Zum Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bei Marx und heute

Vortrag in der Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin am 13. März 2008

. . . Damit hat sich die von Marx konstatierte Beziehung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ins Gegenteil verkehrt. . .

Die Wahl dieses Themas ergab sich daraus, dass aus dem Verhältnis dieser beiden Faktoren von Marx einige Schlussfolgerungen gezogen wurden, die m. E. heute auf ihren Bestand hin zu prüfen sind.

Erstens bestimmen die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse in ihrer Einheit den Charakter der jeweiligen Produktionsweise. Im „Kapital“ brachte Marx dies auf die bekannte Formel: „Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.“

Im Kommunistischen Manifest heißt es:
„Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser Produktions- und Verkehrsmittel entsprechen ... die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr. Sie hemmten die Produktion statt sie zu fördern. Sie mussten gesprengt werden, sie wurden gesprengt.“ 1

Damit ging Marx dazu über, aus der Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ihren Widerspruch zu entwickeln. Am ausdrucksvollsten ist dies wohl formuliert im Vorwort von „Zur Kritik der politischen Ökonomie“: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen ... Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“ 2 Dieser Kerngedanke kehrt in vielen Schriften von Marx und Engels wieder.

Aber damit entsteht sogleich die entscheidende Frage: Wann erreicht denn dieser Widerspruch zwischen Produktivkräften und den Eigentumsverhältnissen diesen Höhepunkt, wo die Fesseln gesprengt werden müssen und können? – Wann ist diese „gewisse Stufe“ erreicht, wo eine Epoche „sozialer Revolution“ eintritt? Woran erkennt man diese erreichte Notwendigkeit und Möglichkeit ?

Marx und Engels haben diesen Zeitpunkt so beschrieben: „Die Produktivkräfte die ihr (der Bourgeoisie) zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Zivilisation und der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse ... sie gefährden die Existenz des bürgerlichen Eigentums.“ 3 Oder: „Es tritt hiermit offen hervor, dass die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben ...“ 4 Oder weil ,,... die kapitalistische Produktionsweise ihrem Wesen nach über einen gewissen Punkt hinaus jede rationelle Verbesserung ausschließt.“ 5

Und Engels ging in seinem Vorwort zur englischen Ausgabe des „Kapital“ sogar so weit, zu sagen: „... wir können den Zeitpunkt beinahe berechnen, wo die Arbeitslosen die Geduld verlieren und ihr Schicksal in ihre eigenen Hände nehmen werden.“ 6

Diese und ähnliche Formulierungen wurden von Marx und Engels aus ihrem weitsichtigen historischen Blickwinkel getroffen und waren nicht – oder nicht in erster Linie – auf die damalige Gegenwart zugeschnitten, obwohl auch diesbezügliche Erwartungen eine gewisse Rolle spielten. Aber 150 Jahre danach ist die Frage angemessen, ob der Geschichtsverlauf seitdem diese Thesen bestätigt hat, ob sie modifiziert oder gar widerlegt wurden.

Da sich die entsprechenden Aussagen auf das Verhältnis der hochentwickelten Produktivkräfte zu den sie fesselnden kapitalistischen Eigentumsverhältnissen beziehen, woraus dann eine Epoche sozialer Revolution folge, ist es gerechtfertigt, die heute hochentwickelten kapitalistischen Industrieländer zur Prüfung dieser Fragen heranzuziehen.

Dabei zeigt sich, dass in den imperialistischen Staaten die Entwicklung von Wissenschaft und Technik, von industrieller Forschung und moderner Maschinerie ungehemmt vorangeht. Das geht von der Vollautomatisierung über die moderne Kommunikationstechnik und Informatik zur Atomenergie und Weltraumforschung und nicht zuletzt zur Militärtechnik.

Mit diesen technischen Entwicklungen gehen einher eine ständig zunehmende Kapitalkonzentration und -zentralisation, Profitsteigerungen in früher ungekanntem Ausmaß, eine konstante Massenarbeitslosigkeit, eine zunehmende Verarmung großer Bevölkerungsteile bei Ausdehnung der Herrschaft des Finanzkapitals über Kontinente hinweg in globalem Maßstab. Eine Hemmung oder Fesselung dieser Entwicklung ist nicht erkennbar.

