Was ist ein Info-Monument?

Zum Memorial del 68 in Mexico City

Allzu oft erschöpft sich eine Gedenk- und Erinnerungspolitik, die sich in so genannten Mahnmalen materialisiert, in der bloßen Beschwörung eines "nie wieder".

Doch ein noch so emphatisch verkündetes "nie wieder" ist nur wenig wert, wenn nicht zugleich verstanden wird, wie es überhaupt zum ersten Mal kommen konnte. Zu diesem Verständnis wird in den wenigsten Fällen ein bloßer Steinklotz oder - wie etwa im Fall Eisenmans Berliner Mahnmal für die ermordeten Juden Europas - ein ganzer Wald von Steinstelen beitragen können. Was Mahnmale befördern sollten, das wäre das kognitive Erfassen des historischen und politisch-sozialen Zusammenhangs, in dem Verbrechen möglich wurden - und nicht die bloße "Betroffenheit" eines Publikums, dem angesichts der Erhabenheit des entfernten Grauens ein wohliger Schauer den Rücken hinunterläuft. Es gibt nicht allzu viele Beispiele für Mahnmale, die sich des Beeindruckungsrepertoires von Gruselkabinetten oder eines staatstragenden Sonntagsmahnerpathos entschlagen und stattdessen auf Information und Kontextualisierung setzen. Das Memorial del 68 im Bezirk Tlatelolco von Mexico City ist eines davon.

Am 2. Oktober 1968 wurde eine Studentendemonstration am Platz der drei Kulturen von Mexico City von Militär und Scharfschützen ins Kreuzfeuer genommen. Die genaue Zahl der Toten ist bis heute unbekannt; offizielle Stellen und die mexikanische Presse sprachen damals von ein paar Toten, viele gehen inzwischen jedoch von 200 bis 300 Toten und einer Unzahl von Verletzten aus. Bis heute sind die Hintergründe nicht völlig geklärt. Absurderweise wurde von offizieller Seite behauptet, die Scharfschützen auf den Dächern der modernistischen Wohntürme, die an den Platz angrenzen, seien selbst Studenten gewesen, die das Militär unter Beschuss genommen hätte. In Wahrheit gehörten sie einer verdeckt operierenden Einheit der Polizei an. Das Massaker war inszeniert worden, um endgültig Schluss zu machen mit dem Streik der Studenten und ihren nicht enden wollenden Demonstrationen. Und Schluss musste gemacht werden, da die olympischen Spiele bevorstanden und die USA bezüglich der Sicherheitslage in Mexiko bereits besorgt waren. So versprach der damalige Präsident Mexikos Díaz Ordaz, er würde das Problem in Kürze einer Lösung zuführen. Diese Lösung bestand im Massaker von Tlatelolco und der darauf einsetzenden Verhaftungswelle gegen StudentInnen und MittelschülerInnen. Die Olympiade konnte dann - wie so oft in ihrer Geschichte und Gegenwart (man denke an China) - wiedermal den Völkerfrieden beschwören, nachdem die Opposition im eigenen Land massakriert und eingekerkert worden war.

Das Memorial del 68 erinnert an das Massaker vom Platz der drei Kulturen. Es ist in einem modernistischen Bau der 1960er Jahre untergebracht, der direkt an diesen Platz angrenzt und vormals das Außenministerium beherbergt hatte. Nachdem dieses ins Zentrum der Stadt übersiedelt war, wurde das Gebäude der UNAM, der nationalen Universität, überantwortet, die dort ein Kulturzentrum einrichtete. Die im Oktober 2007 auf insgesamt 1250 m² eröffnete Dauerausstellung, die den Titel Memorial del 68 trägt, ist nun Teil dieses universitären Kulturzentrums. Von Anfang an gehörte zu den zentralen museologischen Ideen, dass nicht nur das Massaker vom 2. Oktober 1968 beleuchtet werden sollte, sondern die gesamte mexikanische Studentenbewegung und ihre - teils subkutanen und langfristigen - Auswirkungen auf die mexikanische Politik. Darüber hinaus sollte die mexikanische Studentenbewegung im globalen Kontext der Rebellionen der Jahre um 1968 herum verortet werden, und zwar in der gesamten kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Bandbreite der Bewegung. Das Memorial bedient sich dazu der aktuellen audiovisuellen Technologien und integriert zugleich die Zeitdokumente in ihrer gesamten Medialität (Film, Fernsehen, Radio, Fotografie, Presse, Plakate, Flugblätter etc.).

