Wo geht's denn hier zu den Veränderungen?

1. Wir leben in einer paradoxen Welt

- Rostock/Heiligendamm im Juni 2007: Zehntausende demonstrieren, blockieren und diskutieren. Zugehörig zu christlichen Gruppen, der globalisierungskritischen Bewegung, Gewerkschaften, linken Organisationen und Parteien, eint sie der Protest gegen eine Weltordnung, die von den Regierungschefs der G7/G8 repräsentiert wird. Kapitalismuskritische und antikapitalistische Positionen sind bei allen zu finden. Zur gleichen Zeit streiken über 20 000 Beschäftigte bei der Telekom. Sie wehren sich gegen die Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen und die mit der Ausgliederung verbundene existenzielle Unsicherheit.Auch dort finden kapitalismuskritische Positionen wachsende Resonanz. Zwei Beispiele,wie bei einer zunehmenden Zahl von Menschen die Einsicht zunimmt, dass die gesellschaftlichen Probleme nicht innerhalb und mit dem Kapitalismus lösbar sind.Die Ansprüche an eine andere Welt – gerecht, solidarisch, friedlich – sind vorhanden. Doch zugleich wird auch keine Möglichkeit gesehen, dieses kapitalistische System zu überwinden. Es scheint keinen Ausweg und keine realistische Alternative zu geben. Alles scheint blockiert zu sein. - Weil es im Kapitalismus keine Lösung der Probleme gibt,wächst die Notwendigkeit einer radikalen Kapitalismuskritik und die Suche nach grundsätzlichen Alternativen. Aber zugleich wächst die Dringlichkeit von sofortigen Reformen zur Verbesserung der Lebenssituation und der Erweiterung demokratischer Freiheiten sowie zur gesellschaftlichen Kontrolle der wissenschaftlich-technischen Entwicklung. Die rasante Entwicklung der Produktivkräfte und die voranschreitende Globalisierung bringen diese in immer stärkeren Konflikt mit ihrer kapitalistischen Hülle und verstärken so die Tendenz, den Kapitalismus zu sprengen; eine Voraussetzung für den Übergang zum Sozialismus. Doch zugleich rufen die destruktiven Tendenzen der Produktivkraftentwicklung immer größere Katastrophen hervor und gefährden sogar die Existenz der menschlichen Gattung. - Obwohl Globalisierung und neoliberale Umwälzungen dem Reformismus den ökonomischen Boden entzogen haben, erleben linksreformistische Positionen einen enormen Aufschwung und Zulauf.