Die durch die Wirtschafts- und Technikentwicklung hervorgerufenen Probleme des Klimawandels, der Erderwärmung, der Erschöpfung der Naturressourcen u.s.w. stoßen zwar an die „Grenzen des Wachstums“, wie das seinerzeit der Club of Rome formulierte, rufen auch in zunehmendem Maße Warnungen und Vorschläge progressiver Wissenschaftler und Politiker hervor. Neuartige Widersprüche des Systems werden sichtbar gemacht. Neue Bedingungen der ökonomischen und sozialen Reproduktion, also des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, treten auf und werden untersucht. Aber es gibt bei alledem keine Anzeichen dafür, dass diese Problematik die Existenz des kapitalistischen Systems als Ganzes gefährdet. Auch wenn dabei neue ökonomische und soziale Widersprüche aufbrechen, entsteht keine Fesselung der Produktivkräfte durch die Eigentumsverhältnisse.

Aber obwohl die imperialistischen Metropolen auf diesem gefährlichen Entwicklungsweg fast ungebremst weiterschreiten, entsteht kein politisch wirksamer Widerstand.

Dafür gibt es m. E. vier Hauptursachen:

1. Die herrschende Klasse – und dazu gehören die ökonomischen und politischen Eliten –verfügt mittels modernster Technik über hochentwickelte Herrschaftsmethoden, die sie mit Erfahrung und Herrschaftswissen verbindet. Das geht von der subtilen Massenmanipulation durch die Medien über die bürokratische Beherrschung des Alltags bis zur rücksichtslosen Anwendung des staatlichen Gewaltmonopols im Bedarfsfall.

2. Im Falle systemgefährdender ökonomischer oder politischer Krisen verfügen die herrschenden Eliten über hinreichende Intelligenz und Flexibilität, um Auswege zu finden, die möglicherweise ihren zeitweiligen Interessen widersprechen, aber langfristig die Systemerhaltung sichern. Marx wies zu Recht darauf hin, dass der Kapitalismus aus ökonomischen Gründen nicht zusammenbrechen wird, sondern stets Auswege findet. Genau deshalb hielt er ja die revolutionäre Überwindung des Systems für unabdingbar.

Bei dieser sehr differenzierten Systemerhaltungsstrategie wird den herrschenden Kräften durch jene sozialreformistischen Strömungen assistiert, die lediglich auf eine erträglichere Gestaltung des Alltags aus sind.

Bereits im März 1850 haben Marx und Engels in der „Ansprache der Zentralbehörde an den Bund“ festgestellt: „Die demokratischen Kleinbürger ... erstreben eine Änderung der gesellschaftlichen Zustände, wodurch ihnen die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem gemacht wird.“ 7

Die dabei zur Debatte stehenden sozialen Reformen, die vielen Menschen das Leben erleichtern, sind natürlich anzustreben und durchzusetzen. Viele progressive Sozialwissenschaftler machen dafür praktikable Vorschläge. Das sollte aber nicht mit der Illusion verbunden sein, dass bei unangetastetem Eigentum von Großindustrie und Hochfinanz soziale Reformen „transformatorische Potenziale“ besitzen und dass darin „entscheidende Ansätze für eine Transformation zu einer gerechten Gesellschaft zu finden“ seien, 8 wie Dieter Klein meint.

Zu welchen Konsequenzen dieser reformtheoretische Ansatz führt, sagt Dieter Klein an gleicher Stelle (S. 105): „In diesem Sinne kann Sozialismus auch als Menschenrechtsideologie moderner Gesellschaften bezeichnet werden“ und die sozialistische Linke kann „für Freiheit und Menschenrechte als sozialistische Bürgerrechtspartei“ wirken (S. 103). Den Sozialismus zu einer allgemeinen Menschenrechtsideologie zurechtzustutzen und die Linke zu einer Bürgerrechtspartei zu deformieren ist umso überraschender, als genügend Erfahrungen damit vorliegen, auf welchen gegenwärtigen Positionen frühere Bürgerrechtler und Menschenrechtsfetischisten gelandet sind.

So notwendig der Kampf für soziale Reformen im Interesse der Bevölkerung ist – sie vollziehen sich im Rahmen des bestehenden Herrschaftssystems. Dabei wirkt auch die Dialektik, dass durchgesetzte Reformen die soziale Lage der Bevölkerung verbessern, damit aber gleichzeitig das System erträglicher gestalten und keineswegs automatisch zu einer Stärkung des Widerstands dagegen führen.

3. Das Scheitern des geschichtlich ersten Versuchs, eine sozialistische Gesellschaft zu errichten, hat in großen Bevölkerungsteilen ernsthafte Zweifel daran aufkommen lassen, dass es eine Alternative zum Kapitalismus geben kann. Diese Zweifel werden durch eine systematische Entstellung der Geschichte der sozialistischen Länder durch massenhafte Diskriminierung, Delegitimierung und Kriminalisierung aller gesellschaftlichen Einrichtungen der früher sozialistischen Länder geschürt, vertieft und gefestigt.

