung darstellen. Sie ist aber keine zukunftsfähige Lösung für die Nutzung der disponiblen Zeit als disponibler Zeit außerhalb und neben der Erwerbsarbeit. Die eigentliche Innovation, auf die moderne Gesellschaften eine Antwort finden müssen, ist nicht die Umwandlung der durch die Produktivitätsentwicklung gewonnenen freien Zeit in zusätzliche subventionierte Erwerbsarbeit, sondern ihre gesellschaftliche Anerkennung und sinnvolle Nutzung für Tätigkeitsfelder, die nicht nach dem Muster von Erwerbsarbeit funktionieren müssen und sollen.

Anmerkungen

Das Vorwort und der einleitende Abschnitt "1. Ostdeutschland braucht einen neuen Anlauf!" ist ein gemeinsamer Standpunkt der Institute des Netzwerks Ostdeutschlandforschung und des Innovationsverbunds am ZTG der TU Berlin. Die anderen Teile des Berichts sind auf der Grundlage der Diskussionen, Workshops und Kolloquien in Netzwerk und Innovationsverbund von den jeweils namentlich genannten Autoren verfaßt und werden durch diese verantwortet.

1 Weiter heißt es: "Die östlichen Länder werden aufgrund einer Reihe kaum änderbarer Faktoren zukünftig nicht die wirtschaftliche Dynamik entfalten können, die ihnen einen Anschluß an die westlichen Länder sichern würde. Es bedarf vielmehr besonderer Anstrengungen vor allem in der Landespolitik, um auch bei einer schrumpfenden Bevölkerung neue Perspektiven für Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung zu entwickeln. Dies muß zudem mit einer Rückführung der noch immer hohen Stützungslasten für die gesamte Volkswirtschaft einhergehen. In den östlichen Bundesländern wird man in den nächsten Jahren gut ein Jahrzehnt früher als in anderen westlichen Ländern lernen müssen, wie man in alternden Gesellschaften wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, technologische Entwicklung und eine tragfähige öffentliche Infrastruktur so gestaltet, daß die regionalen Standorte attraktiv für Bürger und Unternehmen bleiben." (Deutsche Bank Research 2004: 9)

2 Für diesen Abschnitt wurden Zuarbeiten von Hans Thie verwendet.

aus: Berliner Debatte INITIAL 17 (2006) 5, S.3-16