2. Reformen und sozialistische Politik

Nahezu alle linken Kräfte treten unter verschiedenen Bezeichnungen für eine Politik progressiver Reformen als Alternative und zur Überwindung des Neoliberalismus ein; bezeichnet als „Politikwechsel“, als „neue soziale Idee“ oder als „Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt“. Trotz großer Gemeinsamkeiten in der Richtung und den Inhalten einer Reformpolitik werden doch die Zielstellungen einer Reformpolitik unterschiedlich beantwortet. Es gibt, z. T. auch abhängig von den Zielstellungen, unterschiedliche Antworten auf die Fragen, welche politischen Spielräume für Reformen im heutigen Kapitalismus vorhanden sind und welche Kräftekoalitionen für eine Reformpolitik gewonnen werden können. Grob skizziert lassen sich drei Positionen benennen: 1. über Reformen zum Sozialstaat der 70er Jahre zurückzukehren; 2. mittels Reformen den entfesselten globalen Kapitalismus zu bändigen und zu zivilisieren; 3. Reformen als Teil einer Strategie zur Öffnung eines Weges zum Sozialismus. Bei dieser letztgenannten Konzeption hängen Reformen mit dem Kampf um Hegemonie, dem Aufbau von Gegenmacht und der Gewinnung der Mehrheit für den Kampf um eine sozialistische Gesellschaft zusammen. Der Kampf um Reformen muss nicht nur zur Verbesserung der Lebenssituation großer Teile der Bevölkerung und der Erweiterung demokratischer Freiheiten beitragen, sondern auch zur Veränderung der Lebenseinstellungen, der Erwartungen und des Handelns breiter Massen. Denn mit dem Kampf um Veränderungen sollen sich auch die Handelnden verändern. Dementsprechend müssen Reformen auf die Veränderung der Verhältnisse zielen, aus denen die Interessen der Menschen erwachsen: auf die ökonomische Basis, den institutionellen Überbau und die Kultur. In einem langanhaltenden Kampf um strukturelle Reformen sollen die Macht des Kapitals und die Wirkung der Kapitallogik eingedämmt und schrittweise Positionen in der Gesellschaft und auch in Teilen des Staates von den progressiven Kräften besetzt werden. Dieser Kampf verläuft immer noch innerhalb des Kapitalismus, geht aber von der Marxschen Erkenntnis aus, dass der Kapitalismus sich mit Krisen und Brüchen entwickelt. In diesen Krisen und Umbruchphasen eröffnen sich Möglichkeiten revolutionärer gesellschaftlicher Umwälzungen. Diese Möglichkeit kann jedoch nur in dem Maße zur Realität werden, wie eine organisierte gesellschaftliche und politische Kraft existiert, die bewusst diese Möglichkeit nutzt. Mit dem Kampf um Reformen erarbeiten sich die fortschrittlichen Kräfte politische Handlungsfähigkeit und bereiten sich auf die „Möglichkeit“ vor. In dieser Konzeption sollen mit Reformen die progressiven Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung befördert werden. Den Kapitalismus zeichnet die „fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände“ aus. „Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können.“ Diese Beschreibung der Existenzbedingung des Kapitalismus durch Marx im Manifest wird uns gegenwärtig durch die mit dem neoliberalen, globalen Kapitalismus verbundenen gesellschaftlichen Umwälzungen anschaulich vor Augen geführt. So naheliegend es ist, in diesen Umbruchzeiten das Alte, vermeintlich „Sichere“ retten zu wollen, so sollen fortschrittliche Reformen doch nicht zur Aufrechterhaltung des Alten dienen, sondern für das Neue vorbereiten. Es gilt, in den durch den Neoliberalismus hervorgerufenen Zersetzungen des Alten – wie z. B. der Arbeitsbeziehungen, Traditionen, Sitten, Geschlechterverhältnisse, kurz, der gesamten Arbeitsund Lebensweise, aber auch in der Zersetzung der arbeitenden Klasse und ihrer Neuzusammensetzung – die Ansatzpunkte für progressive Veränderungen zu suchen. Dies setzt eine genaue Analyse der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise voraus.Ohne einen zeitgemäßen Marxismus lässt sich diese Aufgabe nicht lösen.

