Grüner Punkt und Rumpelmännchen

"Diese Müllmafia müßte man in der Jauchegrube ertränken", wettert mein Nachbar, als wir beim Plausch am Gartenzaun auf den Gelben Sack und den Grünen Punkt

zu sprechen kommen. "Müll trennen? Ich? Für diese Gauner?" Immerhin hört er zu, als ich beiläufig einwende, Mülltrennung und Rohstoff-Rückgewinnung seien doch für sich genommen sinnvoll und hätten übrigens früher, in der Deutschen Demokratischen Republik, einwandfrei funktioniert. Ein wenig Wissen über die DDR-Alltagskultur könne uns "Wessis" eigentlich nicht schaden ...

Die Comic-Figur "Rumpelmännchen", ein bärtiger Zwerg mit Wanderstab und prall gefülltem Müllsack über der Schulter, symbolisierte in der DDR das Kombinat Sekundärrohstofferfassung, Vereinigte Volkseigene Betriebe, kurz "die SERO". Sie verfügte über ein engmaschiges Netz tausender Annahmestellen, die für Altstoffe gut zahlten. Nach der "Wende" wurde das Kombinat abgeschafft. Bundesdeutscher Nachfolger der zweckgerichteten SERO wurde das profitorientierte Duale System Deutschland (DSD), bekannt als Grüner Punkt. Eigentümer ist die Gesellschaft für Abfallvermeidung und Sekundärrohstoffgewinnung mbH.

Das DSD benötigt zwar ebenfalls die Mitwirkung der Bürger, zahlt für deren getrenntes Müllsammeln aber keinen Cent. Hingegen dient es Wirtschaftskriminellen als Einfallstor. Eine Dokumentation über die finsteren Machenschaften rund um unsere Müllverwertung füllte zu Anfang dieses Jahres 45 Sendeminuten im Fernsehprogramm 3sat.

Nur zwei Drittel aller beitragspflichtigen Unternehmen zahlen Gebühren an das DSD. Der Rest entzieht sich trickreich der kostenträchtigen Rohstoff-Rückgewinnung. Das DSD-Symbol, der spiralförmig nach innen gedrehte Pfeil, ist nach einem Einspruch der EU-Wettbewerbsbehörde in Brüssel kein geschütztes Warenzeichen mehr und damit auch keine Garantie für Wiederverwertung. Die Schieberei mit Müll blüht, beispielsweise mittels "virtueller" - das heißt betrügerischer - Wiegescheine für Verpackungsabfall. Viel Altstoff wird an der Weiterverwertung vorbei zu Schwarzmarktpreisen als Brennmaterial verkauft oder, weil das immer noch billiger ist als die Verwertung, unter den Restmüll gemischt und verbrannt. Behörden und Gesetzgeber wissen von den krummen Touren. Aber nur wenige Sünder werden gefaßt. Sie zahlen lächerlich geringe Bußgelder.

"Liebe Leute, geb´n Se mir: Flaschen, Gläser, Altpapier", mit diesem Sprüchlein oder mit der Frage: "Ham Se Altstoffe?" zogen einst in der DDR Kinder von Tür zu Tür und sammelten Verwertbares. Bei den SERO-Annahmestellen konnten sie es abliefern und Entlohnung kassieren. Für Flaschen gab es bis zu 20 Pfennige, für Lebensmittelgläser bis zu 30 Pfennige. Textilien, Bettfedern, Plastik, Papier und Pappe brachten Kilopreise bis zu 50 Pfennigen. Altmetalle hatten besonders hohen Rückkaufwert: Aluminium 1,80 Mark je Kilo, Zink 1,60 Mark, Kupfer sogar 2,50 Mark.

Müllsammeln brachte nicht nur gutes Taschengeld für eifrige Kinder. Auch staatliche Organisationen - von den "Jungen Pionieren" bis zur "Volkssolidarität", von Schulklassen bis zu den Wohnbezirksausschüssen der "Nationalen Front" - beteiligten sich und spendeten die Sammeleinkünfte für inländische Projekte oder an die Kinderhilfswerke in Vietnam, Angola, Nicaragua.