Doch das Memorial dient nicht allein der Dokumentation. Ein, wie mir scheint, zentrales Prinzip besteht im Postulat der Intelligibilität der Ereignisse. Was geschah, ist kognitivem und letztlich politischem Verstehen zugänglich. Es handelt sich nicht einfach nur um eine "furchtbare Sache", die unter den emotionalen Floskeln eines pathetischen Erinnerungsdiskurses ein zweites mal begraben wird. Die Kuratoren vermeiden die meisten Strategien emotionaler Beeindruckung (sieht man von einigen integrierten künstlerischen Arbeiten ab, etwa von Óscar Guzmán). Wo etwa Zeitzeugen vor der Kamera in Tränen ausbrachen, wurde dieses Material bewusst nicht verwendet.

Stattdessen sollen die Ereignisse verstehbar gemacht werden als, wie der Katalog es fasst, "ein intelligibler Prozess, in dem ein kritischer Sektor der mexikanischen Gesellschaft einer unflexiblen Regierung gegenüberstand, die jeder Kritik gegenüber unzugänglich war". Im Wesentlichen wurde das Memorial daher als Informations- und Edukationsraum konzipiert. Videointerviews mit 57 Zeitzeugen wurden geführt, die in der Ausstellung auf Monitoren wie auch in dokumentarfilmischen Zusammenschnitten auf Videoprojektionen in Nebenräumen zu sehen sind. Darüber hinaus stehen im Info-Bereich die integralen Interviews jeder Person auf DVD zur Verfügung. Insgesamt bietet die Ausstellung jeweils 50 Stunden Audiomaterial (Radioprogramme, Reden, Interviews, etc.) und Film- und Fernsehmaterial, sowie 4150 Fotografien. All das ist auf einer CD-Rom gesammelt, daneben werden Bücher, Zeitschriften, Plakate und Flugblätter präsentiert.

Thematisch und räumlich sind diese Materialien in drei Einheiten unterteilt: Die erste umfasst jene Materialien, die den nationalen und internationalen politisch-sozialen Kontext der 1960er Jahre, beschreiben; die zweite solche, die die Chronologie der Studentenbewegung der 1960er Jahre nachzeichnen; und die dritte schließlich solche Materialien, die die Auswirkungen auf das politische und soziale Leben Mexikos aufzeigen. Diese drei Einheiten werden auf der ersten Ausstellungsebene behandelt. Im Kellergeschoss darunter wird die Chronologie fortgeführt und zeitlich immer enger gefasst: Tag für die Tag werden die auf den 2. Oktober hinführenden Ereignisse rekonstruiert. (Da die "Eroberung des öffentlichen Raumes" zu den erklärten Zielen der Bewegung zählte, wird z.B. der "estética de la marcha" (Carlos Monsiváis) großer Raum gegeben - so wird die Bewegung im Stadtraum nachvollziehbar, indem die Routen der verschiedenen Demonstrationen auf Plänen sichtbar gemacht werden). Schließlich werden die Ereignisse sogar im Stundentakt dokumentiert, gefolgt von der Dokumentation der darauf einsetzenden Repression, des Endes der Bewegung, sowie der "geglückten" olympischen Spiele.

Das Memorial del 68 stellt damit eine Sonderform des Mahnmals dar. Mahnen wird ersetzt durch Investigation, Information und Aufklärung. Das Resultat ist kein Monument aus Stein, sondern eines aus Informationen. Ein solches Info-Monument geht ganz selbstverständlich davon aus, dass politisch motivierte Verbrechen nichts erhaben "Unfassbares" darstellen. Wenn dem Verstehen überhaupt Steine in den Weg gelegt werden, dann aufgrund der mangelhaften Zugänglichkeit von Informationen (so z.B. deshalb, weil nicht alle CIA-Akten der Zeit vollumfänglich veröffentlicht wurden), also aus durchwegs empirischen Gründen. Wer solchen Strategien vorwirft, sie würden die Leute langweilen und nicht dort abholen, wo sie stehen, der geht von der irrtümlichen und zutiefst paternalistischen Annahme aus, die Leute würden blöd sterben wollen - oder würden nur mit dem Bauch denken wollen. In Wahrheit gibt es aber ein Bedürfnis nach Informationen und nach Kontextualisierung. Mahnmale sollten diesem Bedürfnis nachkommen - und nicht dem Trend zur Spektakelisierung der Erinnerung.

Zum Monument ist ein Katalog erschienen: Álvaro Vázquez Mantecón (Hg.): Memorial del 68, México D.F./Madrid 2007 (UNAM/Turner Publishers).

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "zwei, drei, vieleÂ… achtundsechzig", Wien, Frühjahr 2008.