Die Affäre GDL

Die (gewerkschaftliche) Welt stand für eine Weile Kopf. Da schwang sich Mitte letzten Jahres die als Standesorganisation geltende kleine GDL auf, Forderungen nach einem eigenen Tarifvertrag im staatlichen Großkonzern Bahn AG, mit zweistelligen Lohnzuwächsen und Verkürzung der Arbeitszeit kämpferisch durchzusetzen. Die GDL lehnte die Übernahme des Tarifabschlusses mit TRANSNET und GDBA ab und forderte Nachbesserungen bei der Vergütung und Arbeitszeitregelungen. In der Berichterstattung und in Kommentaren – auch der Linken – treibt die Darstellung der Tarifauseinandersetzung bei der Bahn AG eigenartige Blüten. Einige verbalradikale Töne des ehemaligen CDU-Bundestagsabgeordneten und GDL-Vorsitzenden Manfred Schell und der bestreikte Bahnverkehr reichen aus, um die GDL in der Berichterstattung als Privatisierungsgegner und gefühlte Speerspitze der Gewerkschaftsbewegung erscheinen zu lassen. Bei Redaktionsschluss war die Auseinandersetzung im Tarifstreit noch nicht beendet. So sind Abstimmungsprobleme im Rahmen der zugesagten Kooperationsvereinbarung der GDL mit den Gewerkschaften TRANSNET und GdBA nicht ausgeräumt. Auch erweist sich der ausgehandelte Kompromiss mehr und mehr als Mogelpackung, der sich nur in wenigen Details von dem Abschluss der Tarifgemeinschaft TRANSNET und GdBA (TG) unterscheidet. Und was die sozialen Komponenten betrifft, so fallen sie spärlich bei der GDL aus. Neben diesen eher ernüchternden Ergebnissen muss auf den Sprengstoff hingewiesen werden, der diesem Konflikt innewohnt. Ähnlich wie vorher bereits die Pilotenvereinigung Cockpit und der Hartmannbund übernimmt die Gewerkschaft der Lokführer bewusst oder unbewusst eine Rolle als Instrument zur Zerstörung eines einheitlichen Flächentarifvertrages. Die Auseinandersetzung wurde von Anfang an mit harten Bandagen vor den Gerichten geführt, initiiert vom Bahnvorstand. In der ersten Instanz waren sich die Gerichte in Nürnberg und Chemnitz auch nicht zu schade, den Begehrlichkeiten des Kapitals nach weiterer Einschränkung des Streikrechts statt zu geben. Da es sich beim Arbeitskampfrecht um reine Machtfragen handelt, haben die Richter auch oft ein Gespür für die politischen Machtverhältnisse. Und das „Leichtgewicht“ GDL zusätzlich behaftet mit dem Ruf einer berufsständischen Organisation kann wesentlich weniger in die Waagschale werfen als große einheitlich und solidarisch handelnde Gewerkschaften. Wie heißt es: Recht haben und Recht kriegen, sind zweierlei Dinge. Die Erfahrung der Arbeiterbewegung lehrt, dass Kämpfe nicht in Gerichtssälen gewonnen werden, sondern in den Betrieben und auf der Straße.