3. Reformen im globalen Kapitalismus

- Der Kampf um Reformen muss in einer radikal veränderten Welt geführt werden: - der Realsozialismus ist verschwunden, - der Kapitalismus hat sich konkurrenzlos über den Globus ausgebreitet, - der „permanente Krieg“ wurde zum Normalzustand, um die gegenwärtige imperialistische Weltordnung aufrechtzuerhalten, - die traditionelle Arbeiterbewegung als gewerkschaftliche, kulturelle und politische Bewegung existiert nicht mehr. Bei der Frage nach Reformen im globalen Kapitalismus zeigen uns die Erfahrungen der zurückliegenden Jahre, dass es nicht mehr gelungen ist, progressive Reformen durchzusetzen, dass das Handeln und die Aktivitäten der sozialen Bewegungen ohne sichtbare Wirkungen für die politischen Entscheidungen der Herrschenden geblieben sind. - Trotz einer weltweiten Bewegung gegen den Krieg, wurde der Krieg gegen den Irak geführt.Die nächsten Kriege werden vorbereitet. - Im deutschen Bundestag entscheiden zwei Drittel der Abgeordneten in allen wichtigen Fragen gegen den Willen von zwei Dritteln der Bevölkerung. - Trotz großer Mobilisierungen in verschiedenen Ländern Europas zur Verteidigung sozialer Rechte und der Arbeitsrechte, gegen Privatisierung öffentlichen Eigentums und der sozialen Sicherungssysteme, gegen die Deregulierung der Arbeitsmärkte wurden die meisten Kämpfe verloren. Im besten Fall konnte das Tempo der neoliberalen Umstrukturierung verringert werden. Selbst Erfolge wie die Ablehnung der EU-Verfassung durch die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden oder die Abwehr der EURichtlinie zur Deregulierung der Hafenarbeit geben nur eine Atempause. - In Deutschland hat die IGM im Jahr 2003 mit dem Kampf um die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland erstmals in 50 Jahren einen Streik verloren.Das war der Auftakt, zu einem Angriff auf ganzer Linie, die 35-StundenWoche zurückzurollen, die Arbeitszeit total zu flexibilisieren und die Löhne zu senken. Mit der Niederlage von ver.di im Kampf gegen die Ausgliederungspläne der Telekom wurde den Gewerkschaften eine strategische Niederlage beigebracht. - Obwohl heute die Arbeitsproduktivität so stark wie nie zunimmt, wird der dadurch erzeugte Überschuss an gesellschaftlichem Reichtum dem Mechanismus der Umverteilung entzogen. Die globalen Renditevorgaben durch die Finanzmärkte und die Orientierung auf den Weltmarkt bewirken, dass das transnationale Kapital jede Investition in die Gesellschaft bekämpft, weil sie als inakzeptabler Entzug von Ressourcen betrachtet wird, die für den Überlebenskampf auf dem Weltmarkt benötigt werden. Auf diese Weise wächst die Kluft zwischen Arm und Reich und es wird unaufhörlich die gigantische Masse des auf dem Globus anlagesuchenden Kapitals gespeist. Die alte Weisheit des fordistischen Zeitalters, dass Autos keine Autos kaufen, hat für die hierzulande dominierenden Konzerne und die politikbestimmenden Wirtschaftseliten jeden Wert verloren. Für die Konzerne ist der Produktionsstandort zum ausschließlichen Kostenfaktor geworden. Je erfolgreicher man diese zu minimieren versteht, desto höher die Chance, auf anderen Märkten andere Konkurrenten niederzuzwingen, um so selbst dort zu wachsen, wo die Nachfrage stagniert. So ist die wachsende und sich verfestigende Armut und die Vermarktlichung / Flexibilisierung der Arbeitskraft ein struktureller und funktioneller Bestandteil dieses auf den Weltmarkt gerichteten Modells. Diese Entwicklungen führen zu der Schlussfolgerung, dass die Logik bzw. Regulationsweise des heutigen, globalen Kapitalismus inkompatibel ist mit sozialen und demokratischen Zugeständnissen und Reformen.

