Gegenwehr mit langem Atem

220 000 haben am 21. Oktober 2006 demonstriert. Das Ziel ist, dass wir durch die Kämpfe und durch mehr soziale Bündnisse auf der gesellschaftspolitischen Ebene stärker und durchsetzungsfähiger wer

Der Kampf gegen die Rente mit 67 ist zugleich ein Kampf für Erhalt und Weiterentwicklung eines aktiven Sozialstaates. Er soll den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus zivilisieren.

1. Machtvolle Demonstrationen

220 000 Menschen haben am 21. Oktober vergangenen Jahres gegen eine Politik der Großen Koalition demonstriert, die die Spaltung in der Gesellschaft vertieft. Gegen eine Politik, die den Versicherungskonzernen die Tür zu profitabler Privatisierung sozialer Risiken öffnet und die Zukunftsängste und Verunsicherung in weiten Teilen der Bevölkerung verstärkt. Sie haben gegen eine Politik demonstriert, die die Bedürfnisse der Mehrheit der Gesellschaft nach sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit missachtet. Diese 220 000 übertrafen die Erwartungen von vielen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern. Aber auch Vertreter von Sozialverbänden, globalisierungskritischen Bewegungen und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen waren überrascht. Ganz zu schweigen von der Betroffenheit der politischen Elite. Sie hatte einen Flop bei der Mobilisierung herbei gewünscht. Angesichts der großen Zahl von Demonstrantinnen und Demonstranten wollte sie den Erfolg und den Druck auf ihre Politik öffentlich nicht zur Kenntnis zu nehmen und schwieg. Diesen Demonstrationen folgten die Aktionen in Betrieben und Verwaltungen, die weitgehend zum Organisationsbereich der IG Metall gehörten. Während der Arbeitszeit beteiligten sich mehr als 300 000 Menschen. Ein erhoffter toller Erfolg.Auffällig war nicht nur die Teilnahme von Jung und Alt.Auffällig war auch das Engagement von Beschäftigtengruppen, die sonst in den Tarifbewegungen eher distanziert sind.

2. Erfolgreiche Aktionen waren kein Selbstläufer

Die Erfolge kamen nicht von selbst. Sie waren vielmehr Ergebnis engagierter Arbeit vor allem in den Gewerkschaften. Die meisten der Demonstranten wurden von ihnen mobilisiert. Viele Einschätzungen der Aktivisten machten deutlich: So schwierig war es schon lange nicht mehr. Warum? Zum einen fehlte anfangs der mobilisierende Kristallisationspunkt für eine politische Kampagne. Zu groß war die Vielzahl der Themen: Rente mit 67, Gesundheitsreform, Hartz IV, die ungerechte Steuerpolitik. Zu gering war die Ausrichtung auf den mobilisierenden Punkt. Zum anderen wurde die Mobilisierung dadurch erschwert, dass viele den Verdacht hegten, die Demonstrationen im Oktober seien erneut als ein einmaliges Ereignis angelegt, dem keine weiteren Aktivitäten folgen würden. Die größte Hürde war aber die Skepsis, auch mit Demonstrationen nichts erreichen zu können. Zu stark war die Erfahrung, dass sich die politische Klasse gegenüber den Forderungen der Mehrheit der Bevölkerung abschottet. Die will, anders als die Regierenden, eine solidarische Politik, die Zukunftsängste verringert und die Spaltung der Gesellschaft verhindert. Eine weitere Erschwernis war, dass die Gewerkschaften, die bei der Mobilisierung unterschiedlich erfolgreich waren, nur wenig Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Organisationen hatten. Trotz großem Engagement hatten diese Organisationen noch mehr Probleme mit der Mobilisierung ihrer Anhänger.

