"Was wir verteidigen, verteidigen wir für alle"

Spuren einer Geschichte in Bewegung

Die Geschichte der Protestbewegung der Intermittents du spectacle ist lang. Sie dauert bereits seit dem 27. Juni 2003 an und weist noch weiter zurückreichende Spuren auf.

Es geht um eine Geschichte mit verschiedensten Dimensionen und es scheint mir kaum möglich, ihre ganze Intensität und ihren Reichtum wiederzugeben. Ich möchte diese Geschichte daher von dem speziellen Blickwinkel aus quer lesen, der jener der Konstruktion eines "Wir" und der Beziehung dieses "Wir" mit einem "Alle" ist. Es scheint mir, dass dies die Querverbindung und die Verknüpfung zum Thema des "strategischen Universalismus" ist. Den Titel meines Beitrages habe ich der Koordination der Intermittents et Précaires entlehnt. Es handelt sich eigentlich um den Titel eines Textes, der bei den Koordinationstreffen produziert wurde, aber auch um einen Satz, der als Statement in einigen Flugblättern zu finden ist. Wie wird aus den vielfachen "Ichs" ein "Wir"? Wie kann dieses "Wir", so fragil und mächtig zugleich es auch ist, vorgeben für "Alle" zu sprechen? Ich glaube, dass im Zentrum dieser Fragen die immer sehr schwierige Konstruktion eines "Wir", die Zerbrechlichkeit der Beziehung zwischen "uns" und "allen" liegt. Und es liegt an den Antworten, die wir erfinden und ausprobieren, dass es möglich wird, die Alternative zwischen einem "Universalismus" in der Form eines totalitären Narrativs und den Identitätspolitiken hin zu dem zu verschieben, was Donna Haraway als "Politik des Situierten Wissens" definiert. Das heißt, "die Politiken und Epistemologien der Lokalisierung, der Positionierung und Situierung, bei denen Partialität und nicht Universalität die Bedingung dafür ist, rationale Ansprüche auf Wissen vernehmbar anzumelden. (Â…) Die Positionierung ist das Spiel einer kritischen, immer nur partiellen Ermittlung [...]." Das Situierte Wissen ist nicht "mein Wissen" und "dein Wissen", sondern das Produkt einer Beziehung. Deshalb sind das "Wir" und das "Alle" immer eine Konstruktion, und zwar eine partiale Konstruktion: Es ist niemals einfach gegeben, es ist ein komplexerer Prozess, da es ebenso dem Relativismus und dem Essentialismus wie auch den immer gegenwärtigen Ansprüchen auf eine Verallgemeinerung dieser Kritik misstrauen muss. Die Geschichte der Protestbewegung der Intermittents ist immer von Fragen des "Wir" und des "Alle" durchkreuzt worden, und die Erfahrung dieser Bewegung kann als Experiment einer Politik des Situierten Wissens gelesen werden.

Die "Intermittence du spectacle" und die Verschiebungen der binären Ordnung

Die IntermittentE du spectacle stellt eine Ausnahme in Europa dar, denn in den meisten europäischen Ländern haben gemeinhin Personen, die im Bereich der darstellenden Kunst (Film, audiovisueller Bereich, Theater) und im erweiterten kulturellen Sektor arbeiten, entweder einen Angestelltenstatus oder sie arbeiten als Selbstständige. Noch häufiger arbeiten KünsterInnen als FreelancerInnen. Aber die IntermittentE du spectacle ist auch in Frankreich eine Ausnahmefigur. Die Intermittenz im Bereich der (darstellenden) Kunst bezeichnet keinen Status, sondern ein spezielles System der Abgeltung des Anspruchs auf Arbeitslosenunterstützung. Weder klassische LohnempfängerIn noch FreelancerIn, ist die IntermittentE du spectacle einE nur unterbrochen, also diskontinuierlich BeschäftigteR mit vielfältigen ArbeitgeberInnen und unterschiedlicher Bezahlung je nach Projekt und ArbeitgeberIn. Diese Figur entsteht am Kreuzungspunkt von Arbeits- und Sozialrecht. Personen, die in diesem Kunstbereich als KünstlerInnen und TechnikerInnen arbeiten, können mit Arbeitsverträgen als "salariés du spectacle" angestellt werden, die gegen die Normen des klassischen Arbeitsvertrags verstoßen. Die Ungewissheit einer Anstellung implizierte für eine große Zahl von Intermittents weder Prekarisierung noch Verarmung, sie ließ vielmehr autonome Freiräume bei der Art des Umgangs mit unterschiedlichen, individuellen Zeitlichkeiten zu, aber auch bei der Wahl von Projekten, in die investiert werden kann.
Wenn das System der Intermittenz dem Arbeitsmarktsystem einen wichtigen Spielraum zur Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen gibt, dann ermöglicht es auch eine größere Autonomie bei der Bestimmung der Arbeitszeit, bei der Wahl der Projekte, für die man arbeitet, und in Bezug auf die Personen, mit denen man arbeitet. Das System der Arbeitslosenentschädigung der Intermittents du spectacle erlaubt somit auch eine größere Autonomie in Bezug auf das "Tun" und darauf, es "anders zu tun". Zwischen der Zeit einer Beschäftigung und der Zeit der Beschäftigungslosigkeit sind die Perioden der "Intermittence" (Unterbrechung) auch Arbeitszeiten. Häufig sind Intermittents innerhalb ihres eigenen Netzwerks angestellt und wechseln von Beschäftigungen als ArbeitnehmerInnen zu Aktivitäten als ProjektträgerInnen. Die Intermittenz kann als eine "Grenzzone" zwischen Beschäftigung und Beschäftigungslosigkeit gedacht werden, als eine hybride Form von ArbeitnehmerInnentum und unabhängiger Arbeitsweise. Sie verschiebt die binäre Logik von Arbeitszeit, die als produktive Zeit gewertet wird, und einer Beschäftigungslosigkeit als vergeudeter Zeit; auch verschiebt sie die Oppositionen von Autonomie und Unterordnung, LohnempfängerIn und ArbeitgeberIn.

