Die Welt in Nairobi

Vom 20. bis 25. Jänner 2007 fand in der kenianischen Hauptstadt Nairobi das siebte Weltsozialforum (WSF) statt. Claudia Krieglsteiner war dort.

Das siebte Weltsozialforum. Schon. Keine ganz neuen Debatten mehr. Auch die Widersprüche und Probleme schon zuvor ausgesprochen, reflektiert, nicht zum ersten Mal Gegenstand der Diskussionen. Die Fragen der künftigen Entwicklung der Forumsbewegung drehen sich vor allem darum, ob sie sich, nachdem "sie es erfolgreich geschafft habe, im kollektiven Gedächtnis die Möglichkeit einer Alternative zur neoliberalen Globalisierung zu verankern, nun zur Schaffung eines neuen historischen Subjekts gelangen müsse, das neben der ArbeiterInnenklasse wie im 19. und 20. Jahrhundert, heute auch einen breiten Fächer sozialer AkteurInnen und Bewegungen einschließen müsse". (Samir Amin, Francois Houtart in "Le monde diplomatique" im Mai 2006 zur Vorbereitung des WSF in Nairobi). Die andere Position, die zum Teil sehr energisch vertreten wird, will das Forum als sozialen Raum verstehen, in dem Austausch oder allenfalls Verabredungen zu neuen Allianzen und Aktionen unter jenen Teilnehmenden stattfinden, die sich daran beteiligen und sich bewusst dafür entscheiden. Beide Positionierungen gibt es seit Beginn der Bewegung, beide haben gute Argumente und VertreterInnen und gegen beide lässt sich Berechtigtes einwenden. Vom sinnlosen sozialen Getratsche in einem internationalen Durchhaus wurde da schon einmal gesprochen und von der unsichtbaren Hand, die angeblich den freien Markt wie auch das Forum regeln solle. Und davon, dass einige Linke ihre alten und doch gründlich gescheiterten Vorstellungen von Vereinheitlichung und Disziplin wieder einer neuen Bewegung aufdrängen wollen.

Afrikanische Wirklichkeit.
Der Stellenwert dieser Debatten und Selbstreflexionen wird in meiner Wahrnehmung durch eine ganz neue Erfahrung relativiert: Die reale Verschränkung des Forums mit der afrikanischen Wirklichkeit. Sie beginnt für viele TeilnehmerInnen bereits am Flughafen, wo sie mit Transportproblemen in die Stadt konfrontiert sind und geht weiter mit der Erfahrung der Überbuchung des Hotels, in dem sie endlich doch angekommen sind. Sie können in Guesthouses am Rand der Stadt ausweichen, die aber nicht allen Vorstellungen der angereisten TeilnehmerInnen gerecht werden.
Die Verschränkung gelingt auch beim Forum selbst nicht überall: Gerade jene Foren, die den Prozess der Forumsbewegung selbst reflektieren, sind europäisch und US-amerikanisch geprägt, manche sogar ausschließlich von Weißen besucht.
Vielleicht macht das Unbehagen aufgrund dieses Umstands den Vorwurf der zu hohen TeilnehmerInnen-Gebühr, die den KenianerInnen abverlangt wird, so populär. Obwohl im Grunde alle, auch nicht mit feministischen Diskursen Vertraute, wissen, dass Zugangshürden nicht wesentlich aus dem Beitrag von sechs Euro, sondern aus einem dichten Wall von Hindernissen unterschiedlicher Art bestehen, bleibt diese Frage an allen Tagen des Forums wichtig. Sicher, der Betrag ist umgelegt so hoch, dass eine Slum-Familie damit für eine Woche Nahrung bekommen könnte - wenn es aber nur um den Beitrag gegangen wäre, hätte man auch vor Ort noch spontane Solidaritäts-Abgaben von europäischen TeilnehmerInnen sammeln können.
Dennoch, die Hälfte der ca. 60.000 TeilnehmerInnen sind AfrikanerInnen und die meisten natürlich aus Kenia. Obwohl sich so viele Menschen im Kasarani Moi Stadion an diesen Tagen durch Workshops, Konferenzen und Gespräche arbeiten, erkennt uns ein ganz junger Mann, dem wir im Hotel bei Mombasa begegnet sind, augenblicklich. Er sei zum ersten Mal auf so einer Veranstaltung, habe sich vom Trinkgeld, das er für das Fotografieren von TouristInnen aus dem Hotel bekommen habe, die Reise hierher leisten können und sei glücklich, so viele neue Menschen und Gedanken kennen zu lernen. Er strahlt eine solche Neugierde und Freude aus, die die Diskussionen über die innere Verfasstheit des Forums unendlich abstrakt erscheinen lassen.