Vom Sozialstaatskompromiss …

Natürlich mussten soziale Rechte, kürzere Arbeitszeiten, höhere Löhne, etc. immer – zum Teil über durchaus auch harte Verteilungskonflikte – gegen die Unternehmer erkämpft werden. Aber wenn sie erkämpft waren, dann konnten sie in das Regulierungsmodell bzw. in die Logik des Nachkriegskapitalismus eingebaut werden. Und sie waren damit in den folgenden Auseinandersetzungen der Ausgangspunkt für weitere Verbesserungen.Denn diese Verbesserungen und Reformen waren Bestandteil des Regulationsmodells des Kapitalismus der Nachkriegszeit. Die sozialstaatliche Regulierung hatte nämlich nicht nur einen sozialpolitischen Aspekt (Absicherung in Notfällen), sondern durchaus auch eine ökonomische Funktion: die Erhöhung der Reallöhne im Maße des Produktivitätsfortschritts und die Sicherung der Masseneinkommen auch in konjunkturellen Schwächeperioden, bei Krankheit und im Alter förderte und stabilisierte die Nachfrage und damit die stark vom Binnenmarkt abhängige Kapitalverwertung. Basierend auf dynamischem Wirtschaftswachstum, stärkerer Binnenmarktorientierung, einem staatlichen Sektor und staatlicher sozialer Regulierung bestand ein Zusammenhang zwischen Produktivitätsfortschritt und sozialem Fortschritt. Dieser Zusammenhang entstand nicht im Selbstlauf, sondern wurde durchgesetzt und vermittelt durch den gewerkschaftlichen Kampf und nicht zuletzt durch die Systemkonkurrenz mit den sozialistischen Ländern. Die Gewerkschaftsbewegung konnte bedeutende soziale Errungenschaften und Zugeständnisse von Seiten des Kapitals erkämpfen; immer mit einem Kampf und einer politischen Orientierung innerhalb des kapitalistischen Systems. Ein ganzes Geflecht von Tarifvertragssystem, Sozialsystemen, Sozialgesetzgebung, Betriebsverfassungsgesetz, etc. wurde zur institutionellen Absicherung dieses Klassenkompromisses und zur Entschärfung von Klassenkonflikten entwickelt. Der Klassenkompromiss basierte auf einer Logik, bei der es im Kern um die Förderung des Industriestandortes Deutschland (der inländischen Möglichkeiten der Profitproduktion) ging und Auslandsinvestitionen für die Gewinnung neuer Märkte und Absatzchancen getätigt wurden. Der darauf aufbauende Export förderte unter dem Strich die Schaffung von industriellen Arbeitsplätzen. Dies stärkte den Einfluss der Gewerkschaften. Die Zollschranken waren höher als heute, damit waren den Exporten Grenzen gesetzt. Der Kapitalverkehr war stärker reglementiert, daher war die Fähigkeit eines Staates, die Auslandsinvestition mit wirtschaftspolitisch sinnvollen Auflagen hinsichtlich Beschäftigung und Wachstum zu verknüpfen, deutlich höher als heute. Die Freiheit des Warenverkehrs war wegen viel höherer Transportund Kommunikationskosten real viel begrenzter als sie es heute ist.Damals konnten die Beschäftigten in den Industrieländern weit weniger mit einer Verlagerungsoption bedroht werden. Aber es war eben eine ganz bestimmte historische Konstellation – geprägt von den inneren ökonomischen Bedingungen wie auch den äußeren der Systemkonkurrenz –, auf deren Basis der sozialstaatliche Klassenkompromiss möglich war. Beide Aspekte treffen heute nicht mehr zu.

