Zu der verheerenden Rolle des Gymnasiums im deutschen Schulwesen

Die euch das Buch stahlen, das unter euren Windeln lag
Werfen euch vor, ihr seid nicht belesen. 
Am Straßenrain sitzend oder auf der Drehbank 
Verspeist ihr, mit schwarzen Händen, euer Brot, so 
Beschuldigen sie euch, daß ihr die feinen Tischsitten nicht kennt. 

Bertolt Brecht 


   

Zu der verheerenden Rolle des Gymnasiums
im deutschen Schulwesen

Rolf Jüngermann

 

· Einleitung

· Gymnasium und Grundschule                       3
· Der gymnasiale Habitus als Medium der sozialen Selektion    5
· Die Hauptkomponenten des gymnasialen Habitus            6
    - Logozentrismus                                 7
    - Obligatorische zweite Fremdsprache             8
    - Sozial selektive Fremdsprachendidaktik           10
    - Das gymnasiale pädagogische Qualifikationsproblem 11
    - Die Sprachbarriere                           13

· Die schichtenspezifische Wirkung des gymnasialen Habitus    14
· Gymnasium mit zunehmenden Problemen              16
· Deutsche Mentalität oder Klassenkampf               18
· Was tun?                                      19
· Fazit                                          20
Literatur                                         21

 

 

 

Auch wenn das Gymnasium seine Monopolstellung als Institution zur Erlangung der Allgemeinen Hochschulreife immer mehr verliert so ist doch der angestrebte Übergang von der Grundschule ans Gymnasium für die meisten SchülerInnen nach wie vor die erste Schlüsselstelle ihrer Karriere. An dieser Stelle manifestiert sich in aller Deutlichkeit die nach wie vor zentrale Stellung des Gymnasiums als Institut zur Verteilung von Lebenschancen und - im Ergebnis - als Garant für den Erhalt des Bildungsprivilegs der Bourgeoisie. 

 Neben ihrer mehr oder weniger stark an sozialen (und ethnischen) Auslesekriterien orientierten Aufnahme- und Auslesepraxis weist das Gymnasien durchaus feudale Züge auf. Es sichert sich seine vergleichsweise komfortable Existenz auf Kosten Anderer, ist es doch existentiell darauf angewiesen, die schwierigeren pädagogischen Aufgaben auf die anderen Schulformen abwälzen zu können. Damit bildet es den harten Kern des sozial hochselektiven gegliederten deutschen Schulwesens und des deutschen Bildungsproblems. Es verhindert um des Erhalts seiner parasitären (andere sagen vornehmer: „privilegierten“) Existenz willen jede ernsthafte Reform. Allen Reformversuchen trotzend garantiert es seinen Absolventen auch heute noch eine Art aristokratische Weihe durch lebensferne Erziehung, durch sein sprachlastiges, gebrochenes Verhältnis zu anwendungs- und praxisbezogenen Aufgaben und Denkweisen. Wer das gegliederte Schulwesen überwinden will, muß das Gymnasium in die ‚Eine Schule für alle‘ integrieren (und dabei nicht das Kind mit dem Bade ausschütten sondern seine positiven Seiten und sympathischen Züge, von denen hier weniger die Rede sein wird, bewahren und neu in Wert setzen). 

Was das Curriculum angeht ist die Integration des Gymnasiums bekanntlich bereits ein gutes Stücke weit gelungen: Den für den Wahlpflichtbereich-1 (6. oder 7. Schuljahr) am Gymnasium für alle Schüler obligatorischen Schwerpunkt Sprachen bietet auch die Gesamtschule – dort allerdings als ein Angebot unter vier oder fünf anderen und nicht obligatorisch für alle. Damit verfügt das Gymnasium nicht länger über sein früheres zentrales Alleinstellungsmerkmal, welches an der Gesamtschule – weil nicht länger obligatorisch für alle Schüler – zugleich seinen sozial hochselektiven Charakter verloren hat.

Gymnasium und Grundschule 
 Zu den auf andere Schulformen abgewälzten unangenehmen Aufgaben zählt zuallererst der den Grundschulen aufgegebene Vollzug der ursprünglichen Selektion, der Verteilung der SchülerInnen auf die verschiedenen Schulformen, sei es über direkte Zuweisung, sei es über Gutachten und Intensivberatung der Eltern. Im Gymnasium selbst brauchen dann nur noch die Fälle der sogenannten irrtümlich dort angekommenen SchülerInnen "bereinigt" (O-ton Gym: Liebau 1997, S. 54) zu werden. Die Grundschule leistet die ursprüngliche Selektion inzwischen ohne Murren und weitgehend zur Zufriedenheit der gymnasialen "Abnehmer". Es hat sich notgedrungen eine Art vorauseilender Gehorsam gegenüber den am Gymnasium herrschenden Verhältnissen, Gewohnheiten und Verfahrensweisen durchgesetzt, ein Sich-abfinden mit dem was man nicht ändern kann, was dazu führt, dass pädagogisch hochqualifizierte und engagierte Persönlichkeiten, wie es Grundschullehrerinnen sind, ihre im Prinzip auf Integration und auf geduldiges Fördern aller SchülerInnen angelegte Arbeit durch die Parapädagogik der Selektion tendenziell selbst ad absurdum führen (müssen).  Im Ergebnis geht es heute bei dem Grundschul-Urteil über die Eignung für das Gymnasium durchaus nicht in erster Linie um Leistungsselektion sondern um als Leistungsselektion getarnte soziale Selektion.  Das zeigt sich in der – inzwischen gut belegten - massiven und gezielten Benachteiligung leistungsstarker SchülerInnen beim Grundschul-Urteil für den Übergang zum Gymnasium, sollten diese das Pech haben, nicht zugleich auch den Stallgeruch, den Habitus des Bürgertums auszustrahlen. "Schließlich stellen [diese Kinder] für die Abkömmlinge der Bourgeoisie eine erschreckende Konkurrenz in allen Domänen dar, in denen es um schulische Kompetenz im strengen Sinne geht." (Bourdieu 1993, S. 163) 

