Mechanismen und Techniken einer neuen Sozialkontrolle

Anmerkungen zu einem Ausschnitt gesellschaftlicher Transformationsprozesse

in (29.07.2007)
In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben tief greifende gesellschaftliche Transformationsprozesse stattgefunden. Diese manifestieren sich zum einen in einem grundlegenden wirtschaftlichen Wandel. Zum anderen gehen damit wesentliche Veränderungen des sozialen und kulturellen Lebens - vor allem in den Industriestaaten - einher, die zu einer sich verändernden Sozialstruktur führen. Dieser Wandel wirkt sich auch auf die Bedingungen aus, unter denen soziale Kontrolle ausgeübt wird, sowie auf die damit verfolgten Ziele.1 Im Folgenden soll nachgezeichnet werden, inwieweit sich vor diesem Hintergrund neue Mechanismen und Techniken sozialer Kontrolle herausbilden, wie diese klassifiziert werden können und wie sich diese Veränderungen in der Praxis darstellen. Die Krise der wohlfahrtsstaatlichen Behandlung sozialer Problemfelder, der partielle Wegfall des sozialstaatlichen Integrationsversprechens, die Ökonomisierung, Pluralisierung und Diversifizierung der gesellschaftlichen Lebenswelten und eine veränderte Sicherheitspolitik haben zu einem radikalen Strukturwandel im Bereich sozialer Kontrolle geführt. Diese gesellschaftlichen Veränderungen bedeuten zusammengenommen einen Rückzug der Strukturen, auf die sich Integration und Disziplinierung bislang gestützt hatten.2 Davon waren und sind sowohl die Institutionen der Fabrik, der Schule und der Anstalt betroffen, als auch der Arbeitsmarkt an sich und integrierende formelle und informelle soziale Strukturen. Soziale Kontrolle kann infolgedessen zunehmend weniger auf eine wohlfahrtsstaatliche Integration mittels Disziplinierung, Behandlung und Resozialisierung setzen. Sozialintegrative Strukturen im sozialen Nahraum büßen dadurch an Bedeutung ein. Insbesondere führt der Umbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates zu einem Ausschluss eines Teils der Bevölkerung aus der Erwerbsarbeit und der sozialen Absicherung.3 Gegenwärtige Sozialkontrolle muss diesen Schub sozialer Desintegration und Ausdifferenzierung auffangen und Sicherheitsstrategien zur Verfügung stellen, die gewährleisten, dass die von sozialer Teilhabe Ausgeschlossenen nicht zu einem unbeherrschbaren Risiko werden.4

Gesellschaftliche Transformationsprozesse

Zugleich wirken sich die beschriebenen soziokulturellen Veränderungen auch auf die Grundlagen und das Verhältnis von Sozial- und Systemintegration aus, d.h. auf die Integration des/der Einzelnen in die Gesellschaft im Verhältnis zum Zusammenhalt und Funktionieren der Gesellschaft insgesamt.5 Insbesondere die Vervielfältigung der sozialen und kulturellen Le­bensstile und die Individualisierung der Lebensweise führen dazu, dass sich die Individuen nicht mehr durchgängig an einem zentralen und alle gesellschaftlichen Bereiche umfassenden Normengefüge orientieren.6 Eine präzise Unterscheidung zwischen normal und anormal ist infolgedessen nur noch bedingt möglich,7 da über fundamentale moralische Grundsätze, die Grundlage eines jeden Normensystems sind, kein gesellschaftlicher Konsens mehr besteht. Gleichzeitig bieten technologische Entwicklungen neue Möglichkeiten der Überwachung und Kontrolle. Vor diesem Hintergrund führt eine sich etablierende Rationalität der Sicherheit zu einem grundlegend veränderten Bild vom Gegenstand, den Zielen und Zwecken sozialer Kontrolle. Diese setzt zunehmend weniger auf die Verantwortlichkeit und Disziplinierung von Individuen, sondern geht von einer Normalität von Abweichung aus. Infolgedessen rückt die Handhabung von Risikogruppen Hand in Hand mit einem repressiven Moralismus fundamentalistischer Prägung in den Vordergrund. Dabei gewinnen die Ideologie des Neoliberalismus und ein religiös-fundamentalistischer Konservatismus an Einfluss und prägen die sich herausbildende neue Formation sozialer Kontrolle.8 Dieser Wandel sozialer Kontrolle wird am Beispiel der Shopping Mall deutlich. Dort gilt trotz des Anscheins eines öffentlichen Raumes das private Hausrecht. Die in ihnen geltenden Hausregeln und der Grad und Umfang ihrer Durchsetzung variieren je nach Betreiberinteresse. Das Individuum steht daher vor der Aufgabe, sein Verhalten an wechselnden Anforderungen auszurichten. Neben ein Rumpfgerüst aus zentralen sozialen Normen, deren Beachtung durch vorwiegend staatliche Institutionen weitgehend durchgesetzt wird, treten situations- und kontextabhängige Wertprioritäten, die keinen umfassenden Gültigkeitsanspruch erheben. Der Maßstab dieser Verhaltensanforderungen besteht fast ausschließlich in der Absicherung der ökonomischen Interessen des Shopping-Mall-Betreibers. Für deren Sicherheitskonzepte spielen sowohl moralisch-rigide Vorstellungen über Zusammenhänge zwischen sozialer Gruppenzuge­hörigkeit oder äußerlicher Darstellung und der Bereitschaft zur Abweichung und Störung eine Rolle, als auch Ansätze eines reinen Risikomanagements.

