Wenn einer eine Reise tut

Eine kritische Analyse der europäischen Dienstleistungsrichtlinie

Nach Verabschiedung der europäischen Dienstleistungsrichtlinie in einer Kompromiss-Fassung Ende 2006 toben nun die Kämpfe um die inhaltliche Deutungshoheit.

Die AnhängerInnen eines sozialen Europas befürchten den Verlust von Sozialstandards im Dienstleistungssektor. Die Dienstleistungsrichtlinie stellt ein wesentliches Instrument dar, die durch das Primärrecht in den Art. 49 ff. Europäischer Gemeinschaftsvertrag geforderte Dienstleistungsfreiheit sekundärrechtlich zu verankern, indem sie den Handel mit grenzüberschreitenden Dienstleistungen erleichtern soll. Ihre Bestimmungen beziehen sich auf eine Vielzahl von Dienstleistungen, welche unter Niederlassung im Herkunftsland gegen Entgelt in einem anderen Mitgliedsstaat (Bestimmungsland) zeitlich begrenzt erbracht werden. Diesem Bezug der Dienstleistung zu zwei Mitgliedsstaaten ist die Hauptkontroverse geschuldet, welchem nationalen Recht sich der Leistungserbringer unterworfen sieht.

Das Herkunftslandprinzip - des Pudels Kern?

Der Vorschlag der Kommission Anfang 2004 sah in Art. 16 der Dienstleistungsrichtlinie (DLR)1 die strikte Geltung des Herkunftslandprinzips vor. Hiernach hat sich der Leistungserbringer nur nach dem Recht des Mitgliedsstaates zu richten, in dem er niedergelassen ist. Teile des EU-Parlaments sahen hierin die Gefahr eines Wettbewerbs zwischen den einzelnen Rechtssystemen der Mitgliedsstaaten um einen möglichst deregulierten und kostengünstigen Standort angelegt. Nach langen Gefechten und erneuter Überarbeitung wurde im EU-Amtsblatt Ende 2006 eine Dienstleistungsrichtlinie veröffentlicht, die das Prinzip jedenfalls dem Namen nach nicht mehr enthielt. So wurde das "Herkunftslandprinzip" als Titel des Art. 16 DLR durch den Begriff der "Dienstleistungsfreiheit" ersetzt. DGB-Chef Michael Sommer mühte sich, diesen Umstand zügig als "politischen Erfolg"2 zu verkaufen und die Sozialdemokratische Partei Europas mochte dem nur beipflichten. Die Abgeordneten der Europäischen Volkspartei freilich beglückwünschten sich zur Weitergeltung des umstrittenen Prinzips. Objektiv betrachtet muss wohl festgestellt werden, dass die jetzige Regelung dem Herkunftslandprinzip weiterhin näher steht als dem gegenteiligen Arbeitsortprinzip. So ist die Auferlegung gewisser rechtlicher Pflichten durch die Bestimmungsländer gegenüber dem Dienstleistenden nach Art. 16 DLR zwar möglich, allerdings an enge Voraussetzungen geknüpft. Schon die Normierung solcher Voraussetzungen lässt im Umkehrschluss nur die Annahme zu, dass im Übrigen das Herkunftslandprinzip Anwendung finden soll. Auch der Wortlaut, der grundsätzlich die "freie Aufnahme" und "freie Ausübung" von Dienstleistungen einfordert, legt diese Auffassung nahe. Insbesondere das in Art. 16 I DLR konkretisierte Erforderlichkeitskriterium, an dem sich Regelungen des Bestimmungslandes zu messen haben, macht deutlich, inwiefern die Richtlinie es den Mitgliedsstaaten ermöglicht, den Gefahren des Lohn- und Sozialdumpings zu begegnen: Erforderlichkeit ist hiernach nur anzunehmen, sofern die Regelungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit bzw. wegen Belangen des Umweltschutzes gerechtfertigt sind.