Zwar gibt es  " . . . keinen Grund davon auszugehen, dass Lehrkräfte gezielt sozial diskriminieren. Von Bedeutung scheinen eher implizite Persönlichkeits- und Begabungstheorien zu sein, teils in Form stereotyper Erwartungshaltungen, die sich auf die Diagnosekompetenz auswirken und in der Notengebung niederschlagen. Der Fairness halber sollte auch gesehen werden, dass eine zuverlässige Diagnose und Prognose schulischer Leistungen schwierig ist und nicht nur den einzelnen Lehrer überfordert, sondern auch die Forschung noch vor erhebliche Herausforderungen stellt." (Ditton 2004, S. 273, zitiert nach Dravenau 2005, S. 111) Der reale Einfluß sozialer Kriterien bei der Entscheidungsfindung ist indes nicht besonders schwer nachzuvollziehen, hängt doch die Selektionsentscheidung der Grundschullehrerin - jenseits aller rechtlichen Regelungen - im Kern von ihrer Antwort auf die zentrale Frage ab: Hat dieses Kind an einem deutschen Gymnasium, "so wie es nun einmal ist", eine Chance? Die Antwort auf diese Frage bildet sich nicht erst am Ende des vierten Schuljahres sondern oft genug schon recht früh heraus und beeinflusst naturgemäß auch die Notengebung und die Gesamtheit des pädagogischen Umgangs mit den einzelnen SchülerInnen. Jede Grundschullehrerin weiss: Wer am Gymnasium bestehen will, braucht einen ganz bestimmten sozialen und familiären Hintergrund, einen ganz bestimmten persönlichen Habitus, ganz bestimmte Merkmale und Qualitäten, von denen der blanke Fachleistungsaspekt nur einer unter vielen - und nicht der ausschlaggebende - ist. Und entsprechend entscheidet sie - nach bestem Wissen und Gewissen. Wer wird schon sehenden Auges ihre SchülerIn den Praktiken einer Schulform aussetzen, der sie sie nicht gewachsen weiß. Die schulpolitischen Rahmenbedingungen vor Ort sorgen zusätzlich dafür, dass mit der Übergangsempfehlung ans Gymnasium in Zweifelsfällen eher zurückhaltend umgegangen wird. Die Aussagen und Rückmeldungen der Jahrgangsstufenkonferenzen der Gymnasien werden an den Grundschulen als Rückmeldung über die Qualität der geleisteten pädagogischen Arbeit erlebt. Das Scheitern eines Kindes am Gymnasium fällt auf die Schule und auf die Lehrkraft zurück, die die Gymnasialempfehlung abgegeben hat und die Erfolgsquote der für das Gymnasium empfohlenen SchülerInnen wird von der Schulleitung der Grundschule registriert, ggfs. in Konferenzen thematisiert und kann hochstilisiert werden zum "Ansehen der Schule". Inwieweit dies Eingang finden wird in Schulrankings, Schulinspekionen und Qualitätssicherung, kann an dieser Stelle nicht ausgelotet werden, scheint aber von Bedeutung zu sein. 

Der gymnasiale Habitus als Medium der sozialen Selektion 
 Auf diese Weise mutieren die Verhältnisse, Gewohnheiten und Verfahrensweisen am Gymnasium "wie es nun einmal ist", eben der ganze gymnasiale Habitus auf dem Umweg über das Selektionsurteil der Grundschule unter der Hand - als Leistungsanspruch getarnt - zum zentralen Medium der sozialen Selektion im Schulwesen. Die daraus erwachsenden Fernwirkungen wehen wie ein Pesthauch aus Abschreckung, Entfremdung, Demütigung und Angst durch die deutschen Schulstuben, vergiften nachhaltig die pädagogische Atmosphäre in den Grundschulen, haben inzwischen längst auch den vorschulischen Bereich erreicht, erzeugen in nicht wenigen Familien vor allem der "A-Klasse" - der Arbeiter, Angestellten, Arbeitslosen, aller vom Kapitalismus Ausgebeuteten und Ausgegrenzten - (Sohn 2006, S. 171) eine fatale Neigung zum Verzicht durch Selbsteliminierung: "Das ist nichts für unser Kind.". (Mancher wird sagen, das Wort 'Pesthauch' sei nun doch zu dick aufgetragen. Ich gebe zu bedenken: Im Rahmen einer internationalen Studie hat man vor einigen Jahren Jugendliche im Alter von 15 Jahren befragt, wie sie sich selbst, ihre Zukunftsperspektiven und ihre schulischen Chancen einschätzen und von allen befragten OECD-Ländern war die BRD das Schlußlicht. In keinem anderen Land schätzen die Jugendlichen ihre schulischen Chancen so miserabel und so düster ein wie hierzulande. Und was vielleicht noch schlimmer ist: eine entsprechende Umfrage bei den Achtjährigen ergab genau das gleiche Bild. Schon bei den Achtjährigen ist die BRD das Land, wo die Schülerinnen und Schüler am stärksten entmutigt sind, sich am wenigsten zutrauen.) 