3. Gründe für den Erfolg

Die Gewerkschaftsbewegung, die sich in den vergangenen Jahren an den politischen Auseinandersetzungen mit eigenen Forderungen beteiligte, hat dabei einiges gelernt. Als im Frühjahr 2003 nur 90 000 Menschen gegen die Agenda 2010 demonstrierten, schien damit bereits die Schlussrunde der Proteste eingeläutet zu sein. Viele meinten, keine zugespitzte politische Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik führen zu können. Ein Bruch mit der SPD sollte nicht riskiert werden. Nach der weitgehend von Basisaktivist- Innen getragenen Demonstration im November 2003 in Berlin wurde der Protest mit dezentralen Kundgebungen im April 2004 neu organisiert. An ihnen beteiligten sich rund eine halbe Millionen Menschen. Es folgte innerhalb der Gewerkschaften, vor allem in der IG Metall, die Unterschriftenaktion für das Arbeitnehmerbegehren. Auf Straßen und Plätzen vor allem in den neuen Bundesländern wurde mit den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV protestiert. Aus dieser kurzen Protestgeschichte wurde gelernt: Erstens, dass der öffentliche Protest frühzeitig im Gesetzgebungsprozess organisiert werden muss. Zweitens, dass Kundgebungen kein einmaliges Ereignis sein dürfen. Sie müssen mobilisierender Auftakt und Zwischenetappe für längerfristig angelegte Aufklärungs- und Widerstandskampagnen sein. Nur so kann der Protest erfolgreich sein. Ein dritter Lernerfolg konnte im Herbst 2006 nicht praktisch umgesetzt werden: Die Bildung breiter sozialer Bündnisse, um Erkenntnisschneisen in das von den Massenmedien geförderte Einheitsdenken zu schlagen. So war der öffentlich sichtbare Protest von Sozialverbänden, Kirchen und sozialen Bewegungen im Vergleich zum Frühjahr 2004 eher verhalten. Eine Herausforderung für alle Seiten. Die Gewerkschaften müssen ihre Fühler in die Gesellschaft stärker ausfahren. Insbesondere mit Sozialverbänden könnte erhebliches politisches Potenzial aktiviert werden. Mit der bunten Vielfalt zivilgesellschaftlicher Verbände und Initiativen wäre zu diskutieren, wie so genannte Bewegungskonjunkturen mit phantasievollen Events und Aktionen jenseits von Großereignissen Auftrieb gegeben werden können. Eine Aufforderung, die auch an die Adresse der politischen Linken geht. Deren parlamentarisches Spielbein wird mitunter virtuos zum Einsatz gebracht, während das außerparlamentarische Standbein von Wadenkrämpfen gepeinigt ist. Die IG Metall konnte auf allen Ebenen ihre organisatorischen und agitatorischen Mittel nutzen, um zu mobilisieren. Das war und ist eine weitere Voraussetzung für den Erfolg. Dazu gehörte zunächst die Zuspitzung auf die Ablehnung der Rente mit 67. Als Alternative fordert die IG Metall eine als Bürgerversicherung konzipierte Rentenversicherung und eine Verlängerung der Altersteilzeit. Optionen zum Ausscheiden aus den Betrieben auch vor dem 65. Lebensjahr ohne Rentenabschläge sollten ermöglicht werden. Die anderen Themen wie Gesundheit oder Steuerreform bleiben aktuell, sind aber nicht der Kristallisationspunkt. Die Aktionen gingen einher mit einer massiven Argumentations- und Diskussionskampagne der IG Metall. Sie sollten das Thema in den Betrieben nicht nur am Kochen halten.Vielmehr werden die Argumente gegen die Rente mit 67 und für die eigenen Alternativen verstärkt. Die persönliche Betroffenheit von Jungen und Alten soll stärker wahrgenommen werden. Dabei steht im Mittelpunkt, dass der heutige Rentenzahlbetrag von 950 Euro (40 Beitragsjahre, Durchschnittseinkommen, Renteneintritt 60 Jahre) bis zum Jahr 2029 auf nur noch 750 Euro sinkt. Nach bereits geltendem Recht. Kommt die Rente mit 67, die maximal 0,5 Prozent Beitragspunkte spart, wären es nur noch 700 Euro monatlich. Bei der bisherigen Rentenpolitik und der Rente mit 67 zahlen die Beitragszahler drauf. Sie werden im Alter in großer Zahl unter die Armutsgrenze gedrückt. 2019 wird das Bruttorentenniveau (bei 45 Versicherungsjahren) bei 46,4 Prozent des Bruttoeinkommens liegen. 