Der Deus ex machina der neuen Bühnen

in (01.08.2006)

Performance allerorten. Von der Börse, an der ein Unternehmen eine gelungene Performance hinlegt, bis in die letzten subkulturellen Hinterzimmer, in denen performativ an Identitäten gezimmert wird:

Performanzen aller Arten haben die Bühnen längst verlassen und den Alltag erreicht. Kaum ein Begriff hat in den letzten Jahrzehnten eine ähnlich interdisziplinäre Verbreitung und darüber hinaus scheinbar auch einige Praxisrelevanz erlangt.
Ließe sich über diese Entwicklung einerseits uneingeschränkt frohlocken, trübt sich die Freude jedoch angesichts der Unterschiede zwischen diesen Performanzarten bzw. den zahllosen unterschiedlichen Verwendungen des Begriffs und seiner Derivate. War das Auftauchen des Ausdrucks "Performativität" innerhalb der feministischen Debatten zunächst von heftigen Kontroversen darüber begleitet, was denn mit diesem Wort gemeint und überhaupt beschreibbar sei, haben sich diese Fragen aufgrund seiner Allgegenwart scheinbar längst erledigt. Performt wird mittlerweile in der Kunsthalle, auf der Straße und in der eigenen Community, unterschiedslos. Wenn auch natürlich mit recht ungleichen Resultaten. Interessiert man sich also nicht alleine für den Performanceakt selbst, sondern auch für seine Folgen, scheint eine Analyse der Beziehung und damit der Unterschiede zwischen Performativität und Performance unumgänglich.
Judith Butler entwickelte im Anschluss an die Sprechakttheorie John L. Austins ein Modell performativer Widerständigkeit, die im Handlungscharakter des Sprechens das Potenzial zu selbstermächtigenden Widerworten verortete. Austin hatte mit seinem Verweis auf die illokutionäre Dimension von Aussagen darauf aufmerksam gemacht, dass etwas zu sagen stets auch etwas zu tun bedeutet. Für diese Sprechhandlungen legte er Gelingensbedingungen fest, d. h. unentbehrliche kontextuelle Erfordernisse - wie beispielsweise die vorangegangene Autorisierung des/der Sprechenden -, die den Handlungsvollzug erst gewährleisten. An diesem Kontext zu rütteln, ihn zu verschieben und zu öffnen, ohne dabei das Gelingen des Sprechakts zu gefährden, macht Butler sich nun zur Aufgabe. Und da sie Geschlechtsidentität bekanntermaßen zuallererst als sprachliche Angelegenheit definiert, gilt ihre Hoffnung auf emanzipatorische Neuformulierungen und -kontextualisierungen insbesondere den vielfältigen Äußerungsformen geschlechtlichter Individuen.
Die darauf folgende Kritik an Butler richtet sich nicht allein gegen die vermeintliche Abschaffung von Frauen und ihren Körpern als der einzigen Grundlage, auf die sich Identitätspolitiken der Solidargemeinschaft "Frauen" stützen können. Ein weiterer Kritikpunkt ergab sich darüber hinaus aus der Missinterpretation von "performing gender" als dem singulären Akt eines willensbegabten Subjekts. Die Theatralität von (Geschlechts-) Identität, von Butler verstanden als reglementierte, konventionalisierte, ritualisierte und zuletzt stabilisierte Form des Betragens und Betrachtens, wurde interpretiert als Wahlfreiheit, die sich analog der täglichen Hutwahl vollziehen lasse. Interessant an dieser alten Diskussion ist nun, dass sie letztlich auch zum Inhalt hat, was gegenwärtige Performance- und Performativitätsdebatten größtenteils ignorieren: Den wichtigen Hinweis auf den langen, holprigen Weg von der Performance (dem Aufprobieren eines wilden Hutes) zur angestrebten performativen Wirksamkeit (damit fortan auch unbehelligt vor die Tür gehen zu können).