 Die Hauptkomponenten des gymnasialen Habitus lassen sich wie folgt zusammenfassen: 
 a) Logozentrismus in mehr oder minder zugespitzter Form 
 b) Die zweite Fremdsprache als obligatorischer Schwerpunkt statt eines breiten Wahlpflichtangebotes 
 c) Sozial selektive Fremdsprachendidaktik 
 d) Das gymnasiale pädagogische Qualifikationsproblem 
 e) Frühe starke Progression der Anspruchsniveaus 
 f) Didaktischer Konservatismus in Mathematik und Naturwissenschaften 
 g) Systemimmanentes Analphabetentum in Hinsicht auf Technik / Polytechnik, auf die Arbeitswelt und in abgemilderter Form auch auf die Ökonomie 
 h) Intellektualismus, Formalismus, abstraktes Denken und abstrakte Sprache in unnötig zugespitzter Form 
 i) Die Sprachbarriere zwischen LehrerInnen und SchülerInnen 
 j) Frontalunterricht 
 

Einige der genannten Komponenten sollen im folgenden näher betrachtet werden. Doch vorab eine Vorbemerkung: Der gymnasiale Habitus als Medium der sozialen Selektion im Schulwesen ist eine im einzelnen nicht eben leicht zu erschließende Kategorie, zumal hinsichtlich des Gymnasiums "heute nicht nur erhebliche Forschungs- sondern auch erhebliche Reflexionslücken (bestehen). . . . Man muß weit in die Geschichte der Pädagogik zurückgreifen, um systematische pädagogische Diskussionen zum Gymnasium zu finden. Die letzten großen Versuche finden sich mit Fritz Blättners "Gymnasium", Wilhelm Flitners "Hochschulreife und Gymnasium" und Theodor Wilhelms "Theorie der Schule" in den fünfziger und sechziger Jahren." (Liebau 1997, S. 10) Besonders irritiert auch die - sicher nicht zufällige - Tatsache, dass die deutsche Bildungssoziologie die Arbeiten von Pierre Bourdieu bis heute nur unzureichend rezipiert und herangezogen hat bei dem Bemühen, die oft nicht leicht erkennbaren aber äußerst effektiven Mechanismen, Prozesse und Verfahrensweisen von sozialer Diskrimination im Bildungswesen zu entlarven, wie sie von dem französischen Wissenschaftler in bis heute unübertroffener Präzision (und sprachlicher Meisterschaft) dargestellt worden sind (wobei er sie - im Unterschied zur deutschen Milieuforschung und schichtenspezifischen Sozialisationsforschung - immer als "Ausdruck klassenspezifischer Hegemonialstrukturen" (Seppmann 2006, S. 81) gesehen und meist auch dargestellt hat). Die beabsichtigte "Überwindung der Rezeptionssperre des Bourdieuschen Werkes", von der im Bericht über eine der letzten Jahrestagungen der Sektion Bildung und Erziehung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie die Rede ist, ist leider bisher über erste Ansätze nicht hinausgekommen. 

Logozentrismus 
 Richten wir bei dem Versuch einer näheren Betrachtung des gymnasialen Habitus unsere Aufmerksamkeit auf die Frage, was denn eigentlich das Gymnasium ausmacht, so ist sicherlich an erster Stelle sein Logozentrismus, hier verstanden als die auf die Spitze getriebene Fixierung auf Sprache und auf Sprachgewandtheit in allen Fächern, zu nennen. Die offensichtliche Affinität zwischen den gymnasialen Anforderungen und Gewohnheiten auf sprachlichem (und fremdsprachlichem) Gebiet und der Sprachkultur der privilegierten Klassen stattet die SchülerInnen aus diesen Kreisen mit jenen kaum wägbaren Qualitäten, "jener unendlichen Zahl infinitesimaler Unterschiede in der Art des Tuns oder Sagens" (Bourdieu / Passeron 1971, S. 123) aus, die das Urteil des Lehrers nachhaltig beeinflussen, auch wenn er sie gar nicht bewußt registriert. Jene "tückischen kleinen Erkennungszeichen", die besonders in jenem Teil des Unterrichtsgeschehens zum Tragen kommen, den man gemeinhin "das Mündliche" nennt (ebd. S. 90). Sicherlich nehmen schriftliche und mündliche Sprachbeherrschung und Gewandheit zu Recht eine zentrale Stellung im Schulbetrieb ein, bilden sie doch eine wesentliche Grundlage einer jeden qualifizierten Bildung. Je früher und vor allem je unvermittelter sich jedoch im Unterricht die Tendenz zu Abstraktion und Formalismus, die Vorliebe für Intellektualismus ("Die kognitiv akzentuierte Gymnasialkultur" (Kiper 2005, S. 301)) und für sprachliche Virtuosität durchsetzen, umso mehr geraten SchülerInnen, die auf den ausschließlich schulmäßigen Erwerb der Bildungssprache angewiesen sind, ins Hintertreffen gegenüber denen, die diese "in unmerklicher Assimilation der kultivierten Anspielungs- und Gesellschaftssprache im Familienmilieu" "wie durch Osmose" (ebd, S. 115 + 38) erworben haben. Denn "Da das System nicht explizit liefert, was es verlangt, verlangt es implizit, dass seine Schüler bereits besitzen, was es nicht liefert." (ebd. S. 126). 