Anpassung der Mechanismen sozialer Kontrolle

Infolge der so gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen, Grundlagen und Ziele sozialer Kontrolle unterliegen auch deren Mechanismen und Techniken einer Veränderung. Dies zeigt sich bereits im Aufkommen immer neuer Techniken der Überwachung und Registrierung, lässt sich aber auch bei weniger sichtbaren Mechanismen sozialer Kontrolle beobachten. So kommt es zur Herausbildung von Mechanismen, die das Individuum selbst "befähigen" sollen, sich gemäß den Anforderungen einer flexiblen und mobilen Lebenswelt konform zu verhalten. Diese werden ergänzt durch instrumentelle Kontrolltechniken, die unabhängig vom konkreten Individuum für die Sicherung einer sozialen Ordnung sorgen und sich nicht auf die Feststellung und Kontrolle von abweichendem Verhalten beschränken. Darüber hinaus erfahren Ausschlusstechniken als Mechanismen sozialer Kontrolle eine Renaissance, die als Entsprechung zu sich ausbreitenden Formen sozialer Ausschließung angesehen werden können. Die auf Resozialisierung und Behandlung des/der Delinquenten/in ausgerichtete Disziplinierung, wie sie für die wohlfahrtsstaatliche Sozialkontrolle paradigmatisch war, bleibt daneben teilweise erhalten.

Techniken und Prozesse der Selbstführung

Der mit der Individualisierung und Flexibilisierung der Lebenswelten einhergehende Bedeutungsrückgang bürgerlich-gesamtgesellschaftlicher Normen- und Wertsysteme, der mit dem Rückzug sozialer Strukturen verbundene Verlust an Kontrolle im sozialen Nahraum und die zunehmende Ökonomisierung des Sozialen im Rahmen einer kapitalistischen Globalisierung bedingen die Herausbildung von Selbstführungstechniken, durch die das Individuum ohne sichtbaren äußeren Zwang dazu angehalten wird, sich normkonform zu verhalten. Die konkrete Funktion von Selbstführungstechniken besteht dabei "lediglich" in der Anleitung zur Selbstregelung des eigenen Lebens und der eher subtilen und informellen Vermittlung der anzunehmenden Verhaltensstandards und ihrer Notwendigkeit. Diese Techniken zielen nicht auf die disziplinierende Vermittlung von Normen, sondern auf eine manipulative Lenkung, wobei die von jeder/m selbst vollzogene Einsicht in die von strukturellen Rahmenbedingungen hergestellte Notwendigkeit einen konkreten Zwang und eine obrigkeitsstaatliche Ordnungsproduktion entbehrlich macht.9 Das eigene Verhalten wird an antizipierte Standards angepasst, ohne dass es einer expliziten oder aktualisierten Drohkulisse bedarf. Eine deutliche Ausprägung von Selbstführungstechniken besteht im steigenden Zwang zur individuellen Abarbeitung komplizierter werdender Handlungsanforderungen zur Sicherung des eigenen Überlebens. Den Einzelnen stehen zwar mehr Freiräume offen; gleichzeitig wird ihnen aber ein hohes Maß an Flexibilität zugunsten wirtschaftlicher Verwertbarkeit abverlangt. Sie müssen zwischen verschiedenen Identitäten wechseln und sich auf wandelnde Situationen und Kontexte einstellen. Wer diesen Anforderungen nicht gerecht wird, ist von Ausgrenzung und Scheitern in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozessen bedroht. In Verbindung mit Autonomie, Entsolidarisierung und Verlagerung von Verantwortung auf den/die EinzelneN schreibt sich die marktwirtschaftliche Risikologik unmittelbar in das Handeln und Denken der Individuen ein.10 Wichtiges Mittel zur Führung und Kontrolle ist dabei der interne Wettbewerb, der zu einem ständigen Zwang zur Modulation des eigenen Lebens und einem Streben nach Optimierung der eigenen Verwertungschancen führt. Gerade im flexiblen Unternehmen, wo die Notwendigkeit der Leistungs- und Produktivitätssteigerung verinnerlicht ist, nutzt der Zwang zur Flexibilität einerseits die Angst vor dem sozialen Abstieg aus, wie er andererseits auch selbst neue Verunsicherung hervorruft.11 Selbstführungstechniken werden aber auch sichtbar in dem Zwang zum lebenslangen Lernen und dem ständigen Streben nach Optimierung der eigenen Verwertungschancen. Techniken der Selbstführung werden aber vor allem auf der Ebene des Alltags wirksam, wenn es darum geht, Verhaltens-, Konsum- und Kleidungskodizes zu antizipieren, die besondere Anforderungen an den/die EinzelneN stellen, da sie nicht mehr universell aufgestellt werden, sondern je nach Kontext enorm voneinander abweichen können.

Techniken instrumenteller Kontrolle

Ergänzt werden die Selbstführungstechniken durch Mechanismen instrumenteller Kontrolle.12 Dazu können zunächst die klassischen Strategien der Überwachung gezählt werden, die sich durch eine asymmetrische Beziehung zwischen zu Überwachenden und ÜberwacherInnen auszeichnen und damit einen hierarchischen Charakter aufweisen. Ihr Zweck besteht vor allem in der Feststellung von Abweichung und der Überführung des/der DelinquentIn. Darüber hinaus haben sich neue Kontrolltechniken herausgebildet, deren Wirkung unmittelbarer erfolgt und die direkt auf die Schaffung von Sicherheit im Sinne der (Wieder-)Herstellung von sozialer Ordnung abzielen.