… zur sozialen Konfrontation

Die Zeit der Systemkonkurrenz war nicht nur eine zeitweilige Unterbrechung des Austragens zwischenimperialistischer Widersprüche mit militärischen Mitteln. Unter dem Druck der Systemkonkurrenz und in ihrem Schatten vollzog sich ein globaler Strukturwandel. Es bildeten sich Strukturen eines transnationalen Kapitalismus heraus, dessen Kern die transnationalen Konzerne und Finanzgruppen bilden. Mit der Entwicklung des Weltmarktes zum einheitlichen Feld der kapitalistischen Konkurrenz, mit der Herausbildung Transnationaler Konzerne als strukturbestimmendes Kapitalverhältnis (die Multis bestimmen weltweit die Bedingungen von Produktion, Handel, Investitionen, Technologie, Konsumgewohnheiten,…),mit dem Wirken von globalen Renditevorgaben und mit dem Primat globaler Wettbewerbsfähigkeit zerbricht dieser frühere Zusammenhang zwischen Produktivitätsfortschritt und sozialem Fortschritt. Mit dem Wegfall der Systemkonkurrenz entfällt auch die politische Notwendigkeit für Zugeständnisse. Die Logik bzw. Regulationsweise des heutigen, globalen Kapitalismus ist inkompatibel mit sozialen und demokratischen Zugeständnissen und Reformen. Jeder Cent, jede Minute Arbeitszeitverkürzung muss nicht nur gegen die Unternehmer, sondern auch gegen die „Logik“ des globalen Kapitalismus durchgesetzt werden. Soziale Kompromisse widersprechen einer Logik, die auf Profitmaximierung durch globale Kostensenkung zielt und dabei auch die Zerstörung des industriellen Standortes Deutschland tendenziell in Kauf nimmt. Das heißt nicht, dass dem Kapital keine Zugeständnisse mehr abgerungen und in dem einen oder anderen Fall nicht soziale Zugeständnisse erkämpft werden könnten. Das ist tatsächlich eine Frage des Kräfteverhältnisses. Aber diese Zugeständnisse sind dem Modell des heutigen Kapitalismus wesensfremd. Sie werden nicht mehr integriert in die Regulationsweise des globalen Kapitalismus. Sie sind ein Fremdkörper, der so schnell als möglich wieder abgestoßen wird. Deshalb sind erkämpfte Zugeständnisse und Errungenschaften nicht mehr Ausgangsbasis für weitere Kämpfe, sondern sofort ständigen Angriffen des Kapitals ausgesetzt; das Rollback ist das Bestimmende für den neoliberalen Kapitalismus.