Obligatorische zweite Fremdsprache 
 Im Rahmen der sozialen Selektion durch Logozentrismus spielt der einseitig auf das Erlernen von Fremdsprachen fixierte gymnasiale Bildungsgang eine in seinen Auswirkungen kaum zu überschätzende Rolle. Das Gymnasium ist definiert - nüchtern und jenseits aller Bildungslyrik betrachtet - vor allem durch den unerbittlichen Zwang zur zweiten Fremdsprache, sei es  im 7. Schuljahr oder auch bereits im 6. Schuljahr. Einen echten Wahlpflichtbereich wie an anderen Schulformen gibt es an dieser Stelle nicht. Die Wahlmöglichkeit der SchülerInnen an dieser zweiten Schlüsselstelle ihrer Bildungskarriere ist auf die Wahl zwischen der einen oder anderen Fremdsprache beschränkt. Sie können der Festlegung ihrer Schulkarriere auf den Schwerpunkt Fremdsprachen am Gymnasium nicht entgehen. Sinnvolle alternative Schwerpunktsetzungen wie z.B. Naturwissenschaften, Gesellschaftswissenschaften, Technik / Arbeitslehre oder Musisch-Künstlerischer Schwerpunkt, wie sie an Gesamtschulen (und teilweise auch an Realschulen) angeboten werden, sind nicht möglich. Eltern und SchülerInnen sind sich der Bedeutung dieser Tatsache bei der Wahl der Schulform Gymnasium meist gar nicht bewußt, neigen dazu, die Auswirkungen zu unterschätzen. 

 Aber der gymnasiale Zwang zur zweiten Fremdsprache für alle SchülerInnen (spätestens) ab dem 7. Schuljahr (und damit als ein Schwerpunkt der weiteren Schullaufbahn) hat weitreichende Folgen. Es gibt viele Hinweise darauf, dass er als einer der effektivsten Hebel sozialer Selektion überhaupt verstanden werden muß. Schon Untersuchungen aus den 70er Jahren (Rauh 1977) und seitdem immer wieder - zuletzt der DESI-Studie (Klieme 2006) - ist zu entnehmen, dass der Zusammenhang zwischen Schulleistungen und dem sozialen Milieu umso deutlicher ist, je sprachabhängiger die Schulleistung ist. Und wenn dieser Effekt - wie DESI neuerdings wieder mit schmerzlicher Deutlichkeit zeigt - schon bei dem Fach Englisch voll zum Tragen kommt, um wie viel deutlicher dann in Latein oder Französisch. 

 SchülerInnen aus bildungsfernen Elternhäusern - und auch ganz generell solche, deren persönlicher Schwerpunkt nicht im sprachlichen Bereich liegt - haben somit spätestens ab dem 7. Schuljahr bis zum Abitur ein schweres Handicap zu tragen. Und das gilt nicht nur für dieses für sie "falsche" Schwerpunktfach zweite Fremdsprache, mit dem sie sich nun plagen müssen, sondern das gilt weit darüber hinaus, vor allem auch für ihre Gesamtmotivation, weil sie in dem Bereich, wo eigentlich ihre Stärken liegen, keine adäquaten Entwicklungsmöglichkeiten geboten bekommen. 

 Sinnvoll und notwendig ist die zweite Fremdsprache sicherlich als eines von mehreren Angeboten für die Schwerpunktsetzung im Wahlpflichtbereich-1. Wird jedoch aus dem Angebotscharakter ein Zwang für alle SchülerInnen, macht das nur Sinn im Rahmen eines auf soziale Selektion bedachten parapädagogischen Konzepts, bildet doch die "ungleiche Verteilung des bildungstechnisch rentablen sprachlichen Kapitals auf die verschiedenen sozialen Klassen" (Bourdieu / Passeron 1971, S. 110) eine der verborgensten und zugleich wirksamsten Grundlagen für die Abhängigkeit zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg. 

Sozial selektive Fremdsprachendidaktik 
 Noch nicht berücksichtigt ist dabei die Tatsache, dass auch die Didaktik und Methodik des gymnasialen Fremdsprachenunterrichts (natürlich) speziell auf die gymnasiale Schülerschaft und damit streng schichtenspezifisch zugeschnitten ist. Das Bewußtsein, dass es so etwas wie eine schichtenspezifisch selektive Fremdsprachendidaktik geben könnte, scheint übrigens noch nicht sonderlich weit entwickelt, anders als zum Beispiel hinsichtlich der ethnischen Selektion, wo die hochselektive Funktion einer ausschließlich an deutschen Muttersprachlern orientierten Fremdsprachendidaktik ja mit Händen zu greifen ist. 

 Auf dem Feld der schichtenspezifischen Selektionswirkung bestimmter Züge der gymnasialen Fremdsprachendidaktik hingegen sind die Wirkmechanismen - bis auf die Frage der Textauswahl - nicht auf den ersten Blick ersichtlich (außer vielleicht für den aufmerksamen Fremdsprachenlehrer vor Ort) und bedürfen einer genaueren Erforschung. Auch die für eine "Rationale Pädagogik" (Bourdieu) oder "Reflexive Pädagogik" (Böttcher 2002, S. 51) hochinteressante Frage, wie etwa die schichtenspezifische Fremdsprachendidaktik für eine nicht-gymnasiale Schülerschaft auszusehen hätte, scheint noch weitgehend unbeantwortet. 