Da auch unter antikapitalistischen Linken die Bewertung sozialistischer Vergangenheiten durchaus unterschiedlich ausfällt, verstärkt dies. die Unsicherheit über die Möglichkeit einer sozialistischen Alternative.

4. Letztlich ergibt sich aus all dem, dass die Mehrheit der sozial benachteiligten Bevölkerung erfasst ist von Hoffnungslosigkeit, Lethargie und Depression. Der in Gesprächen am meisten zu hörende Satz lautet: es hat ja doch alles keinen Zweck, man kann ohnehin nichts ändern. Die täglichen Erfahrungen der Menschen mit Politik und Wirtschaft, mit Sozial- und Gesundheitswesen, mit Justiz und Verwaltung scheinen diesen Satz zu bestätigen.

Natürlich gibt es zwischenzeitlich aufflammenden Widerstand gegen staatlichen Sozialabbau, gegen Militäreinsätze im Ausland, gegen Lohndumping und gegen den ständigen Abbau von Arbeitsplätzen. Aber die Träger solchen Widerstandes, die sich in Sozialforen und Netzwerken organisieren, machen stets zwei Erfahrungen. Zum einen ist die Beteiligung – verglichen mit der Bevölkerungsmehrheit und der Stärke des Systems – deutlich zu gering. Zum anderen aber wird durch geschickte Kompromisse zwischen den politischen Parteien, durch Absprachen mit den Gewerkschaften und andere Winkelzüge immer wieder erreicht, dass der Widerstand abflaut oder ins Leere läuft. Dadurch wird die allgemeine Hoffnungslosigkeit genährt.

Auch unter linksorientierten und alternativen Ökonomen gibt es ernsthafte Auseinandersetzungen mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Dabei wird in zunehmendem Maße auf „Keynes als Alternative “ zurückgegriffen. In dem von Günter Krause herausgegebenen Sammelband mit diesem Titel versuchen 18 Autoren unterschiedlicher Prägung, „Argumente für eine gerechtere Wirtschaft“ (Untertitel des o. g. Buches) zu finden. Die Vielfältigkeit dieser ökonomisch-konzeptionellen Vorstellungen macht deutlich, wie weit die antikapitalistischen Kräfte noch von einer klar strukturierten wirtschaftspolitischen Strategie entfernt sind. Außerdem bewegen sich diese Überlegungen vornehmlich im theoretischen Bereich und klammern die Frage nach den praktischen Möglichkeiten der wirtschaftspolitischen Realisierung weitgehend aus. Auch aus dieser Sicht einschließlich des voran Dargelegten ist also im Hinblick auf die künftige Entwicklung in den imperialistischen Metropolen kaum ernsthafter Optimismus angesagt. Es geht hier jedoch nicht um kaum begründbaren Optimismus oder um demotivierenden Pessimismus, sondern um theoretisch sauber analysierenden Realismus.

Aus all dem ergeben sich zwei für die marxistische Gesellschaftstheorie bedeutsame Schlussfolgerungen. Die erste bezieht sich auf die Frage, ob in der Tat die hochentwickelten Produktivkräfte von den Produktionsverhältnissen gehemmt und gefesselt werden und dass aus diesem Konflikt die Überwindung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse folgt.

• Ist es so, dass – wie nach Marx – die heutigen Produktivkräfte „nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Zivilisation und der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse“ dienen?

• Ist es so, dass diese Produktivkräfte „die Existenz des bürgerlichen Eigentums“ gefährden?

• Ist es so, dass „die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben“?

• Ist es so, dass „ihr (der Bourgeoisie) Leben nicht mehr verträglich ist mit der Gesellschaft“?

Offensichtlich gilt für alle diese Fragen ein klares Nein!

Stattdessen hat die stetige Entwicklung von Wissenschaft und Technik zur Festigung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse beigetragen, werden die modernen technischen Möglichkeiten zu immer besserer Beherrschung der Gesellschaft eingesetzt, wird auch die ständig weiterentwickelte Militärtechnik und die dazugehörige Militärstrategie zur internationalen Herrschaftssicherung genutzt und auch im Inneren bei ernsthafter Systemgefährdung rücksichtslos angewendet.