Raum nehmen.
Die afrikanischen TeilnehmerInnen und Organisationen nehmen sich auch tatsächlich den Raum, den das Forum darstellt, für ihre Bedürfnisse und Belange: Die Debatten mit den meisten afrikanischen BesucherInnen handeln von sauberem Wasser, seiner Privatisierung und dem Kampf dagegen, von Land, das auch den Frauen gehören muss, vom Schuldendienst der afrikanischen Länder, den einseitig zu beenden jedenfalls gerechter ist, als ihn fortzusetzen. Der Raum rund um das Stadion, der die einzelnen Eingänge verbindet, gehört täglich mehr den HändlerInnen, die zum Teil um ihren Zugang ohne Teilnahme-Gebühr gerungen und ihn durchgesetzt haben.
Bereits bei der Eröffnungskundgebung im Uhura-Park fällt auf, dass für die Rede-Beiträge mehrheitlich Frauen eingeladen wurden; für die sozialen Bewegungen aus Südafrika, Palästina, Indien und für Via Campesina sprechen starke Frauen und finden klare Worte für die Situationen, in denen ihre Schwestern - und Brüder - leben müssen und wen sie dafür verantwortlich machen: die kapitalistischen Weltorganisationen, wie IWF (Internationaler Währungsfonds) und Weltbank und die Regierungen der USA und der europäischen Unionsstaaten. Diplomatischer, aber durchaus mit dem glaubwürdigen geschichtlichen Bezug zu den antikolonialen Kämpfen, spricht der ehemalige Präsident Sambias als prominentester Redner der Kundgebung.
So sind auch die Tage des siebten Weltsozialforums mit prominenten und berühmten TeilnehmerInnen - von Bischof Desmond Tutu über fünf NobelpreisträgerInnen aus verschiedenen Kontinenten bis zum Alternativ-Nobelpreisträger Chico Whitaker - doch nicht durch diese dominiert. In der unglaublich bunten Vielfalt - der inhaltlichen Diskussionen, der farbenprächtigen Verkaufsstände und der Herkunft der TeilnehmerInnen - haben sie ihren Platz, ohne wie Gurus zu wirken.

Die Slums von Nairobi.
Nachdem das Forum selbst schon beendet ist, treffen sich viele der TeilnehmerInnen in Korogocho zu einem mehrstündigen Marsch durch die Slums von Nairobi. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung der Hauptstadt lebt wenige Kilometer von Downtown Nairobi entfernt in den Elendsvierteln der Stadt.
Aber auch diese Wohnstätten sind (verhältnismäßig) teuer: Pro Raum, der ca. 2 x 3 Meter misst, werden 1.000 k Sh (kenianische Schilling), also ca. zwölf Euro, kassiert. Eigentümer dieser Baracken sind übrigens wohlhabende Kenianer, die diese illegal errichten.
Manche BewohnerInnen, die ein regelmäßiges Einkommen haben - zum Beispiel eine Nähmaschine besitzen, oder ein kleines Fleckchen Erde, auf dem sie Erdäpfel oder Spinat ziehen können - bewohnen zwei solcher Räume. Die meisten Slum-BewohnerInnen sind aber allein erziehende Mütter (gelegentlich auch Väter), die mit drei bis sieben Kindern in einem Raum leben und täglich Sorge haben müssen, ob es ihnen gelingt, zu einer Mahlzeit zu kommen. Die Mehrheit der Bevölkerung Kenias, nämlich sechzig Prozent, kann sich keine drei Mahlzeiten am Tag leisten.
Krankheiten, die vom "toten Wasser" kommen, sowie Fieber und AIDS, sind allgegenwärtige Begleiter der BewohnerInnen der Slums. Auch kommt eine sehr große Zahl der Kinder bereits mit dem HI-Virus infiziert zur Welt.
Und dennoch gibt es einen Alltag in diesen Vierteln, der gelebt und täglich neu organisiert wird. Und zu ihm gehört auch der Wunsch der meisten Mütter und Väter, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Zwar gibt es öffentliche Schulen, die im Gegensatz zu den privaten, die in allen Preisklassen existieren, keine Gebühren einheben, aber es sind Schuluniform, Schuhe, Bücher und Lernmaterialien zu kaufen. Viele Slum-BewohnerInnen versuchen auch, wieder in ihre ehemaligen Dörfer zurück zu kehren, weil sich ihre Träume vom Leben in der Stadt nicht erfüllt haben. Aber auch eine solche Übersiedlung und ein Neuanfang kosten Geld. Insbesondere afrikanische und europäische christliche Organisationen bieten den SlumbewohnerInnen Unterstützung, wenn es um den Schulbesuch der Kinder oder die Rücksiedlung in das ursprüngliche Dorf geht.
In einer der Familien, die wir besuchen, taucht die Frage auf, wann denn das Sozialforum wieder in Nairobi stattfinden werde. Wir müssen darauf antworten, dass noch nichts entschieden sei. Wahrscheinlich sei eine Rückkehr aber nicht. Die Antwort erzeugt völliges Unverständnis: "Ja, wie wollt ihr dann wissen, was ihr bewirkt habt?" Diese Reaktion zeigt uns ein letztes Mal während dieser Reise, dass die vielen Welten noch in vielfacher Weise zusammenwachsen müssen, um eine "andere Welt" zu schaffen.