 In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, sich einmal vor Augen zu führen, was man fälschlicherweise Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern alles nicht zutraut. Denn anstatt nach den eigenen didaktischen Unzulänglichkeiten und Fehlern zu forschen, sucht man die Schuld bei den Kindern und Elternhäusern. Daran haben bisher auch bekannte Gegenbeispiele wie etwa jenes Kind aus einfachsten Verhältnissen aus einem Berberdorf in Marokko, das die Berbersprache als Muttersprache hat, dazu natürlich marokkanisch und französich beherrscht, auch des Deutschen inzwischen mächtig ist, in der Schule aber Probleme mit dem Erlernen des Englischen hat, nicht viel zu ändern vermocht. Immerhin ist festzustellen, dass im Zuge der Rezeption von DESI (s.o.) die dringend notwendige Diskussion um die Fremdsprachendidaktik erneut in Gang kommt (Lohmann 2006, S. I - VIII). Und was gezielte Relexive Pädagogische Forschung leisten kann, um die Wirkmechanismen von - in diesem Falle geschlechtsspezifischer - ChancenUNgleichheit aufzudecken und im Gegenzug erfolgreiche didaktische und methodische Prinzipien zu entwickeln, hat die erziehungswissenschaftliche Frauenforschung doch schließlich beispielhaft vorgeführt. 

Das gymnasiale pädagogische Qualifikationsproblem 
 Der gymnasiale Habitus ist des weiteren geprägt durch das Auseinanderklaffen der fachlichen Qualifikation und der pädagogischen Qualifikation (NICHT: des pädagogische Engagements) der LehrerInnen am Gymnasium. Ich gestatte mir dieses Urteil u.a. auf dem Hintergrund meiner eigenen Erfahrungen, als ich nach 15 Jahren Tätigkeit am Gymnasium an eine Gesamtschule (mit einer damals wirklich heterogenen Schülerpopulation) wechselte. Meine offensichtlich unzureichende pädagogisch-praktische Aus- und Fortbildung, die teilweise Unkenntnis des einfachsten pädagogischen Handwerkszeugs, die klassisch gymnasialen Unterrichtsgewohnheiten und Umgangsformen mit SchülerInnen, mein ganzer gymnasialer Habitus führten sehr bald zum Versagen meiner Stimme und zu einer Lage, wo ich nur noch mit intensiver Unterstützung und Beratung durch die KollegInnen (ehemalige) Haupt- und GrundschullehrInnen (die ja nun mit mir im gleichen Lehrerzimmer saßen) - sowie mit wohlwollender Hilfe einer zunehmenden Schar von SchülerInnen, als diese sich hinreichend sicher waren, dass auf meiner Seite genügend "Guter Wille" vorhanden war - die Situation einigermaßen meistern konnte. Bis dann nach einigen Monaten die wichtigsten Lektionen gelernt waren und der pädagogische Nachhilfeunterricht zu einem für alle Seiten fruchtbaren Austausch ausgebaut werden konnte. 

 Auch an anderer Stelle finden sich Hinweise, die deutlich machen, dass das gymnasiale pädagogische Qualifikationsproblem  nicht ganz unbekannt ist, so bei Hanna Kiper, wenn sie schreibt: "Dagegen scheinen Ansätze, die auf die Befähigung der Lehrkräfte zielen, mit Heterogenität umzugehen, sinnvoll und notwendig zu sein." (Kiper 2005, S. 303) und: "Dann könnte es sich nämlich erweisen, dass die zunächst benannten Qualitäten sich nicht als Erfolg der Unterrichtsarbeit sondern als Resultat des Gewinnens der sozial richtig gewählten Schülerschaft erweisen." (ebd. S. 305) Und PISA 2000 lieferte - eher am Rande und nur auf das Fach Deutsch bezogen - ein in diesem Zusammenhang bemerkenswertes Ergebnis: "Eine Unterstützung durch die Lehrkräfte nehmen die Gymnasiasten signifikant seltener wahr als die Schülerinnen und Schüler aller anderen Schulformen." (Baumert 2001, S. 496). 

 Es darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass neben dem allgemeinen auch noch so etwas wie ein spezielles gymnasiales pädagogisches Qualifikationsproblem existiert. Damit sind jene allseits gefürchteten - gelegentlichen oder ständig wiederkehrenden - überdurchschnittlich groben individuellen pädagogischen Fehlleistungen einzelner GymnasiallehrerInnen gemeint, die unter aller Augen - manchmal ein ganzes Berufsleben lang - einen unermeßlichen pädagogischen Flurschaden anrichten, der in der Grauzone des gymnasialen Habitus hingenommen und früher auch gerne verharmlost wurde (siehe ‚Die Feuerzangenbowle‘), während sie anderswo in der Regel schon bald zum kompletten beruflichen Scheitern führen würden. 

Die Sprachbarriere 
 Die Institution Gymnasium hat die dort tätigen LehrerInnen tiefer geprägt als es irgend eine andere Institution mit ihren Beschäftigten vermag, sind diese doch ein über 9 Jahre selbst erzogenes, geprüftes und akzeptiertes Produkt gerade jenes Systems, an dem sie nun tätig sind, haben bis auf die Jahre an der Hochschule meist ihr ganzes Leben ab dem 10. Lebensjahr dort zugebracht - Kader aus eigener Zucht sozusagen, die den Fortbestand des Systems garantieren.
Das hat weitreichende Konsequenzen - darunter die, dass hier geradezu ideale Bedingungen für die ständige unkritische Selbstperpetuierung (auf maximale Dauer angelegte Selbsterhaltung) des Systems vorliegen. Aber auch ein deutlicher Mangel an kritischer Distanz zum eigenen Sprachgebrauch und Sprachniveau hat hier seinen Ursprung. Das Bewusstsein für das ganze Ausmaß der Verständnisprobleme von SchülerInnen mit "restringiertem Code" und der Wille und die Fähigkeit, damit angemessen umzugehen, sind oft nicht sehr weit entwickelt - mit gravierenden negativen Rückwirkungen auf die Unterrichtserfolge bei Kindern aus mehr oder weniger bildungsfernen Elternhäusern, die bekanntlich nicht nur den "elaborierten Code" der LehrerInnen nicht selbst aktiv benutzen können, sondern auch mit dem passiven Verständnis desselben große Probleme haben bzw. glatt daran scheitern, für die der Unterricht am Gymnasium im Grunde in einer Fremdsprache erfolgt. (Dieses Thema wird hier aus Platzgründen nicht weiter vertieft, war es doch Gegenstand umfangreicher Forschungen und Diskussionen und ist als weithin bekannt anzunehmen. Eine neuere Darstellung (Kaesler 2005) bietet zugleich auch eine umfassende Darstellung der bisherigen Positionen.) 