Damit hat sich die von Marx konstatierte Beziehung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ins Gegenteil verkehrt. Es gibt nicht nur keinen Konflikt zwischen beiden oder dieser Konfliktpunkt ist nur noch nicht erreicht, sondern genau umgekehrt trägt die Entwicklung der Produktivkräfte deutlich zur Festigung und Sicherung der bestehenden Eigentumsverhältnisse bei. Das ist m. E. eine sehr bedeutsame Schlussfolgerung aus diesen Betrachtungen über Marx’ Analyse der Beziehung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.

Die zweite Konsequenz aus diesen Überlegungen bezieht sich auf die Feststellung von Marx im Vorwort von „Zur Kritik der politischen Ökonomie“: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“ 9

Nun sind zwar alle Produktivkräfte entwickelt, die für die Existenz der monopolkapitalistischen Gesellschaft erforderlich sind und sie entwickeln sich ungehemmt weiter, und sie sind auch durchaus hinreichend für die Existenz einer nichtkapitalistischen Ordnung und dennoch geht diese Gesellschaftsformation nicht unter und höhere Produktionsverhältnisse treten in diesen Ländern nicht an ihre Stelle.

Aber gleichzeitig hat Marx auch stets den „nur historischen, vorübergehenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise“ 10 betont. Wenn das richtig bleibt und diese Ordnung nicht das Ende der Geschichte ist, dann muss sich – und das ist die zweite bedeutsame Konsequenz aus diesen Überlegungen – im weltgeschichtlichen Prozess diese Veränderung der Produktionsweise an anderem Ort, als in hochentwickelten Industrieländern, und unter anderen Bedingungen als bei höchstentwickelter Technik, vollziehen.

Und tatsächlich hat der Geschichtsverlauf entgegen den Erwartungen von Marx und Engels gezeigt, dass gerade in Ländern mit sehr niedrigem Entwicklungsstand der Produktivkräfte, mit sehr niedrigem Lebensstandard und mit sehr geringen Demokratie- und Politikerfahrungen eine revolutionäre Situation entstehen kann und dass dies auch gesellschaftsverändernd wirksam zu werden vermag.

So wurde am Ende des ersten Weltkrieges im ökonomisch schwach entwickelten Russland der Zarismus gestürzt. Eine starke Volksbewegung drängte auf Beendigung des Krieges, auf eine radikale Agrarreform und auf die Schaffung von revolutionär-demokratischen Arbeiter- und Bauernsowjets. In den bekannten April-Thesen rief Lenin zur Überleitung der bürgerlich-demokratischen Revolution in die sozialistische Revolution auf.

Interessant ist in unserem Zusammenhang, dass in den damaligen Auseinandersetzungen darüber Plechanow genau mit der vorhin dargestellten These von Marx gegen Lenin argumentierte, dass in einem Land ohne die höchste Stufe des Kapitalismus und ohne die Fesselung der Produktivkräfte durch die Eigentumsverhältnisse es sinnlos sei, die Arbeiter und die Bauernschaft zum Sturz des Kapitalismus aufzurufen.

Ob die Bolschewiki „Zu früh zur Macht gegriffen?“ 11 haben, wird auch gegenwärtig noch oder wieder diskutiert. Einerseits steht Lenins Aufruf zur Machtergreifung in einem so schwach entwickelten Land deutlich im Gegensatz zu der vorhin zitierten These von Marx, worauf sich ja auch Plechanow berief. Andererseits aber stützte sich Lenin ja auch auf Marx, und bei genauem Hinsehen zeigen sich viele Gemeinsamkeiten in der Denkweise von Marx und Lenin. Davon seien hier nur drei wesentliche Aspekte hervorgehoben:

Erstens hat Marx im Herbst 1870 einige Monate vor der Pariser Kommune die Pariser Arbeiter vor dem Versuch gewarnt, die Regierung zu stürzen und er hielt dies für eine verzweifelte Torheit. Als aber der Aufstand ausbrach, begrüßte Marx trotz der schlimmen Vorzeichen diese proletarische Revolution mit der größten Begeisterung. „Marx versteifte sich nicht auf eine pedantische Verurteilung der ‚unzeitgemäßen’ Bewegung“. 12

Zweitens stellte Lenin im Hinblick auf die Möglichkeiten sozialer Revolutionen in seiner Auseinandersetzung mit Kautsky fest: „Gibt es historische Gesetze, die für die Revolutionen gelten und keine Ausnahmen kennen? ... Nein, solche Gesetze gibt es nicht“. 13

Auch damit befand er sich in Übereinstimmung mit Marx und Engels, denn Engels hat schon 1893 im Figaro geschrieben: „... wir haben nicht die Absicht, der Menschheit endgültige Gesetze zu diktieren.“ 14

Lenin hat sich also an den konkreten Bedingungen des Klassenkampfes orientiert statt an abstrakten Gesetzen. Dass er sich auch dabei in Übereinstimmung mit Marx befand, zeigt.