Tarifeinheit

„Unter allen Vorwürfen sind allerdings die der Gewerkschaften ernst zu nehmen“, schreibt Detlef Hensche, der frühere Vorsitzende der kampferprobten IG Medien am 26.10.2007 im Freitag. Weiter heißt es dort: „Es schadet auf Dauer allen, wenn eine Gruppe eigene Wege geht, statt ihre Durchsetzungsmacht in den gemeinsamen Kampf einzubringen. Gewerkschaftliche Gegenmacht steht und fällt mit der Breite und Verallgemeinerungsfähigkeit des Aufbegehrens und mit dem Einsatz der Starken nicht nur für sich selbst, sondern ebenso für die Schwachen. Doch auch, wer diese Vorbehalte teilt, kann den Lokführern Beistand nicht versagen; man fällt Streikenden nicht in den Rücken. Vor allem sollten wir nicht der Legendenbildung des Bahnvorstandes aufsitzen, die Lokführer wollten ‚Sondervorteile auf Kosten ihrer Kollegen’ herausholen; keiner Beschäftigtengruppe wird etwas weggenommen, wenn der Streik Erfolg hat.“ (ebenda) Mit massiver Unterstützung der Medien versuchte die Deutsche Bahn AG und einige Politiker den Tarifkampf der Lokführer von Anfang an in der Öffentlichkeit zu diskreditieren. Auch wenn viele BahnkundenInnen durch die Streikaktionen zusätzliche Mühen in Kauf nehmen mussten, verfing die Verleumdungskampagne nicht. Mehrheitlich unterstützte die Bevölkerung das Anliegen der Lokführer – im Gegensatz zum DGB und seinen Einzelgewerkschaften. Abgesehen von örtlichen Solidaritätsbekundungen und einzelnen Gewerkschaftsfunktionären versagten die Arbeitnehmerorganisationen den Streikenden ihre Solidarität. Die Sorge um die – vielleicht zu eng ausgelegte – Einheit der Gewerkschaften ließ eine Unterstützung der organisierten Linken nur verzagt und zögerlich aufkommen. „Für uns ist es wichtig wahrzunehmen, dass zum Beispiel, wie auch beim GDL-Streik, die Bereitschaft zu solchen Kampfmaßnahmen in den Belegschaften wächst, die Unterstützung für diese Kampfmaßnahmen in der Bevölkerung mehrheitsfähig ist. Ganz offensichtlich gelingt es den gesellschaftlichen Großorganisationen und Parteien nicht mehr, Gegenpositionen in dem Umfang zu neutralisieren oder einzubinden, wie es bisher möglich war.“ (18. Parteitag der DKP, 23/24. Febr. Mörfelden-Walldorf, Referat Heinz Stehr) Erst als der Erfolg sichtbar wurde, sollte der Schwung genutzt werden, um für eigene relativ hohe Lohnforderungen zu werben. Und offensichtlich ist der Funke übergesprungen. Die kämpferische Stimmung der Lokführer beschert der Republik ein heißes Frühjahr. Die ver.di-KollegInnen unterstreichen in der Tarifrunde des Öffentlichen Dienstes mit massenhaften Warnstreiks nachdrücklich ihre Lohnforderungen. Schnell war die Kapitalseite als ungebetene Ratgeber zur Stelle. Der Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeber (BDA), Dieter Hund, ruft gleich nach dem Staat: „Der Gesetzgeber muss für die notwendige Rechtsklarheit sorgen, wenn er den Flächentarifvertrag in seiner gegenwärtigen Form erhalten will“. (Tagesspiegel 12.08.2007) Der Vorsitzende des Parlamentskreises Mittelstand, Michael Fuchs (CDU) meldet sich am 03.11.2007 im „Spiegel“ mit der Forderung zu Wort: „In einem Betrieb kann es nur einen Tarifvertrag geben. … Hier müssen wir schnell eingreifen, sonst kann es zu einem wirtschaftspolitischen Chaos kommen.“ Bahnchef Mehdorn wähnt sich in der Rolle des Hüters der „Einheit der Arbeiterschaft“. In anderen Vorstandsetagen – bei Siemens beispielsweise – werden Millionenbeträge ausgegeben, um durch das Sponsoring der sogenannten „Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsräte“ ganze Konzernbelegschaften zu spalten. In der Medienlandschaft, wo sonst Tarifflucht und Aushöhlung der Flächentarifverträge als marktgerechte Antwort auf den neoliberal entfesselten, globalen Markt gefeiert wird, sind mit einem Mal mahnende Töne zu hören. Von Atomisierung der Tarifverhandlungen ist die Rede. Von einem Beispiel, was Schule machen könnte, so sorgt sich die FAZ am 03.07.2007 und kommt zu dem Schluss: „Beugt sich die Bahn dem Separierungsdruck, werden bald auch in anderen Wirtschaftszweigen immer mehr Beschäftigte in Schlüsselpositionen kräftige Aufschläge verlangen. Es käme zu einer weiteren Radikalisierung aller Tarifbewegungen, auf die der Bahnstreik nur ein Vorgeschmack ist.“