Bedrohung arbeitsrechtlicher Standards

Speziell im Hinblick auf arbeitsrechtliche Regelungen erklärt Art. 16 III DLR zwar, dass der Mitgliedsstaat "ferner seine Bestimmungen über Beschäftigungsbedingungen, einschließlich derjenigen in Tarifverträgen" anwenden dürfe, jedoch nur "im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht". Wie dieser Zusatz genau zu interpretieren ist, muss sich noch herausstellen; legt man zugrunde, dass das Gemeinschaftsrecht insbesondere auf vollkommene Dienstleistungsfreiheit zur Schaffung des einheitlichen Binnenmarkts ausgerichtet ist und der EuGH in seiner Rechtsprechung bereits im Bereich der Warenverkehrsfreiheit kontinuierlich aus einem anfänglichen Diskriminierungsverbot ein nahezu umfassendes Beschränkungsverbot schuf,3 so ist zu befürchten, dass dieser vermeintliche Rettungsanker zügig gekappt werden könnte. Diese Vermutung wird auch dadurch gestützt, dass der EuGH selbst für die Etablierung der Dienstleistungsfreiheit als "fundamentalen Grundsatz"4 in jahrelanger Rechtsprechung verantwortlich zeichnet und ihm das Korrektiv der "Allgemeinwohl"-Erwägungen, im Rahmen derer er sozialpolitische Gründe als Rechtfertigungstatbestand bisher teilweise gelten ließ, wegen des abschließenden Charakters des Art. 16 I DLR nicht mehr offen steht. Es ist wahrscheinlich, dass dieser gemeinschaftsrechtliche Vorbehalt als Einbruchstelle dienen und somit zur Erosion arbeitsrechtlicher Bestimmungen führen wird. Es wird sich weiterhin zeigen, welche Zahl an Schutzvorschriften bereits vorher abgeschaltet werden; so bestimmt Art. 35 DLR, dass die Aufrechterhaltung solcher gegenüber der Kommission schriftlich zu begründen ist.

Gefahr der Deregulierung

Sollte sich das Herkunftslandprinzip in der Anwendung der Richtlinie grundlegend etablieren können, wird entscheidend sein, welche Standards die Herkunftsstaaten ihren Dienstleistenden mit auf den Weg geben. Und auch hier lassen die vom EuGH aufgestellten Grundsätze eher eine düstere Zukunft erahnen. Dieser verlangte in der Bacardi-France-Entscheidung "die Aufhebung aller Beschränkungen [...], selbst wenn sie unterschiedslos für Einheimische wie für Dienstleistende anderer Mitgliedstaaten gelten, sofern sie geeignet sind, die Tätigkeiten des Dienstleistenden, [...] zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen".5 Insbesondere wird allerdings das Herkunftslandprinzip selbst diskriminierende Wirkung auf einheimische Berufstätige in den "alten" europäischen Ländern entfalten, was sich in einem steten Druck auf die derzeitigen berufsrechtlichen Standards niederschlagen wird. Eine Angleichung der extrem unterschiedlichen Standards auf niedrigem Niveau steht zu befürchten. Dieser Eindruck wird mit Blick auf die Art. 14 ff. DLR verstärkt, die eine Reihe von Anforderungen an Dienstleistungserbringende als unzulässig festlegen und weitere unter die Bedingung einer scharfen Verhältnismäßigkeitprüfung stellen. So ist es den Mitgliedsstaaten auch untersagt, eine Niederlassungspflicht im Bestimmungsland festzulegen. Dies kann sich infolge fehlender Registrierungspflichten negativ auf die notwendige Kontrolle von Unternehmen auswirken. Überhaupt ist fraglich, ob sich die Kontrolle durch die Bestimmungsländer effektiv gestalten lässt. Die Kenntnis und Durchsetzung der branchenspezifischen Vorschriften in den vielfältigen Dienstleistungsbereichen von 27 EU-Staaten durch die einheimischen Behörden ist illusorisch. Und einen gerichtlichen Streit vor einem Zivilgericht, das ausländische Regelwerke anwenden soll, mag man keinem Verbraucher wünschen. Als ein letztes Korrektiv zur Rettung der Arbeits- und Sozialstandards wird gern die 1999 in Kraft getretene Entsenderichtlinie (ER) ins Feld geführt. So ist in Art. 3 I (a) DLR geregelt, dass die ER in ihrer Anwendung den Regelungen der DLR vorgeht. Sie gilt für ArbeitnehmerInnen im EU-Ausland und legt grob gesagt fest, dass diese ihre Beschäftigung unter den gesetzlichen Regelungen des Bestimmungslandes auszuüben haben. Jedoch ist in ihr nur ein Mindeststandard an Arbeitszeit-, Urlaubs-, und Gleichbehandlungsregelungen vereinbart. Tarifäre Lohnstandards bspw. sind somit weiterhin für Aushöhlungen anfällig; verbindliche Mindestlöhne aber sind im deutschen Entsende-Gesetz ausschließlich für das Baugewerbe geregelt. Auch der Dumping-Möglichkeit durch (Schein-)Selbstständige ist hierüber nicht effektiv zu begegnen.

