Straßenkunst, Etcétera

Aneignungen im Argentinien nach der Krise

"Unsere Arbeit versucht, sich in die Sprache des Systems einzuschleichen und dort kleine Brüche, Fehler, Veränderungen auszulösen, um Machtverhältnisse aufzudecken"

beschreibt Grupo de Arte Callejero (Straßenkunstgruppe) das Konzept einer "Aneignung des öffentlichen Raumes" des Kollektivs aus Buenos Aires. [1] Objekte dieser Aneignung sind vorrangig Werbungen, Verkehrszeichen und Hinweisschilder. So auch in einer Aktion Ende 2002: Bei einer Kundgebung nach der Ermordung zweier Piqueteros (Mitglieder der Arbeitslosenbewegungen) durch die Polizei im Rahmen einer Blockade des Puente Pueyrredón, einer wichtigen Verbindung zwischen der Provinz und der Stadt Buenos Aires, bringt GAC Schilder an den Lichtmasten eben dieser Brücke an. Die Schilder kopieren die Ästhetik von Gefahrenzeichen für den Straßenverkehr und zeigen einen Uniformierten mit Waffe. Unterschiedliche Bildausschnitte lassen über die Brücke hinweg einen Ablauf entstehen; je weiter man sich auf der Brücke bewegt, desto näher sieht man dem Polizisten ins Auge.

Die Ermordung von Kosteki und Santillán stellte einen Wendepunkt in der Entwicklung der Proteste nach der Krise 2001 dar. Waren nach dem Hegemonieriss [2] im Dezember 2001 die Blockaden der Arbeitslosenbewegungen medial als legitimer Protest konstruiert worden (im Gegensatz zur Kriminalisierung vor der Krise), ist die Berichterstattung über die Ereignisse am Puente Pueyrredón exemplarisch für einen beginnenden Stimmungsumschwung im Zuge der "Normalisierung der Krise". Die wichtigsten Tageszeitungen und Fernsehkanäle trugen zur Verbreitung der Idee bei, die Piqueteros hätten einander gegenseitig erschossen, obwohl Bildmaterial und Augenzeugenberichte dieser Version entgegenstanden, und legitimierten so die Repression der Proteste durch die provisorische Regierung von Duhalde. [3] Der ab 2003 amtierende Präsident Kirchner distanzierte sich zwar von den repressiven Ausschreitungen unter seinem Vorgänger, die Kriminalisierung verschob sich aber von der Straße auf die juristische Ebene. In Buenos Aires wurde schließlich die Reform des "Código Contravencional" durchgesetzt, die Protesthandlungen leichter juristisch verfolgbar macht und polizeiliches Vorgehen etwa aufgrund von "verdächtigem Aussehen" ermöglicht. [4]