Dumpingkonkurrenz

Wo liegen die Gefahren? Die Durchlöcherung der Tarifeinheit und der Flächentarifverträge in den Betrieben besorgen Kapital und Kabinett schon selber. Denn es sind vor allem Unternehmen, die „aus Unzufriedenheit mit der Verhandlungsführung ihrer Funktionäre in Verbände ohne Tarifbindung“ flüchten. (FAZ 29.08.2008). Das ist aber noch nicht die ganze Wahrheit. Den Belegschaften droht Gefahr durch Dumpingkonkurrenz im eigenen Betrieb. Die arbeitsrechtlichen Bindungen von Leiharbeit wurden 2002/03 durch die Schröder-Fischer Regierung aufgeweicht. Das gleichzeitig verfügte Gebot, den Leiharbeitern Arbeitsbedingungen und Entgelt des jeweiligen Einsatzbetriebes zuzugestehen, wurde unter die Einschränkung abweichender Tarifverträge gestellt. Und die ließen nicht lange auf sich warten. Die Arbeitsgemeinschaft christlicher Gewerkschaften erkannte die Chance und vereinbarte mit einer Interessengemeinschaft von Verleihfirmen einen Tarifvertrag. Danach erhalten qualifizierte Facharbeiter Stundenlöhne zwischen sechs und sieben Euro, unabhängig vom Einsatzort. Die Schleusen für die Flut der Arbeitnehmerüberlassung waren geöffnet, denn das vereinbarte Lohnniveau galt von nun an für alle Leiharbeitsverhältnisse. Vor diesem Hintergrund gelang es den DGB-Gewerkschaften, in ihren Tarifverträgen geringfügige Verbesserungen abzuschließen. Damit haben konkurrierende Tarifverträge Einzug in den Alltag bundesdeutscher Betriebe gehalten. Das Bundesarbeitsgericht hat in einem Urteil der beteiligten christlichen Metallarbeitergewerkschaft die Tariffähigkeit und damit die Rechtmäßigkeit der „Dumping-Verträge“ bescheinigt. Die Gewerkschaften der Piloten, Fluglotsen, Klinikärzte und Lokführer heben sich entscheidend von den C- Gewerkschaften ab. In ihren Forderungen spiegelt sich die Notwendigkeit wieder, die Lohn- und Gehaltsentwicklung nicht von der Profitentwicklung der Konzerne abzukoppeln. So „vertreten die Kolleginnen und Kollegen, die dort (in der GDL HKn) organisiert sind, zu Recht Tarifforderungen und Forderungen zu Arbeitsbedingungen, die längst auch Bestandteil der gemeinsamen Tarifpolitik mit TRANSNET, GdBA und auch GDL hätten sein müssen. Solche Vorsitzenden von Einzelgewerkschaften wie Norbert Hansen erhalten die Quittung für Sozialpartnerschaft, Zustimmung zur Bahnprivatisierung und Vernachlässigung der Formulierung und Durchsetzung der Interessen der Kolleginnen und Kollegen.“ (Referat 12. Tagung des Parteivorstandes der DKP, Uwe Fritsch) Allein die Tarifeinheit beschwören, greift zu kurz. Dieser bislang geltende Grundsatz beruht auf Richterrecht, das allerdings schon immer umstritten war. Es macht die Arbeit für GewerkschafterInnen und Betriebsräte sicherlich nicht leichter, existieren konkurrierende Gewerkschaften in einem Betrieb, „doch ist es ihr verfassungsrechtlich verbürgtes Recht, für ihre Mitglieder eigene Forderungen durchzufechten. Einem so zustande gekommenen Tarifvertrag im Namen einer Tarifeinheit die Anerkennung zu versagen, beschneidet das Recht dieser Gewerkschaft und ihrer Mitglieder, eigene Vorstellungen durchzusetzen. Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie, Art. 9 Abs. 3 GG, sind unteilbar; sie gelten als Grundrechte für Mehrheiten wie für Minderheiten.“ (D. Hensche, Freitag 26.10.2008)