Ökonomie und Politik

Nach dem Grundsatz, dass eine bestimmte Ökonomie eine bestimmte Politik bedingt – und das eine jeweils die Existenzbedingung des anderen ist –, bedingen globaler Kapitalismus und Neoliberalismus einander.Wobei die politische Herrschaft auf ökonomischer Herrschaft beruht und dieser entspringt. Beim Neoliberalismus handelt es sich eben nicht um eine von den Herrschenden bevorzugte Politik, die man je nach politischer Konjunktur wählen oder abwählen kann, sondern um eine innere Notwendigkeit des globalen Kapitalismus in der heutigen Zeit. Es kann auch keine stabile „Koexistenz“ zwischen der neoliberalen Logik der globalen Wettbewerbsfähigkeit einerseits und sozialstaatlichen Maßstäben in der Politik andererseits geben. Der Widerspruch zwischen beiden Ebenen wird zugunsten der Herrschaftsstruktur der Ökonomie gelöst.Wenn es nicht gelingt, eben dort – also in den Eigentumsverhältnissen – zu substanziellen Reformen zu kommen, dann, so ist zu schlussfolgern, wird die Logik der Ökonomie die Entsprechung in Politik und Gesellschaft erzwingen. Staatliche Politik hat unter diesen Bedingungen die Aufgabe, den Standort für den internationalen Vorteilsvergleich des transnationalen Kapitals attraktiv zu machen – durch Flexibilisierung und Senkung der Kosten der Arbeitskraft, Schwächung der Gewerkschaften, Reduzierung der steuerlichen Belastung und ökologischer Auflagen etc. Selbstverständlich sind Varianten möglich; zwar nicht beliebig, aber in historisch bestimmten Bandbreiten; abhängig vom Klassenkampf, aber auch von der Orientierung der herrschenden Klasse im Blickwinkel internationaler Konkurrenz und Rivalität. Wenn allerdings keynesianische Reformer die darauf beruhende „relative Selbstständigkeit“ von Staat und Gesellschaft gegenüber der ökonomischen Struktur und auf dieser Basis die Kombination von kapitalistischer Wirtschaft und sozial gestalteter Gesellschaft behaupten, rücken sie das eigentliche Kernproblem jeder sozialistischen Strategie aus dem Blickfeld: dass alternative Reformen nur im Kampf gegen das transnationale Kapital durchgesetzt werden können und Eingriffe in die ökonomische Struktur, in die Eigentumsverhältnisse einschließen müssen. Zu berücksichtigen ist zudem, dass es sich beim neoliberalen gesellschaftlichen Block von Beginn an um einen transnationalen Block handelt, der die transnationalen Strukturen und Institutionen gezielt zur Umwälzung der nationalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen einsetzt. Mit dem Aufbau und der Ausdehnung supranationaler Regulierungsinstitutionen (staatlicher wie IWF, WB, WTO, G7, NATO, EU, .. sowie transnationaler Nichtregierungsorganisationen wie European Round Table of Industrialists ERT, Transatlantic Business Dialogue, Internationale Handelskammer etc. und v. a. durch die Macht der Multis und der Finanzmärkte), wird die neoliberale Strukturpolitik gegenüber den Staaten durchgesetzt und die neoliberale Hegemonie auf einer transnationalen Ebene gesichert; auch gegenüber Staaten, die mit dem Neoliberalismus brechen wollen. Des Weiteren gibt es – und das hängt damit zusammen – für eine reformorientierte Politik oder einen „neuen Gesellschaftsvertrag“ – im Unterschied z. B. zum New Deal oder zur Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – keine Unterstützung durch relevante Kapitalinteressen, die mehr zu Binnenmarkt, Staatsinterventionismus und sozialer Regulierung tendieren würden. Es existiert eine weltweite Hegemonie des transnationalen Finanzkapitals, das keinen Schritt hinter die durchgesetzte Liberalisierung und Globalisierung der Finanzmärkte und der Weltwirtschaft zurück will; das darauf drängt, alle Hemmnisse und Barrieren für die weltweite freie Zirkulation des Kapitals zu beseitigen. Und das bereit ist, für die Erreichung dieser Ziele skrupellos alle Mittel einzusetzen – von wachsendem Zwang und Repression im Inneren bis zum permanenten Krieg und einem neuen Kolonialismus nach außen. Das Dilemma alternativer Reformpolitik zeigt sich beispielhaft an der Position von Michael Brie, einem Theoretiker der PDS und der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Einerseits schätzt er ein, dass es keine „anhaltende Balance“ zwischen Kapitalverwertungsinteressen und den Interessen der Gesellschaft geben kann. Ihm ist auch klar, dass im Neoliberalismus „anders als im fordistischen wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus eine sozialdemokratische Strategie auf stärkste systemimmanente Grenzen (stößt)“ (Michael Brie, Die Linke – was kann sie wollen?, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 3/2006, S. 39). Dennoch ist er der Meinung, dass „der Spielraum für Versuche einer solchen Balance noch nicht erschöpft (ist)“. Diesen Spielraum will er mit Hilfe einer sozialdemokratischen Reformpolitik ausnutzen, der auch nach seiner Definition nicht an einer Überwindung der herrschenden Eigentumsund Machtverhältnisse gelegen ist. Aber er geht davon aus, dass man die neoliberale ökonomische Struktur der Wirtschaft mit Hilfe einer sozialdemokratischen Regulation bremsen und zähmen, es also eine längerfristige Koexistenz von neoliberaler Wirtschaft und sozialerer Gesellschaft geben könne. Die Linke könne dann, nach dieser These, in dieser Phase die Kräfte zur Überwindung des Neoliberalismus sammeln. Aber es kann nicht von Balance die Rede sein, sondern von Konflikt in einem „Nullsummenspiel“. Was das neoliberale Kapital gewinnt, verlieren die ihm heute ausgelieferten Menschen. Und umgekehrt. Angesichts der Tiefe der Widersprüche, der durch die neoliberale Globalisierung hervorgerufenen Zerstörungen und der Interessen der den neoliberalen Block dominierenden Kräfte ist ein „sozial abgefederter Neoliberalismus“ keine Alternative. Der neoliberale Block – und dazu gehört auch die Sozialdemokratie – drängt auf eine Radikalisierung des neoliberalen Umbaus, der zwangsläufig mit dem Übergang zu Zwang und autoritären Mitteln und Strukturen verbunden ist. Die systemimmanenten Spielräume für demokratische und soziale Reformen sind weitgehend erschöpft. Der Philosoph Ralf Dahrendorf beschreibt die Situation folgendermaßen: „Es gibt Zeiten, in denen soziale Konflikte und ihre wissenschaftliche Erörterung einen fundamentalen oder konstitutionellen Charakter annehmen. Das war im 18. Jahrhundert der Fall … es gilt am Ende des 20. Jahrhunderts wieder. In solchen Zeiten stehen die Spielregeln von Herrschaft und Gesellschaft selbst zur Diskussion.“ (nach PDS Pressedienst, Nr. 20/2005, S. 12)