2005 lag es noch bei etwa 53 Prozent. Damit wird das System eines beitragsbezogenen Sozialstaates delegitimiert. Mehr noch: Es wird abgewickelt, wenn man sich die Konsequenzen der anstehenden Gesundheits- und Pflegereform vergegenwärtigt. Sie zielen ähnlich wie bei der Rentenversicherung auf eine Privatisierung sozialer Leistungen. Das Programm der Großen Koalition mündet in der Abwicklung der größten Fortschrittsleistung des 20. Jahrhunderts. Auch wurde im Verlauf der Kampagne stärker in den Vordergrund gerückt, dass bis 2029 etwa 1,2 bis 3 Millionen zusätzliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden müssten, damit die Rente mit 67 nicht zu mehr Arbeitslosigkeit führt. Viele wissen darüber hinaus, dass sie es angesichts der Arbeitsbedingungen im Betrieb gar nicht bis 67 schaffen können. Und bei über vier Millionen registrierten Arbeitslosen glaubt kaum jemand daran, dass es in Zukunft einen Arbeitskräftemangel gibt. Auch haben im Verlauf der Auseinandersetzung immer mehr Menschen erkannt, dass sich hinter der Rente mit 67 nicht nur weiterer Sozialabbau verbirgt. Selbst die Bild-Zeitung kam nicht umhin, tagelang zu verkünden, dass die bisherigen Veränderungen im Rentenrecht und die Rente mit 67 nicht nur Kürzungen sind, sondern dass damit die gesetzliche Rente tendenziell zerschlagen wird. Mehr und mehr wurde begriffen, dass die Politik damit einen Systemwechsel vollzieht: Der Anspruch auf eine annähernde Lebensstandartsicherung durch die gesetzliche Rente wird abgeschafft. An seine Stelle tritt eine nur noch minimale Grundsicherung durch die gesetzliche Rentenversicherung. Mit ihr wird Altersarmut nicht mehr verhindert. Das ist der Abschied von einem aktiven Sozialstaat, der den Kapitalismus sozial zivilisiert, der die von Kapitalismus produzierten Ungleichheiten bei den Einkommen, den gesundheitlichen Risiken und bei den unterschiedlichen Lebenschancen ausgleicht. Das ist der Abschied von einem Sozialstaat, der Armut verhindert und die Ausgrenzung von Menschen in der Gesellschaft vermeidet. Dabei ist es der aktive Sozialstaat, der den Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleistet und der damit ein Stützpfeiler der Demokratie ist. Dieser aktive Sozialstaat wird ersetzt durch den aktivierenden Sozialstaat. In ihm gibt es letztlich keine Rechtsansprüche mehr auf ausreichende Leistungen aus den sozialen Sicherungssystemen. An deren Stelle treten mehr und mehr Leistungen einer staatlichen Fürsorge. Sie sind so niedrig, dass sie Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Alter nicht mehr vollständig abdekken. Es soll damit Druck erzeugt werden, dass jeder privat seine Risiken absichert – zugunsten privater Versicherungskonzerne, die hier riesige Profitchancen sehen. Wer genügend Einkommen hat, mag sich das leisten können. Wer nicht, hat Pech gehabt. So die Denkweise der Systemveränderer. Die Leistungen des so genannten aktivierenden Sozialstaates berücksichtigen nicht mehr die unterschiedlichen Lebenslagen. Begünstigend für den Mobilisierungserfolg der gewerkschaftlichen Aktivitäten war auch, dass im Verlauf der Auseinandersetzungen die Skepsis, man könne mit gesellschaftlichem Engagement nichts erreichen, zurückgedrängt werden konnte. Dazu hat beigetragen, dass viele eine große Verunsicherung bei Abgeordneten in den Parteien gegenüber dem Projekt Rente mit 67 beobachten können – ein erster sichtbarer Erfolg. Dies belegt der Brief des SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck an den Ersten Vorsitzenden der IG Metall, Jürgen Peters. In ihm beschwert er sich über die Aktionen und vor allem über den Druck auf die örtlichen Abgeordneten. Hintergrund ist eine zum Teil sehr erfolgreiche Aktion der IG-Metall- Verwaltungsstellen. Sie war darauf gerichtet, örtliche Abgeordnete zu Veranstaltungen einzuladen, in denen Funktionäre und Mitglieder den Abgeordneten zu Realitätsbezug verhalfen. Teilweise geschah dies auch durch Einladung dieser Abgeordneten zu Arbeitseinsätzen in den Betrieben. Den Beteiligten fiel es gerade dort besonders schwer, die Rente mit 67 zu verteidigen. Von besonderer Bedeutung für den Erfolg ist, dass die Gewerkschaft deutlich gemacht hat, dass die Demonstrationen am 21. Oktober 2006 kein einmaliges Ereignis sind. Sie sind vielmehr Teil einer länger angelegten Kampagne zur Beeinflussung der Politik. Die betrieblichen Aktionen wurden nach den Herbstaktivitäten als eine weitere Aktion wahrgenommen, um die Rente mit 67 zu verhindern und sozialverträgliche Modelle für den Ausstieg aus dem Arbeitsleben zu schaffen. Soll diese Einschätzung nicht enttäuscht werden, dürfen die betrieblichen Aktionen nicht das Ende der Auseinandersetzungen sein. Und das sind sie auch nicht.