Eine der prominenten Autorinnen, die sich um eine Verbindung zwischen beiden Phänomenen bemüht, ist die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte. Ebenfalls gerüstet mit der austinschen Theorie, widmet sie sich dem "performativ turn", den nicht alleine Theater und Performancekunst ab den 1960ern vollzogen, sondern der in allerlei Künsten und wissenschaftlichen Disziplinen seinen Niederschlag gefunden hat. Mit dieser Wende ist von ihr im Wesentlichen die jüngst so viel beschworene Bewegung von der Produktion von Werken zur Erzeugung von Ereignissen gemeint. In ihr vollzieht sich eine Emanzipation des Bühnen- und Performancegeschehens vom Text, d. h. von der geschriebenen Vorlage wie von jeder vorverfassten Regieanweisung, zugunsten einer Begegnung von Publikum und AkteurInnen, die sich allesamt in einer "Feedback-Schleife" aus wechselseitiger Aktion und Reaktion befinden und gemeinsam das nichtinszenierte, unkalkulierbare und damit ereignishafte Geschehnis hervorbringen. Im Unterscheid zu herbeiinszenierten Publikumspartizipationen - die beispielsweise Futuristen und Dadaisten bereits zur Jahrhundertwende einsetzten -, handelt es sich laut Fischer-Lichte bei den Ereignissen seit der performativen Wende um egalitäre und freiwillige Prozesse der Teilnahme. Die Befreiung der Körper vom Text entspricht dabei ihrer Entledigung von der darzustellenden Rolle, Verkörperung meint nicht länger die Repräsentation einer Figur, sondern zielt darauf ab, den individuellen DarstellerInnenkörper in den Mittelpunkt zu rücken.
Diese entscheidende Änderung des ZeichenstatusÂ’ bildet den Kern von Fischer-Lichtes Theorie. Das Ereignis zeichnet sich ihr zufolge vor allem durch eine Verschiebung von der Ordnung der Repräsentation zur Ordnung der Präsenz aus: Signifikant, Signifikat und Referent fallen in ihm zusammen. Fischer-Lichtes Austinrezeption ist demgemäß simpel: Sie gebraucht das Adjektiv "performativ" ausnahmslos im Sinne von "selbstreferentiell" bzw. "wirklichkeitskonstituierend." Das heißt, die ereignishafte Performance schafft für alle Beteiligten performativ eine neue Wirklichkeit, deren Bedeutung sich aus nichts anderem speist, als aus dem unmittelbar Vollzogenen. Dabei betont Fischer-Lichte nachdrücklich, dass es sich hierbei nicht um eine völlige Desemantisierung handelt, die Semiotik der Aufführung erschließt sich jedoch einzig und allein aus dem Aufgeführten selbst. Körper verwandeln sich dabei zurück in die nichtsignifizierte Materialität phänomenologischer Leiber, Gesten reduzieren ihre Beredsamkeit auf die Bewegung, die sie vollziehen. Von ihr zur Illustration dieses Phänomens immer wieder herangezogenes Beispiel ist Marina Abramoviæs Performance Lips of Thomas. Die Verwendung sakraler Symbolik, die Geschichte des fünfzackigen Sterns, den Abramoviæ sich im Verlauf der Aktion in den Bauch ritzt, ist für die Deutung des Ereignisses vollkommen irrelevant. Wesentlich ist stattdessen die Gegenwart erfahr- und eben nicht verstehbarer Materialität.