... UND prekär

Anhand des Arguments eines strukturellen und wachsenden Defizits wird das System der Arbeitslosenentschädigung der Intermittents du spectacle radikal durch ein vom Medef, dem ArbeitgeberInnenverband, vorgeschlagenes Reformpaket in Frage gestellt und am 26. Juni 2003 von den als "repräsentativ" eingestuften, jedoch auf diesem Sektor minoritären Gewerkschaften unterzeichnet. Dem Verfahrensablauf entsprechend, gab die Regierung ihr Einverständnis zu dem Abkommen. Eine Protestbewegung von großer Reichweite wird am Abend dieser Unterzeichnung geboren. Sie konstituiert sich durch Aktion: Besetzung des Théâtre de la Colline in Paris und am Tag darauf des Théâtre de la Villette. Die Versammlung vom 28. Juni, an der mehr als tausend Personen teilnehmen, gibt der Bewegung per Votum den Namen "Koordination der Intermittents UND Prekären".
Ich möchte im Folgenden auf zwei Punkte eingehen: die Art der Koordination und die Konjunktion UND, die Intermittents und Prekäre miteinander verbindet. Es ist die Form der "Koordination", die hier betont wird. Sie ist das Ergebnis eines schon in den sozialen Kämpfen der 1990er Jahre (der Studierenden, der Krankenschwestern) präsenten Prozesses, der aus den Experimenten mit neuen Formen politischer Organisation hervorgegangen ist. Formen, in denen das Wort auf horizontaler Ebene zirkuliert, so dass der freien Rede und der Initiative des/der Einzelnen Raum gegeben wird: Das "Wir" ist nicht durch eine schon präexistente Identität gegeben, es muss erst geschaffen werden. Die Form der Koordination hat jedoch nichts Stabiles an sich, sie ist selbst prekär und aus der Zerbrechlichkeit der Beziehungen gemacht.
Die Frage dreht sich also um das "Wir" und die dieses "Wir" tragende, kollektive Identität. Das Problem, das sich augenblicklich eingestellt hatte, war jenes einer kollektiven, "strategischen" Identität, welche auch notwendigerweise der Ausdruck von widersprüchlichen und partiellen Identitäten sein sollte. Gleichzeitig tauchte eine weitere Frage auf, nämlich die nach der Konstruktion einer gemeinsamen Aussage, die niemals der Ausdruck einer eindeutigen Aussage sein kann (da dies nichts anderes bedeutete als die Auslöschung der singulären Meinungen), sondern die "der kleinste gemeinsame Nenner" eines verwandtschaftsartigen Netzes sein sollte, dessen Stärke sich durch Aktion offenbart. Um zu vereinfachen, werde ich diese beiden Fragen trennen, obwohl sie eigentlich innerhalb der Geschichte dieser Bewegung nicht zu trennen sind: die Frage der kollektiven Identität und jene nach der Konstruktion einer kollektiven Rede.
Die Frage der kollektiven, "strategischen" Identität stellt sich mit dem Namen, die sich die Koordination gibt: Intermittents UND Prekäre. Ich möchte hier besonders das UND PREKÄR unterstreichen, denn genau darin findet man das Problem, aber auch die Stärke der Protestbewegung - ihre Zerbrechlichkeit sowie das, was ihre Dauer garantiert. Dieser Name ist dafür verantwortlich, dass es zugleich "De-Identifizierung" gibt und eine Offenheit gegenüber der Konstruktion einer kollektiven, strategischen Identität. Zunächst eine Offenheit gegenüber all jenen, die zwar Intermittents du spectacle sind, aber nicht entschädigt werden, und schließlich auch eine mögliche, wenn auch immer problematische Offenheit gegenüber allen anderen Intermittents am Arbeitsmarkt. Die Koordination wird zu diesem Raum, von dem Donna Haraway sagt, dass er "auf bewusste Art und Weise erzeugt wird und der seine Handlungsfähigkeiten nicht auf einer Identifikation mit dem Natürlichen bzw. `Selbstverständlichen´ gründet, sondern nur auf Basis der bewussten Koalition von vernetzten Beziehungen". Es handelt sich hierbei um Beziehungen, die von der Konjunktion UND ausgehend erforscht und hinterfragt werden, jenes UND, welches Intermittents UND Prekäre zusammenbringt.
Jeder Intermittent ist prekär, wenn man von unregelmäßiger Beschäftigung und Unvorhersehbarkeit ausgeht. Prekär ist aber ein ambivalentes Wort, und diese Ambivalenz liegt schon in dem begründet, was seinen etymologischen Ursprung mit dessen heute geläufigen Sinn verbindet. Das Wort prekär kommt vom lateinischen Terminus precarius, "durch Gebet empfangen", es bezeichnet eine Bitte, aber auch Unterwürfigkeit. Dem zeitgenössischen Gebrauch nach bedeutet prekär "eine nicht gesicherte Zukunft oder Zeitdauer". Die Prekarität ist zum einen das, was schöpferische Energien freisetzt, und zum anderen das, was uns einengt. Es ist die Angst vor dem Morgen, aber auch die Beschämung durch Zuschreibungen vor dem "sozialen Tribunal" derer, die sich das Recht nehmen über die zu urteilen, die schlecht, unfähig und schwach scheinen. Wenn manche im Umstand, sich selbst als prekär Arbeitende zu beschreiben, eine Möglichkeit sehen, Machtzuschreibungen umzukehren, so bleibt für andere die Versuchung, zu sicheren Identitäten zurückzukehren, immer noch präsent. Das UND PREKÄRE wird nicht aufhören, die Debatten im Umfeld der Koordination zu nähren und wird weiterhin die kollektive Reflexion bereichern. Der Kampf der Intermittents ist ein Kampf um "soziale Rechte", ein Kampf gegen die Politik der Prekarisierung von Lebensbedingungen. Es ist ein Kampf für die Einforderung der Anerkennung eines außerhalb der Erwerbsarbeitszeit produzierten Reichtums. Das System der Intermittenz zu verteidigen bedeutet auch, die Möglichkeit, dem Joch des Gebets zu entkommen. Es bedeutet auch, die Verteidigung der Möglichkeit zu TUN, andere Formen von Politik, andere künstlerische Ausdrucksweisen und andere Lebensformen zu VERSUCHEN. Ohne die Bedeutsamkeit der Spannungen und Auseinandersetzungen, mit denen die Interpretation des UND PREKÄRE verbunden ist, reduzieren zu wollen, glaube ich, dass das UND PREKÄRE dem WIR seine Kraft gegeben hat. Es hat der Bewegung erlaubt, sofort eine politische Dimension anzunehmen und gleichzeitig die Risiken des Korporatismus und der Identitätsforderungen zu vermeiden. Stärke und Zerbrechlichkeit eines WIR, welches niemals etwas anderes als eine neue Zusammenstellung von "Ich"-Fragmenten sein wird.