Gemeint ist das Streikrecht

Wenn der Arbeitgeberpräsident Hundt den Verlust der Tarifeinheit beklagt, so treibt ihn die Sorge über die betriebliche Praxis um. „Der Arbeitgeber muss sich darauf verlassen können, während der Laufzeit eines geltenden Tarifvertrages keinen Arbeitskampfmaßnahmen ausgesetzt zu werden. Mit verschiedenen Gewerkschaften abgeschlossene Tarifverträge könnten demgegenüber aber unterschiedliche Laufzeiten haben mit der Folge, dass für die Unternehmen zu verschiedenen Zeiten Streiks oder Streikandrohungen denkbar wären. Im schlimmsten Fall könnte ein Unternehmen das ganze Jahr in Tarifauseinandersetzungen verwickelt werden. Um diese Entwicklung zu verhindern, müssen Streiks von Spartengewerkschaften begrenzt werden. Findet ein Spartentarifvertrag nach dem Grundsatz der Tarifeinheit keine Anwendung, ist ein Arbeitskampf zu seiner Durchsetzung unverhältnismäßig.“ (D. Hundt in der FAZ vom 11.09.2007). Einige Tage zuvor wird der Direktor des Ifo-Institutes, Werner Sinn, zitiert, der vor Berufsstandsgewerkschaften warnt: „Sie seien das Schlimmste, was einem Land auf dem Arbeitsmarkt passieren könne. Dennoch gerät der soziale Friede erst dann in Gefahr, wenn die Arbeitnehmerorganisationen – wie es bei den Lokführern der Fall war – durch das Bestreiken marktbeherrschender Unternehmen Kollateralschäden hervorrufen, die nicht nur den eigenen Arbeitgeber treffen – das ist ja Ziel des Streiks – sondern auch unbeteiligte Branchen, und damit das Gebot der Verhältnismäßigkeit verletzen.“ (FAZ 29.08.2007) Ihnen geht es nicht um die geübte betriebliche Praxis „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“. Die Kapitalseite nutzt die Streikankündigungen und –aktionen, um mit einem neuen Anlauf das grundgesetzlich verbriefte Recht auf Koalitionsfreiheit und Streik, das ohnehin schon durch zahlreiche richterliche Amputationen reichlich verstümmelt ist, weiter einzuschränken. Zunächst schien ihnen das auch vor den Arbeitsgerichten Nürnberg und Chemnitz zu gelingen.

„Ein Ausstand muss den Unternehmen wehtun“

Anfang November hatte sich das Landesarbeitsgericht Chemnitz mit Urteilen der Arbeitsgerichte Nürnberg und Chemnitz, die der GDL nur eingeschränkte Streikmöglichkeiten auf „Nebengleisen“ zugestanden, zu befassen. Es hob die Urteile der vorhergehenden Instanzen auf. Nach Bekanntwerden  begrüßte Jürgen Peters, damals noch IG Metall-Vorsitzender, das Chemnitzer Urteil im Deutschlandfunk. „Damit sei klargestellt, dass eine Gewerkschaft ein grundgesetzlich verbrieftes Streikrecht habe, wenn es bei Tarifverhandlungen nicht weitergehe, weil die Arbeitgeber auf stur stellten.“ Er sei zudem erleichtert, dass das Recht auf Streiks auch nicht in Verbindung mit der Wirtschaft entstehenden Schäden gebracht werden dürfe. Ein Ausstand müsse dem Unternehmen wehtun. Zugleich bekräftigte der IG Metall-Vorsitzende seine Auffassung, dass in einer Wirtschaftsbranche die Arbeitnehmer insgesamt für ihre Rechte eintreten müssten. „Die Sonderrolle einzelner Beschäftigungsgruppen halten wir nicht für zielführend, denn die Stärkeren müssen die Schwachen mitziehen“, fügte Peters hinzu. Es gehört zu den gewerkschaftlichen Kampferfahrungen, dass Tarifauseinandersetzungen dann eine Chance auf Erfolg haben, wenn qualifizierte Teile der Belegschaften in den Streik geführt werden können. Erst dann sind die Auswirkungen spürbar und bewegen die Unternehmer zum Einlenken. Die Tariferfolge gerade der IG Metall sind Dank der Kampfkraft der FacharbeiterInnen im Maschinenbau und in der Automobilindustrie erzielt worden. Das Erreichte galt dann auch für weniger durchsetzungsstarke Gruppen und in schlechter organisierten Branchen. So konnte es den Einheitsgewerkschaften gelingen, allgemeine Standards berufsübergreifend zu organisieren.