In gewisser Hinsicht mögen diese Ausführungen einige Ähnlichkeit mit Butlers Hoffnung auf ein "Jungfräulichwerden" einzelner Signifikanten haben. Auch Butler geht es um eine Analyse, die erklärt, wie und unter welchen Umständen Signifiziertes seiner tradierten Attribute entledigt und mit neuen versehen werden kann. Und neben den klassischen Beispielen "queer", "schwul" "schwarz" usw., die belegen, dass dies im Zuge affirmativer Selbstbezeichnungen mitunter auch klappt, hat es natürlich auch Butler insbesondere auf den Signifikanten Körper abgesehen. Allerdings widmet sie sich, anders als Fischer-Lichte, eben vor allem den Umständen - sprich: dem Kontext -, die solche Bedeutungsänderungen möglich werden lassen. Mit Rekurs auf Jacques Derrida kritisiert sie Austins Bemühen, konventionalisierte Bedingungen und einen identisch reproduzierbaren Kontext zu bestimmen, der Austin als Garant für das Glücken des Sprechakts gilt und der zugleich dessen Misslingen zu einer dem Zeichen rein äußerlichen Gefahr macht. Denn laut Derridas berühmten Diktum ist der Kontext "unsättigbar", da jedes Zeichen, schriftlich oder gesprochen, die Kraft zum Bruch mit seinem Kontext besitzen muss, um überhaupt als Zeichen funktionieren zu können. Und jeder dieser neuen Kontexte bringt unweigerlich neue Bedeutungen mit sich. Diese "Graphematizität" der Sprache, d. h. der Schriftcharakter, der allen Zeichen zukommt (Geschriebenes ist "wesensmäßig" ja dazu da, in einem anderen Kontext gelesen zu werden und die Intention des/der Schreibenden zu verleugnen), wird von Derrida nun aber gerade gegen eine Metaphysik der Präsenz verfochten. Und obwohl Fischer-Lichte den Gebrauch von Worten wie "Authentizität" und "Unmittelbarkeit" tunlichst vermeidet, legt alleine ihre enthusiastische Verwendung des Präsenzbegriffs nahe, ihren Ereignisbegriff dieser Tradition zu verdächtigen. Eine Tradition, die sich nicht alleine bei Fischer-Lichte anschickt, ein stilles, aber stetes Comeback zu feiern. Auch jenseits aller Eventkultur ist immer häufiger die Rede vom Kunstereignis. Immer häufiger sollen dort gegenwärtig Zeichen für die Zukunft gesetzt werden, die ihre Vergangenheit im Ereignisreichtum der Performance scheinbar mühelos abschütteln konnten. Dieser Ereignisbegriff, der die unschuldige Gegenwart seiner Ausdrucks- und Wirkungsformen gleich einem Deus ex machina herstellt, hat KritikerInnen bereits veranlasst, Ereignisphilosophie insgesamt als "theological turn" zu diskreditieren. Dabei geht es auch anders, in der Kunst wie im Leben.
Teilt man nämlich Butlers Wunsch nach einer Theorie, die das Zustandekommen befreiender Reinszenierungen erklärt, gilt es ihr zufolge dabei auch die scheinbar unerschütterliche Verbundenheit bestimmter Zeichen mit alten Kontexten zu berücksichtigen. In Hass spricht versucht sie deshalb einen Spagat zwischen Pierre Bourdieu und Derrida. Während Bourdieu das Privileg, performativ wirksam zu agieren, nur AkteurInnen mit entsprechender und bereits bestehender hegemonialer Position zuerkennt, folgt aus Butlers Derridalektüre unweigerliche Dekontextualiserung und damit auch Bedeutungsänderung und Selbstermächtigung - sozusagen jedes Mal, wenn jemand den Mund aufmacht. Da keine der beiden Positionen alleine also sowohl revolutionäre Differenz als auch bloße Redundanz erklären kann, plädiert Butler für den Mittelweg, übersieht dabei aber, dass der derridasche Ereignisbegriff durchaus beide Aspekte enthält. Das Ereignis mündet bei ihm nicht in reauratisierter Eindeutigkeit, sondern stellt eine Zäsur dar, die ein mögliches Ergebnis von unzähligen Varianten ist, das Verhältnis zwischen Wiederholung und Differenz neu zu verhandeln. Weit davon entfernt, jedes Mal einen ereignishaften Befreiungsschlag dort auszumachen, wo eine(r) sich in Performanzen übt, kommt das erlösende Wort bei Derrida auch nicht von oben, sondern ist das Ergebnis oft ganz profaner Bemühungen.
Auch Fischer-Lichtes Aufführungs- bzw. Ereignisbegriff beinhaltet eine Verunsicherung der Kategorien Kunst und sozialer Praxis. So ergibt sich ihr zufolge bspw. die Deutung von Abramoviæs Martyrium gerade daraus, dass ihre Selbstverletzungen nicht als ästhetischer Vorgang wahrgenommen wurden, die Anwesenden sich vielmehr als verantwortliche Subjekte in einer sozialen Situation empfanden und schließlich eingriffen. Die neue Wirklichkeit, die alle Beteiligten gemeinsam produzieren und erleben, hat also nicht alleine mit Kunst zu tun. Allerdings räumt Fischer-Lichte ein, dass die Probe auf die gesellschaftspolitische Relevanz dieser frischgebackenen Realitäten erst draußen gemacht wird, wenn die AkteurInnen auf die Straßen zurückkehren - ihren Hut nehmen und die Bühnen verlassen.

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "Performance, Performance", Sommer 2006.