Die schichtenspezifische Wirksamkeit des gymnasialen Habitus 
  . . . liegt auf der Hand. Er trifft zwar nicht ausschließlich aber doch mit besonderer Härte vor allem jene SchülerInnen, denen er auf Grund ihres sozialen Hintergrundes als etwas völlig Fremdes gegenüber tritt. Mag die eine oder andere Komponente im Einzelfall durchaus auch GymnasialschülerInnen aus anderen Schichten und Klassen in der vollen Entfaltung ihres Leistungspotenzials behindern, so trifft doch die Kumulation mehr oder weniger aller Komponenten vor allem die Kinder bildungsferner Schichten, insbesondere die Kinder der "A-Klasse" (s.o.). Damit wird deutlich, dass es sich hier um ein gewolltes Verfahren zur Durchsetzung von Klasseninteressen handelt. 

 Eine chronische pädagogische Beziehungskrise, die sich in wachsender Schulunlust und oft auch in einem weitgehenden Verstummen dieser Kinder im Unterricht manifestiert, ist die Folge und ist mit den zur Verfügung stehenden Mitteln ("Er müßte sich mehr am Unterricht beteiligen.") nicht zu lösen. Die Folgen werden allein dem Kind aufgebürdet. Aus einem Verständigungsproblem wird unter der Hand ein Leistungsproblem gemacht, aus einem sozialen und politischen Problem ein individuelles: ein Begabungsproblem.

 Und zu der aus gymnasialer ‚Entsorgungsmentalität‘ (Fend, S. 15 ff) erwachsenden negativen Selektion gegenüber SchülerInnen ohne Stallgeruch gesellt sich dann auch noch die positive Selektion. SchülerInnen mit dem "richtigen" sozialen Hintergrund, mit dem "richtigen Auftreten", die jener klammheimlichen Idealfigur eines deutschen Gymnasialschülers nahe kommen - dem "kultivierte(n) Sohn aus gutem Hause, der sein Wissen mühelos erworben hat und, seines Heute und Morgen gewiß, mit distanzierter Eleganz auftreten und das Risiko der Virtuosität eingehen kann" (Bourdieu / Passeron 1993, S. 42), werden mehr oder weniger offen und bewußt versorgt - mit Zuspruch, verständnisvollem Umgang, Insiderwissen, guten Tipps und guten Noten. 

 (Zugleich darf in diesem Zusammenhang allerdings auch die Tatsache nicht übersehen werden, dass das deutlich höhere geistige Anregungspotenzial, das von der Schülerschaft eines Gymnasiums ausgeht, die genannten Benachteiligungen ein Stück weit aufzuwiegen vermag, dies natürlich nur was die kognitive Seite angeht und auch nur bei den SchülerInnen, die den psychischen Druck eines jahrelangen Daseins als Aschenputtel und underdog auszuhalten vermögen ohne allzu große psychische Schäden davonzutragen. Das bestätigen auch die - im deutschen "Bericht PISA 2000" (Baumert 2001) unterschlagenen - Aussagen des internationalen "Report PISA 2000" (OECD 2001) zu den Auswirkungen der "kombinierte(n) Wirkung des sozioökonomischen Hintergrunds der Gesamtheit der Schülerschaft einer Schule" (OECD 2001, S. 237 ff; S. 252).) 

  Es ist sicher zutreffend, dass der gymnasiale Habitus nicht ausschließlich an Gymnasien zu Hause ist. Die eine oder andere Komponente - wie z.B. den Frontalunterricht - wird man durchaus auch an anderen Schulen vorfinden. Das Gymnasium jedoch ist der Ort, wo dieses ganze Ensemble schulischer Verhältnisse zum Wesen einer fest gefügten Institution gemacht wurde, bewußt und gezielt als strukturelle Gewalt der Funktionsweise einer eigenen Schulform installiert ist, als Medium sozialer Selektion über viele Generationen weiterentwickelt, den Zeitläuften angepasst und bis heute verbissen verteidigt wird. 

 Umso wichtiger ist es, dass nicht wenige GymnasiallehrerInnen (durchaus unterschiedlicher politischer Couleur) diese Verhältnisse durchschauen und mißbilligen, bemüht sind, sich den objektiven Zwängen ein Stück weit zu entziehen, sie wo immer möglich zu unterlaufen, ihren besonderen Ehrgeiz in die Förderung der noch nicht "bereinigten" Aschenputtel, underdogs und ProblemschülerInnen setzen. Und es gibt sicherlich nicht wenige Gymnasien, wo diese Kräfte einen bedeutenden Anteil des Kollegiums ausmachen. Zwar können die Schulen und die dort tätigen LehrerInnen auf Dauer nicht gerechter sein, als die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und die daraus erwachsenen rechtlichen Regelungen es erlauben, jedoch macht es einen Unterschied, ob man sich den herrschenden Gewaltverhältnissen widerstandslos fügt, womöglich gar zu deren Apologeten und Ideologen wird oder aber diese radikal kritisiert und bekämpft, auch wenn man im beruflichen Leben daran gefesselt bleibt. 