Die Aktion Gente Armada des Kollektivs Etcétera fand 2003 statt, zu dem Zeitpunkt, als die Gesetzesreform diskutiert wurde und in den Medien die Differenz zwischen sozialem Protest und Verbrechen verhandelt wurde. Etcétera entstand wie GAC Aires Ende der 1990er in Buenos Aires; beide Gruppen arbeiten mit unterschiedlichen Bewegungen und Organisationen zusammen; etwa mit der Organisation H.I.J.O.S. in den Escraches gegen die Straffreiheit der Verbrecher der letzten Militärdiktatur oder mit den Arbeitslosenbewegungen. Beide sehen das Zentrum ihrer Aktivität auf der Straße, haben aber auch eine (konfliktreiche) Verbindung zum Kunstfeld.
Gente Armada - bewaffnete/konstruierte Leute - sind auf Lebensgröße aufgeblasene Fotokopien von Abbildungen aus Tageszeitungen und Zeitschriften, aufgezogen auf flache, hölzerne Silhouetten. Begleitet werden sie von einem Flugblatt, das in der Manier eines Zeitungsberichtes den Marsch der bewaffneten/konstruierten Leute auf das Stadtzentrum ankündigt. Der erste Blick auf die Figuren, die auf dem Hauptplatz von Buenos Aires aufgestellt wurden, lässt sie im Zusammenhang mit dem Flugblatt als überaffirmierende Aneignung des Mediendiskurses erscheinen, der die Proteste zunehmend als Bedrohung konstruiert. Die Konstellation der Bilder fügt sich in diesen Blick aber nicht ein: Neben der Figur des Piquetero steht die Silhouette einer Comicfigur, der Eternauta, der mit dem Widerstand gegen die Diktatur in Verbindung gebracht wird. [5] Aber auch ein klarer Kontrast zwischen KämpferInnen-Figuren aus Gegenwart und Geschichte und dem Bedrohungs-Diskurs des Flugblattes lässt sich nicht bis zu Ende denken. Dem stehen Figuren entgegen, die nur diffus mit Bedrohung assoziierbar sind. Das paradoxe Nebeneinander unterschiedlicher Realisierungen des Wortspiels Gente Armada lässt die BetrachterInnen auf die Bilder selbst zurückfallen: Was rechtfertigt eigentlich die Assoziation eines Bildes zu einer Idee von Bedrohung? Ist der Piquetero überhaupt ein Piquetero? Die Aneignung wird hier zur Entleerung der Bilder, sie werden jeder symbolischen Bedeutung beraubt.

In den Aktionen von Etcétera ist die Aneignung als Sammlung und Montage zu verstehen. Die Bilder werden dekontextualisiert, bleiben nur lose als Fragmente aus Zeitungen erkennbar, während bei GAC der ursprüngliche Ort der angeeigneten Zeichen bedeutend ist. Die Schilder und Plakate von GAC spielen mit einem Echtheitseffekt - der Bruch mit dem Original lässt die Gegeninformation hervortreten und thematisiert die angeeigneten Zeichen indexikalisch, in der Verbindung zu ihren Produzenten. Das Verkehrsschild wird durch die Aneignung zum Ort der Bedeutungsproduktion. Als "Aneignung von öffentlichem Raum" bringt die Aktion Konflikt in die staatlichen Zeichen im Stadtraum. Die antagonistische Situation zwischen Arbeitslosenorganisationen und staatlicher Ordnungsmacht wird nach dem konkreten Moment der Konfrontation auf der Brücke in den Zeichen der Stadt weiter geschrieben. Auch Gente Armada eignet sich "öffentliche" Zeichen an, Bilder aus der medialen Öffentlichkeit, in der Etcétera die Konstruktion des Bildes vom Piquetero als Bedrohung für die Sicherheit ortet - zu einer Zeit, in der ein Gesetz diskutiert wird, das nach Bildern operiert. Der Konflikt tritt aber in der Aktion in gänzlich anderer Weise auf. Die Aneignung führt zu keiner klaren Konfrontation. Die angeeigneten Bilder stehen nicht symbolisch für eine Seite des Konflikts, sie werden vielmehr selbst zum Anlass von Dissens.

[1] GAC: "Todo arte es político". In: Brumaria 5, Madrid 2005, S. 259. Übersetzung N.L.
[2] Geiger, Margot: "Die Reintegration der Revoltierenden in Argentinien". In: Das Argument 262 (4/2005), Berlin, S. 524.
[3] Viegas, Fabián: "Penar la protesta", 2005.
[4] Cristian Forte (Etcétera), Interview vom 12.8.2006.
[5] Giunta, Andrea: "Welcher Umgang ist möglich? Künstlerische Produktion und historisches Bewußtsein". In: NGBK (Hg.): Alltag und Vergessen. Argentinien 1976/2003, Berlin 2003, S. 5. Der Kampf des Eternauta gegen eine außerirdische Invasion wird als Vorwegnahme der Situation in der Diktatur gelesen. Einer der beiden Autoren, Hector G. Oesterheld, zählt zu den Verschwundenen der letzten Diktatur.

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "Aneignen", Sommer 2007.