„Die aufgekündigte Solidarität“

Unter diesem Titel befasst sich der FAZ –Wirtschaftsjournalist Nico Fickinger am 29.08.2007 mit den Chancen, die gewerkschaftliche Konkurrenz in den Betrieben der Kapitalseite bietet. Er redet da nicht den Unternehmerfunktionären mit ihrem Ruf nach dem Staat das Wort. Das muss die Tarifpolitik beantworten und nicht der Gesetzgeber. Nicht die Verschärfung der Verteilungskämpfe ist neu. „Doch wurden sie bisher in einer Organisation von den Funktionären moderiert.“ Unter der Voraussetzung der gewerkschaftlichen Konkurrenzsituation „werden sie zwischen Gewerkschaften ausgetragen. Das macht es leichter, die divergierenden Interessen unterschiedlicher Interessengruppen gegeneinander auszuspielen. … Im Inneren wiederum wird der Verteilungskampf die Belegschaft spalten, jedenfalls solange der Lohnkuchen nicht wächst: Das Stück was sich der Lokführer erstreikt, nimmt er dem Fahrdienstleiter vom Teller.“ (FAZ 29.08.2007) „Von diesem Wettbewerb der Ideen,“ so heißt es in dem Beitrag weiter, „könnten die Beschäftigten profitieren. Es würde eine Vielfalt an Lösungen hervorbringen, die viel passgenauer sein könnten als die Einheitstarife von IG Metall, Verdi & Co.“ (ebenda) Hier soll ein weiterer Angriff auf die „institutionelle Macht“ der Gewerkschaften gestartet werden, um die Arbeitnehmerorganisationen noch weiter in die Defensive zu drängen. Doch es ist nicht zu erkennen, dass es in naher Zukunft zu einem Boom von Gewerkschaftsneugründungen kommen wird. Detlef Hensche mahnt: „Allein die Vorhandenen zwingen zum Nachdenken. Massenorganisationen laufen immer Gefahr, Mitgliedergruppen, die im täglichen Organisationsleben eher an der Peripherie stehen, nicht angemessen wahrzunehmen. Das kann auch qualifizierte Berufe betreffen. Doch gerade in Zeiten, in denen die industriell bedingte Vereinheitlichung der Arbeits- und Lebensbedingungen nachlässt und die Arbeitswelt sich ausdifferenziert, ist es ein Gebot authentischer gewerkschaftlicher Interessenwahrnehmung, sich auf die spezifische Situation, die unterschiedlichen Lebenslagen, Sorgen und Hoffnungen der einzelnen Beschäftigtengruppen einzulassen. Für viele hat der Beruf unverändert einen hohen Stellenwert; hier müssen die Gewerkschaften präsent sein und professionelle Unterstützung anbieten.“ („Lokführer als Avantgarde?“; Blätter für deutsche und Internationale Politik; 9/07) Hensche verweist hier auf den Zusammenhang zwischen der Defensive, in der sich die Gewerkschaften befinden, und dem Entstehen von berufsgruppenorientierten Gewerkschaften. Er merkt an, dass diese Erscheinung keiner Gesetzmäßigkeit unterliegt. „Auch heute sind Klinikärzte und Lokführer nicht die Vorboten eines Zeitalters des gewerkschaftlichen Partikularismus. Mit ihnen scheint das Feld abgesteckt; andere Berufsgruppen mit vergleichbaren sozialen Ausgangsbedingungen sind derzeit nicht in Sicht. Umgekehrt ist Verdi auf dem Weg, eine der jüngsten Absonderungen wieder rückgängig zu machen. Als sich 1992 die Flugleiter von ÖTV und DAG abspalteten und einen eigenen Verband gründeten, die Unabhängige Flugbegleiterorganisation(UFO), geschah dies aus Unzufriedenheit mit beiden Gewerkschaften und in der Erwartung, am Glanz der Vereinigung Cockpit teilhaben zu können. Daraus wurde nichts; stattdessen missbrauchte die Lufthansa den neuen Verband als Partner für Tarifabbau gegen ÖTV und DAG. Heute ist die UFO auf gut die Hälfte ihrer ursprünglich 10 000 Mitglieder geschrumpft; Verdi hat wieder Fuß gefasst und tarifpolitische Erfolge erzielt, dieser Tage mit Air Berlin.“ (ebenda)