4. Wie geht es weiter?

Zunächst ist wichtig, das Thema Rente mit 67 und die gewerkschaftlichen Alternativen in der betrieblichen Diskussion zu halten. Vorgesehen ist, die Arbeitgeber stärker einzubeziehen. Sie sollen Stellung beziehen, ob sie in der Lage wären, bis 2012 (geplanter Beginn der Anhebung des Rentenalters) die Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen so zu gestalten, dass die Älteren länger arbeiten können. Und sie sollen erklären, ob sie zusätzlich 1,2 bis 3 Millionen Arbeitsplätze schaffen, um den Beschäftigungswirkungen der Rente mit 67 zu entsprechen. Nicht alle Verwaltungsstellen der IG Metall waren bei den betrieblichen Aktionen bisher erfolgreich. Das kann sich aber noch ändern. Vielleicht ergibt sich im Zusammenhang mit den von ver.di angekündigten betrieblichen Aktionstagen in den nächsten Wochen eine Möglichkeit zur Beteiligung. Selbst wenn am 9. März die Rente mit 67 Gesetz würde, wäre die Auseinandersetzung darüber nicht zu Ende. Bis 2009 ist Zeit für andere Regelungen, weil erst dann das Gesetz in Form der stufenweisen Anhebung des Rentenalters wirksam wird. Allerdings wird die Auseinandersetzung ausgeweitet werden müssen. Es wird stärker um die Grundsatzfrage gehen, nämlich wie der Systemwechsel des Sozialstaates verhindert oder rückgängig gemacht werden kann. Das ist nicht nur Tagesaufgabe, sondern eine Herausforderung für eine langfristige Strategie der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Es geht in dieser Auseinandersetzung um die Weiterentwicklung des Sozialstaates, um einen solidarischen Weg, der mehr soziale Sicherheit und Gerechtigkeit ermöglicht und die Spaltung in der Gesellschaft überwindet. Angesichts der Abschottung des politischen Systems werden wir deutlicher als bisher Formen direkter Demokratie (Volksbefragungen, Bürgerbegehren) verankern müssen, um über die Gestaltung der Zukunft mitentscheiden zu können. Das sind Überlegungen, die es den zivilgesellschaftlichen Organisationen möglich machen, sich stärker als bisher an den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen zu beteiligen. Daran werden alle arbeiten müssen. Denn die Zivilgesellschaft ist nur in Bündnissen stark. Das Ziel ist, dass wir alle durch die Auseinandersetzungen und durch mehr soziale Bündnisse auf der gesellschaftspolitischen Ebene stärker und durchsetzungsfähiger werden.

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