Reform und Systemfrage

Bedeutet dies nun aber, dass wir den Kampf um Reformen – für Vollbeschäftigung, soziale Sicherung,Mitbestimmung … – aufgeben, weil diese ohnehin nicht durchzusetzen seien? Ganz im Gegenteil! Trotz jahrzehntelanger neoliberaler Propaganda und neoliberaler Umwälzung hat der Sozialstaat bei der Mehrheit der Menschen immer noch einen sehr hohen Stellenwert.Mit dem Kampf um Reformen kann an diesem Massenbewusstsein und an den von der Sozialdemokratie geprägten Vorstellungen angeknüpft werden.Es geht dann aber darum, nach Wegen zu suchen, wie dieses reformistische Bewusstsein in antikapitalistisches Bewusstsein transformiert werden kann. Zum anderen nehmen soziale Konflikte und der Kampf um Reformen im heutigen Kapitalismus einen so fundamentalen Charakter an, dass soziale und demokratische Reformen enger mit der Notwendigkeit grundlegender struktureller, antimonopolistischer Umgestaltungen und einer tiefgreifenden Demokratisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verbunden sind. Das heißt aber auch, dass in alle Forderungen und Kämpfe um Reformen der Grundgedanke des „Systembruchs“, die Notwendigkeit einer sozialistischen Umwälzung der bestehenden Eigentumsund Machtverhältnisse zu tragen ist.Der spezifische Beitrag der Marxisten ist, die Kämpfe um Reformen auf einen revolutionären Prozess zur Überwindung des Kapitalismus auszurichten: Kampf nicht gegen die Folgen, sondern gegen die Wurzeln der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Die Aufgabe der DKP und der anderen marxistischen Kräfte liegt denn auch weniger darin, „radikalere und weitergehende Forderungen“ als die anderen Teile der gesellschaftlichen und politischen Linken zu stellen, sondern in der Erarbeitung politischer Strategien zur Durchsetzung des Reformprogramms und der Förderung der notwendigen Kämpfe. Dabei steht der außerparlamentarische Kampf und die Stärkung der Organisiertheit der Arbeiterbewegung und der sozialen Bewegungen im Zentrum. In diesen Auseinandersetzungen muss die marxistische Linke zu der Erkenntnis beitragen, dass ein Politikwechsel ohne Eingriffe in die monopolistischen Eigentumsund Verfügungsrechte nicht zu haben ist, und dass der Kapitalismus überwunden werden muss, weil er keines der Probleme der arbeitenden Menschen lösen kann und zum Hemmnis der Entwicklung der Menschheit geworden ist. Wer Reformen dieser Art durchsetzen will, muss sich darüber im Klaren sein, dass damit erstens die Bundesrepublik aus dem Verbund des globalen Kapitalismus herausgelöst würde und dass zweitens dieses Herauslösen nicht stattfinden kann, ohne dass bestehende internationale Regularien und Abhängigkeiten geändert werden. Eine sozialistische Reformpolitik steht also vor der Aufgabe, im internationalen Bereich auf Kontrollen zu dringen, die den Durchgriff des transnationalen Kapitals auf die nationale Wirtschaft eindämmen und gleichzeitig die Ausstiegsoption – Kapitalflucht, Standortund Arbeitsplatzverlagerung, Währungsspekulation etc. – verlegen. Dies dürfte gerade in einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland eine riesige Herausforderung werden. Unter den großen Industrieländern weist die deutsche Wirtschaft den größten „Offenheitsgrad“ auf. Export und Import von Waren und Dienstleistungen betragen 75 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukt. Die Verflechtung mit dem globalen Finanzmarkt geht noch darüber hinaus. Im Jahr 2004 beliefen sich die Wertpapiertransaktionen Deutschlands mit dem Ausland auf über 12 000 Mrd.Euro, das Sechsfache des BIP. (siehe isw-Report Nr. 66, S. 49). Aber es ist nicht nur die Internationalisierung von Handel und Finanzen.Gerade die Meldungen der letzten Wochen machen schlaglichtartig deutlich, wie die Konzerne die Transnationalisierung der Produktion, d. h. den Ausbau globaler Entwicklungsund Produktionsnetzwerke vorantreiben. Hand in Hand damit geht die Internationalisierung der Eigentumsverhältnisse. „Adieu Deutschland, der DAX haut ab“, überschrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (18.1.2006) ihre Untersuchung über die großen, im Deutschen Aktienindex notierten Unternehmen. Bei 20 Unternehmen liegen mehr als 40 Prozent des Aktienkapitals in ausländischer Hand; mit zwei Ausnahmen liegt der Auslandsumsatz über 50 Prozent, bei mehr als der Hälfte sogar über 70 Prozent; bei nahezu allen ist mehr als die Hälfte der Belegschaft im Ausland beschäftigt. Damit ist auch zweierlei klar.Weil diese Reformen in einem Land alleine kaum realisierbar sind, wird mit einem Reformprogramm dieser Art auch die Veränderung Europas auf die Tagesordnung gesetzt. Der Kampf gegen die EU-Richtlinie zur Hafenarbeit, der Widerstand gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie, der Widerstand gegen die EU-Verfassung, die Sozialforumsbewegung, die Formierung der Partei der Europäischen Linken, das sind Ansätze zur Herausbildung eines grenzüberschreitenden Handelns. Auf jeden Fall wird eine überzeugende, faszinierende Vision für einen Richtungswechsel – für eine „andere Welt“ – nicht am Grünen Tisch entstehen, sondern sie wird aus den durch den Neoliberalismus hervorgerufenen gesellschaftlichen Widersprüchen, aus der breiten Diskussion der linken Kräfte und aus den sozialen Kämpfen heraus entstehen. Die Linke und der anti-neoliberale Reformblock können hegemonial werden, wenn sie die Interessen und Hoffnungen der arbeitenden Menschen, der Jugend, der Arbeitslosen,Rentner und sozial Ausgegrenzten aufgreifen und deren privaten und beruflichen Leben mit einem alternativen gesellschaftlichen und politischen Projekt wieder eine Perspektive geben können. Allerdings sollten wir beachten, dass es nicht die sozialen Verwerfungen und Widersprüche selbst sind, die zu Protest,Widerstand und Kampf um Alternativen führen. Ob die Widersprüchen zu Resignation und Anpassung oder zu Protest,Widerstand und Kampf um Alternativen führen, das hängt von der Interpretation der Widersprüche ab. Und hier liegt eine der besonderen Herausforderungen für die DKP und die marxistische Linke insgesamt. Literatur: Wie den Neoliberalismus überwinden, isw Report Nr. 65, isw München, September 2006 Alternativen zum Neoliberalismus, isw Report Nr. 66, isw München, Juni 2006

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