Gefangen im neoliberalen Denken

Die Streitsache GDL ist Ausdruck für die wenig ausgeprägte Fähigkeit von Gewerkschaftsorganisationen, betriebliche und gesellschaftliche Gegenmacht zu bündeln. Die Ausrichtung auf betriebliches Co-Management und neoliberales Standortdenken verstellt den Blick auf Neues. Offensichtlich kommt der Führung der Bahngewerkschaft TRANSNET um den Vorsitzenden Norbert Hansen die Auseinandersetzung mit den Lokführern zu einem höchst unpassenden Zeitpunkt. Ihr Fahrplan sah vor, rechtzeitig vor der Schlussrunde der Privatisierungsdebatte der Deutschen Bahn AG als verlässlicher Partner sowohl für die Konzernleitung, Politik sowie für potenzielle Aktionäre da zu stehen. Deutlicher können die Ursachen für die strukturellen Schwächen der Gewerkschaften nicht hervortreten. Statt die Bereitschaft einer kämpferischen Minderheit – im Fall von TRANSNET in der Tarifgemeinschaft mit der GDL und GBdA – in die Auseinandersetzung für berechtigte Tarifforderungen und Verbesserungen von Arbeitsbedingungen zum Nutzen aller und gegen die Privatisierung zu führen, wird das Geschäft des Kapitals betrieben. Nun ist ja nicht nur die Eisenbahnergewerkschaft von der strukturellen Schwäche betroffen. Anlässlich des 15. ISW-Forums 2007 mit dem Thema „Zukunft braucht Gegenmacht – Erneuerung der Gewerkschaften und Aufbau eines gesellschaftlichen Bündnisses gegen den Neoliberalismus“ beschrieb Hans-Jürgen Urban, IGM-Hauptvorstand, die gegenwärtige Situation so: „Die (durch die Neoliberalisierung HKn) in Gang gesetzten Prozesse machen sich vielfach daran, Interessenvertretungs- und Solidaritätsstrukturen in den Unternehmen zu untergraben. Je weiter das Prinzip von Markt und Konkurrenz in die Unternehmen Einzug hält, um so schwerer fällt es, arbeits- und interessenspolitische Solidarität unter den Beschäftigten zu organisieren; und um so leichter fällt es den Unternehmensführungen mit ihren aktionärsorientierten Strategien, Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften unter Druck zu setzen.“ (ISW Report Nr. 71, S. 20) Die Lösungen werden nicht im Althergebrachten zu finden sein. Wenn es nicht gelingt, den Zusammenhang zwischen den veränderten Kapitalverhältnissen und der Notwendigkeit neuer Rahmenbedingungen für gewerkschaftliches Handeln im Betrieb und im gesellschaftspolitischen Raum herzustellen, werden Veränderungen nicht zur Rückgewinnung der gestalterischen Handlungsspielräume führen. In krisenhaften Umbruchsituationen werden „Akteure nur dann erfolgreich handeln können, wenn sie die ‚Zeitumstände’ richtig einschätzen und gleichzeitig von der Kraft sozialer Bewegungen ‚von unten’ getragen werden.“ (Frank Deppe; Z-Nr. 61 März 2005; S.7)

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