Perspektive für ein soziales Europa

Positiv ist anzumerken, dass der Anwendungsbereich der DRL in Art. 2 eingeschränkt wurde. Ein Einbezug von Gesundheits- und Sozialdienstleistungen scheidet hiernach aus; wobei ersteres gemäß Erwägung 22 DLR bedauerlicherweise nur für unmittelbare pflegerische und ärztliche Handlungen gilt, nicht für die vielen anderen Bereiche, die heute in Kliniken trendbewusst "outgesourced" werden. Mit Sozialleistungen ist vermutlich nur die nicht sonderlich profitable Armenfürsorge gemeint. Abgrenzungsschwierigkeiten sind vorprogrammiert. Hinsichtlich der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse sind die Ausnahmen im Bereich des Strom-, Wasser-, und Postsektors begrüßenswert; mit besorgter Spannung muss allerdings auf eventuelle Veränderungen im profitversprechenden Bildungssektor geblickt werden, der wegen seiner Ökonomisierung nach europarechtlichen Maßstäben mehr und mehr dem Kriterium des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses genügt. Eine weitere Kommerzialisierung im Zuge der DLR kann somit nicht ausgeschlossen werden. Ob Bildung ein öffentliches Gut und Menschenrecht bleibt oder als kommerzialisierbare Dienstleistung zu definieren ist, wird einmal mehr der Definitionshoheit des EuGH überlassen. Brüssel hat die Chance verpasst, dem einen Riegel vorzuschieben. Bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist 2009 wird es Aufgabe der Politik sein, tragfähige Konzepte zu entwickeln, um den dargestellten Gefahren zu begegnen. Linke Politik darf sich nicht auf protektionistische Konzepte zurückziehen, um in nationalen Grenzen Wohlstand und Reichtum gegen vermeintliche "Angriffe der Billigkonkurrenz" von außen zu verteidigen. Eine Spaltung in deutsche ArbeitnehmerInnen und "Fremdarbeiter, (die) zu Billiglöhnen die Arbeitsplätze wegnehmen"6 ist nur zu missbilligen. Die Abschaffung von Grenzen, die Schaffung umfassender Freizügigkeit, die gerechtere und effektivere Verteilung des Wohlstandes auf nationaler und internationaler Ebene sind lohnenswerte Ziele; eine solche Öffnung ist durch eine Gesetzgebung zu flankieren, die nicht dazu führt, dass Standards für Berufstätige gleich welcher Herkunft nach unten reguliert werden, sondern dass ein einheitlich hoher Standard für alle hier Beruftstätigen gesichert und somit eine Unterminierung effektiver Arbeits- und Sozialpolitik vermieden wird. Lediglich hingewiesen werden kann hier auf die mögliche Schaffung gesetzlich garantierter Mindestlöhne, deren umfassende Anwendung über eine Erweiterung des Entsendegesetzes auf die nicht erfassten Branchen erreicht werden könnte. Phillip Hofmann studiert Jura in Hamburg. 1 RL 2006/123/EG. 2 http://www.dradio.de/aktuell/470088. 3 EuGH, Slg. 1974, 837 - Dassonville; EuGH, Slg. 1979, 649 - Cassis de Dijon. 4 EuGH, Slg. 1986, 3755 - Kommission/Frankreich. 5 EuGH, Slg. 2004, I-6613 - Bacardi France. 6 Oskar Lafontaine auf einer Kundgebung in Chemnitz am 14. Juni 2005.