Gymnasium mit zunehmenden Problemen 
 Der zunehmende Druck, ständig wachsende Abiturientenzahlen hervorzubringen, hat das Gymnasium mehr und mehr vor Probleme grundsätzlicher Art gestellt. Bisher hat man sich damit beholfen, die Aufnahme- und Auslesepraxis insbesondere gegenüber Kindern aus den Mittelschichten und punktuell auch gegenüber Kindern mit Migrationshintergrund deutlich abzumildern - zum Entsetzen vieler Anhänger der reinen gymnasialen Lehre - was dazu geführt hat, dass sich die Zusammensetzung der Schülerpopulation gewandelt hat, ein Stück weit heterogener und damit anspruchsvoller geworden ist - "sich verschlechtert hat" in der Umgangssprache des Gymnasiums. Unter gymnasialen Rahmenbedingungen – insbesondere mit ihrem Zwang zur zweiten Fremdsprache als Schwerpunkt für alle - muss eine solche Entwicklung zwangsläufig das Leistungsniveau gefährden und die Hoffnung, durch die Übernahme von einigen Versatzstücken aus der Reform- und Gesamtschulpädagogik werde man mit der sich öffnenden Schere zwischen Quantität und Qualität schon irgendwie fertig werden, hat getrogen. Der gymnasiale Habitus läßt sich nicht mit ein paar Reförmchen oder Fortbildungsmaßnahmen neutralisieren oder einfach per Beschluß außer Kraft setzen. Dazu ist er historisch, politisch und mental zu tief verwurzelt, rechtlich zu stark festgeklopft und, da es sich - jenseits aller ideologischen Verklärung - im Grunde um nichts anderes als eine Reihe von pädagogischen, didaktischen, curricularen und anderen Defiziten handelt, nicht so ohne weiteres aus der Welt zu schaffen. 

 Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass das Gymnasium mit dem Spagat zwischen seinem traditionellen Habitus und dem Zwang zur Produktion von immer mehr Abiturienten früher oder später in eine unhaltbare Lage geraten könnte, weil dieses Ziel mit der ihm wesenseigenen sozialen Selektivität schlicht nicht erreichbar ist. Denn zur Entfaltung von mehr Quantität und zugleich auch von mehr Qualität bedarf es offensichtlich eines integrativen, auf individuelle Förderung angelegten pädagogischen Habitus, der individuelles Profil und Schwerpunktsetzung der SchülerInnen akzeptiert und ermöglicht und der mit sozialer Selektion, mit Aussonderung und Entsorgungsmentalität nicht zusammengeht. Das real existierende Gymnasium als Volksgymnasium ist ein Widerspruch in sich. Das Volksgymnasium kann nur die vom gymnasialen Habitus befreite ‘Eine Schule für alle’ sein. 


Deutsche Mentalität oder Klassenkampf 
 Die Verbissenheit, mit der der Mainstream der deutschen Bourgeoisie am Gymnasium und damit am historisch überholten gegliederten Schulwesen mit seiner sozialen Apartheid und schulischen Ghettobildung festhält, weil man meint, das deutsche Schulwesen auch in Zukunft nach den Regeln eines Selektionssystems organisieren zu müssen, ist angesichts der national und international inzwischen vorliegenden pädagogischen Erkenntnisse und bildungspolitischen Erfahrungen womöglich nicht mehr allein rational und politisch zu erklären. Auch wenn man Goldhagen in seiner biologistischen Interpretation einer angeblichen deutschen Volksseele (Goldhagen 1996) nicht folgen will, so drängt sich doch gelegentlich der Eindruck auf, als sei der Kern der deutschen Bourgeoisie von einer tief verwurzelten Selektionsmentalität geprägt, einem anscheinend unbezwingbaren Hang zum Niedermachen von sozial Benachteiligten, der sich neben der Sozialpolitik (Hartz 4)  seit langem auch in der Schulpolitik entfaltet und seinen traurigen Höhepunkt findet in dem demütigenden und entmotivierenden Selektionsprozess von Grundschulkindern. Es macht nachdenklich, dass ausgerechnet Deutschland so ziemlich das letzte Land ist, das den Ungeist der Selektion weiterhin zum prägenden Grundzug seines Schulwesens macht, selbst noch zu einem Zeitpunkt, wo seine empirischen Grundlagen von Studie zu Studie weiter schwinden, wo dieses Thema in den Ländern rund um uns herum längst abgehakt und höchstens noch von historischem Interesse ist. 

 Im Kern geht es bei dem Kampf gegen die ‚Eine Schule für alle‘ und für den Erhalt des Gymnasiums aber natürlich nicht um Psychologie sondern um Politik, nicht um "typisch deutsche" Befindlichkeiten und Mentalitäten, nicht um schlechte alte schulpolitische Gewohnheiten und Traditionslinien und auch nicht um Handlungstheorien, Rollentheorien, milieubedingte Probleme oder "rational choice", sondern um die kalte und rücksichtslose Durchsetzung von schichtenspezifischen Interessen, um "class strategy" (Ball), um Klassenkampf. Der Kampf um den erfolgreichen Einstieg des eigenen Nachwuchses in die Gymnasial-, Universitäts- und berufliche Laufbahn wird angesichts des Tsunami von Zertifikaten, den die letzten Jahrzehnte Bildungsreform hervorgebracht haben, seitens der Bourgeoisie mit aller Härte geführt. 