Die Macht des Wir

Ich möchte nun zur Frage der Konstruktion einer kollektiven Rede kommen. Sicherlich gab es eine spontane, unmittelbare kollektive Aussage, das NEIN zur Reform, das sich in den Aktionen ausdrückt. Aber auf dieses NEIN folgte das "Wir haben euch einen Vorschlag zu machen". Das System der Arbeitslosenentschädigung musste reformiert werden, aber anders. Das Neue Modell der Arbeitslosenentschädigung wurde von der Koordination der Intermittents et Précaires ausgearbeitet und geht aus einer Konfrontation der unterschiedlichen Beschäftigungs- und Arbeitspraktiken hervor. Es will ein Garantiemodell für ein kontinuierliches Einkommen bei diskontinuierlicher Beschäftigungslage sein. Es antwortet auf eine zweifache Zielsetzung: Angepasst zu sein an die Beschäftigungs- und Arbeitspraktiken der Intermittents und einer größtmöglichen Anzahl zu erlauben, von dieser Einkommensregelmäßigkeit auf Basis des Mindestlohnes zu profitieren. Auf dem Prinzip der Beidseitigkeit begründet, beinhaltet es eine Umverteilung zu Gunsten derjenigen, die die niedrigsten Löhne erhalten und die größte Diskontinuität bei der Beschäftigung erfahren. Das Neue Modell will eine radikale Alternative zur durchgeführten Reform sein. Die Intermittenz, also die Unterbrechung von Beschäftigung ist weit davon entfernt, ein Spezifikum des Kunstsektors zu sein, da sie jedes Mal neue Formen annehmen kann.
"Keine Kultur ohne soziale Rechte", schreibt die Koordination der Intermittents et Précaires - was sie verteidigt sind soziale Rechte, und zwar für alle. So steht am Ende des Textes geschrieben: "Keine einzige unserer Aktionen hätten wir durchführen können, wenn wir nicht festgestellt hätten, dass unsere spezielle Situation sich in der gesamten Gesellschaft widerspiegelt (und) (Â…) wenn wir nicht denken würden, dass das, was wir experimentieren, wir stellvertretend für alle ausprobieren, das, was wir uns vorstellen, wir uns für alle vorstellen und das, was wir gewinnen, wir für alle gewinnen".

(Übersetzung aus dem Französischen: Karoline Feyertag)

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "Alles für alle", Frühjahr 2007.