Nicht alle SERO-Stellen gehörten dem Kombinat. Viele wurden privat betrieben, die Händler waren allerdings strikt an die Preisvorgaben gebunden. Sie mußten Planauflagen erfüllen und Mindestmengen an Wertstoffen liefern. Mein Freund Günter, der in Berlin eine solche Stelle bewirtschaftete, erzählt mir, er habe zum Beispiel für eine Tonne Zeitungspapier 300 Mark an die Einlieferer gezahlt und 400 Mark vom Kombinat dafür bekommen. Mit seiner Tätigkeit (Raumbereitstellung, Buchführung, Warenannahme, Abwiegen, Pfandauszahlung, Sortieren, Bündeln, Verpacken und Transport zum SERO-Kombinat) habe er monatlich rund 1000 Mark netto erzielt, ein gutes mittleres Einkommen.

Die Lebensmittelindustrie der DDR - so erfahre ich von Günter - habe die meisten Gläser wiederbefüllt, Flaschen sogar bis zu achtmal. Nahezu alle Verpackungen seien auf die eine oder andere Weise verwertet worden, von der Pappschachtel für Toilettenartikel bis zum Gurkenglas, von der Zahnpastatube bis zum Kronenkorken für Bierflaschen - und nicht nur, wie gegenwärtig unter dem Grünen Punkt, einige ausgewählte Arten von Verpackung.

Weil die DDR die Formenvielfalt begrenzte und nur wenige Verpackungsnormen zuließ, war eine sortenreine Erfassung der Altstoffe möglich. Sauber nach Farbe sortierter Glasbruch vom SERO-Kombinat war auch im kapitalistischen Westen begehrt und wurde lastwagenweise aufgekauft, zum Beispiel von den Glashütten im bayerischen Neugablonz - ein Devisenbringer.
Der Rohstoffkreislauf gelang in der DDR nicht nur, weil Rohstoffmangel herrschte. Die Sinnfälligkeit der sorgsamen Wiederverwertung überzeugte. Energie und Ressourcen wurden gespart, die Müllmengen begrenzt. Darüber hinaus half SERO, die Umwelt zu schonen. Erst nach der Selbstauflösung der DDR paßte sich deren Bevölkerung unserer verschwenderischen Wegwerfgesellschaft an. Die BRD führte zwar nach jahrelangem Polit-Kabarett ebenfalls ein Pfandwesen ein, aber nur für etliche Getränkeverpackungen. Das war kein Kurswechsel.

Anders als der Grüne Punkt lud die SERO nicht zu systematischen Betrügereien ein. Individuelle Profitwirtschaft zu Lasten der Gesellschaft war ausgeschlossen. Das Kombinat bot vielen Zigtausenden sinnvolle Arbeit und wirtschaftete äußerst effektiv. Weil es ein sozialistisches Unternehmen war, überlebte es die "Wende" nicht. Zwar durfte die Universität Kassel noch bis zum 31. März 1992 eine "Strukturanalyse des SERO-Systems der DDR" erarbeiten (für 305.000 Euro vom damaligen Bundesumweltminister Klaus Töpfer), allerdings thematisch eingeschränkt: "Effiziemz und Eignung unter marktwirtschaftlichen Bedingungen". Die Analyse verstaubt in der Universitätsbibliothek. Erst unsere zunehmend verschandelte, vergiftete und überheizte Umwelt und die steigenden Energie- und Rohstoffkosten werden uns wohl die funktionalen, wirtschaftlichen und ökologischen Vorteile einer staatlichen Abfallverwertung bewußt machen - von deren sozialen Vorzügen ganz zu schweigen.

Volker Bräutigams Beitrag ist der zweite Teil einer Serie, in der wir der Frage nachgehen, ob es nicht für das eine oder andere gesellschaftliche Problem, mit dem wir uns in der heutigen Bundesrepublik plagen, schon einmal Lösungsansätze gegeben hat und ob es nicht töricht wäre, sie nur deswegen zu ignorieren, weil es die DDR war, in der sie erdacht und - teilweise mit großem Erfolg - erprobt wurden. In Heft 5/07 referierte Ralph Hartmann Beispiele aus dem Bildungswesen. Weitere Beiträge sind in Vorbereitung.