 Zurück zum Klassencharakter der Schulstrukturfrage: Er zeigt sich - eher indirekt - auf eine Weise, auf die Anne Ratzki in ihrer Antrittsvorlesung aufmerksam machte: Integration und Abbau von Homogenität in den Schulen wird durchaus nicht - wie man glauben könnte - in jedem Falle als unüberwindliches Problem empfunden, hat es doch auch in Deutschland seit 1950 Entwicklungen gegeben, die absichtlich und im Wissen um die Schwierigkeit der Aufgabe mehr Heterogenität hergestellt haben: die Heterogenität nach Geschlecht sowie die Integration von Behinderten und Nicht-Behinderten. "Sollte die Erklärung für den Erfolg der Integrationsklassen darin liegen, dass bei der Integration Behinderter die soziale Schicht keine Rolle spielt, anders als bei der Gesamtschule, der man oft einen allzu großen Anteil an "potentiellen Hauptschülern" vorwirft? Könnte es einen heimlichen Lehrplan unseres Schulsystems geben, der die Reproduktion sozialer Ungleichheit fördert?" (Ratzki 2005, S. 3) 

Was tun? 
 Es ist absehbar, dass das Gymnasium nicht schon morgen oder übermorgen in der ‚Einen Schule für alle‘ aufgehen wird. Es stellt sich also die Frage: Gibt es mögliche Zwischen- und Übergangslösungen?

 Solange das Gymnasium in seiner traditionellen Form als eigene Institution bestehen bleibt, wird es unausweichlich ein hierarchisch gegliedertes Schulsystem - ob nun zwei- oder mehrgliedrig - geben, weil das Gymnasium als parasitäre Schulform definiert ist, die nur so lange bestehen kann, wie es andere Schulformen gibt, die ihm den Rücken frei halten. 

 Eine Gleichwertigkeit mit anderen Schulformen wird sich real nicht herstellen lassen, denn dazu müßte man die parasitären Züge und Gewohnheiten der weiterbestehenden Gymnasien abbauen. Die im Zuge eines solchen Vorgehens notwendigen Eingriffe würden jedoch – unter den Bedingungen des weiter bestehenden gymnasialen Habitus - in abertausend Einzelfällen zu kaum vertretbaren pädagogischen Katastrophenlagen führen, wären im einzelnen schmerzvoller und in der Öffentlichkeit schwerer zu vermitteln als etwa das schrittweise / jahrgangsweise Hinüberwachsen aller noch bestehenden Schulformen aus der Grundschule heraus in die Stadtteilschule als ‘Eine Schule für alle’ - welchen Namen auch immer sie dann tragen mag - mit ihrem heterogen zusammengesetzten Kollegium (und nur heterogene Kollegien können die dann anstehenden Aufgaben meistern).

Die gelegentlich in den Vordergrund geschobene Forderung nach der ‚guten Schule für alle‘ geht insofern an der Sache vorbei als sie natürlich immer ihre Berechtigung hat, für sich genommen aber nur wenig zur Überwindung der sozialen Selektion beitragen kann. Sie führt dann völlig in die Irre wenn sie im Grunde als Ersatz für die Forderung nach der ‚Einen Schule für alle‘ herhalten soll. Nur gemeinsam ergeben beide einen Sinn.

Fazit 
 Die deutsche Bildungsmisere hat einen Namen: Gymnasium. Eine strategische Schwäche der linken schulpolitischen Diskussion besteht in der weit verbreiteten Fehleinschätzung dieser Schulform, weil lange Zeit nicht genau genug hingesehen wurde, was dort eigentlich vor sich geht. Anders sind viele schulpolitische Äußerungen seitens der linken Öffentlichkeit nicht zu erklären; wenn etwa - um Beispiele zu nennen - hochrangige Vertreter der Berliner LINKEN allen Ernstes geglaubt haben, man könne bestehende Gymnasien, die sich dazu bereit finden, per Beschluß (und mit ein paar Reformen) in Gemeinschaftsschulen umwandeln. Welche tiefgreifenden Veränderungen – neben der Ausweitung des WP1-Angebotes - an einem Gymnasium für eine solche Umwandlung unabdingbar wären, davon hatten sie offensichtlich keine realistische Vorstellung. Oder ich denke an jene stramm linken Ratsherren aus dem Ruhrgebiet, die in internen Diskussionen von einem bestimmten Gymnasium ihrer Kommune mit einem gewissen Stolz als ihrem 'Arbeitergymnasium' zu sprechen pflegten. Oder an die Stimmen, die sich auch heute wieder „notfalls“ mit der Zweigliedrigkeit - und damit meinen sie den Erhalt des Gymnasiums - zufrieden geben wollen. Es geht vielmehr gerade darum, den gymnasialen Bildungsgang in die ‘Eine Schule für alle’ zu integrieren. Das geht nicht von heute auf morgen, aber dort hat er in der Form eines Angebots im Wahlpflichtbereich-1 im 6. oder 7. Schuljahr als durch den Einzelschüler wählbares individuelles Profil seine Berechtigung, weil er seinen Charakter als Medium der sozialen Selektion verloren hat.
   

Literatur

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Rolf Jüngermann
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