Drittens eine Gedankenführung von Marx in einem Brief an Kugelmann, die in ihrer Weitsicht, die bis zu unseren aktuellen Problemen reicht, so überraschend ist, dass dies hier ganz zitiert sein soll: „Die Weltgeschichte wäre allerdings sehr bequem zu machen, wenn der Kampf nur unter der Bedingung unfehlbar günstiger Chancen aufgenommen würde. Sie wäre andererseits sehr mystischer Natur, wenn ‚Zufälligkeiten’ keine Rolle spielten ... Aber Beschleunigung und Verzögerung sind sehr von solchen ‚Zufälligkeiten’ abhängig – unter denen auch der ‚Zufall’ des Charakters der Leute, die zuerst an der Spitze der Bewegung stehen, figuriert.“ 15

Diese Passage zeigt, dass sich Marx ungeachtet seiner sehr grundsätzlich formulierten Ausgangsthese gegenüber den jeweiligen historischen Bedingungen sehr flexibel verhielt. Mit dem Hinweis auf Zufälligkeiten, die den Geschichtsverlauf beschleunigen oder verzögern können und zu denen insbesondere auch der Charakter von Persönlichkeiten gehört, hat Marx seine mehrfach formulierte These vom unvermeidlichen Zusammenstoß der Produktivkraftentwicklung mit den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen vorsichtig relativiert.

Es ist an der Zeit, diese Hinweise von Marx ernst zu nehmen, zu Ende zu denken und mit dem inzwischen erfolgten Geschichtsverlauf, in Übereinstimmung zu bringen. Denn wenn wir an der ursprünglichen These von der revolutionären Lösung des Konflikts zwischen den hochentwickelten Produktivkräften und den sie fesselnden Eigentumsverhältnissen festhalten, dann hätte Plechanow gegen Lenin Recht gehabt.

Aber nicht nur das. Aus der Behauptung, dass Lenin „den verfrühten Sprung zum Sozialismus wagte“, 16 wird die Frage abgeleitet, ob durch Lenin „und seine Mitkämpfer nicht schon damals politisch-genetische Erblasten entstanden, die die Geschichte des ‚real existierenden Sozialismus’ bis zu seinem Ende beschwerten“. 17 Wäre das richtig, so wären die Fehlentwicklungen des sowjetischen Systems, die dann zu seinem Zusammenbruch führten, bereits durch die verfrühte Oktoberrevolution programmiert und gewissermaßen unausweichlich.

Im Hinblick auf die vielfältigen Diskussionen und unterschiedlichen Bewertungen der Oktoberrevolution sollten aber drei Gesichtspunkte nicht außer Acht gelassen werden.

Erstens geht der oft erhobene Vorwurf, eine kleine Gruppe von Berufsrevolutionären habe diese Revolution „gemacht“, an der Tatsache vorbei, dass ein Großteil der kriegsmüden russischen Soldaten und Matrosen zusammen mit der armen Bauernschaft und den hungernden Industriearbeitern eine revolutionäre Massenbewegung konstituierten. Ohne diese wäre es nicht möglich gewesen, die weiße Konterrevolution unter Koltschak und Denikin zu schlagen, die Interventionsarmeen von 14 feindlichen Staaten aus dem Lande zu treiben und die Sowjetmacht im ganzen Lande fest zu verankern.

Zweitens wird oft vorgehalten, dass die Bolschewiki eine zentralistisch organisierte Partei waren, das Wahrheitsmonopol beanspruchten und keine Demokratie zuließen. So sehr das für die spätere Zeit gilt, hat Lenin in der Frühphase stets den demokratischen Charakter der Sowjetmacht betont. Ohne enge Verbindung zur Bevölkerung hätte Lenin nicht das unbestritten hohe Ansehen im Volke finden können. Ohne enge Beziehung zu den Truppen hätte Trotzki nicht erfolgreich die Rote Armee aufbauen und zum Erfolg führen können. Und studiert man die Dokumente in den Archiven, so ist man überrascht darüber, welche kritischen Auseinandersetzungen in den Führungsgremien von Partei und Staat es gab, wie offen Leo Trotzki und Bucharin, Kamenjew und Sinowjew ihre Meinung vertraten und – mitunter auch gegen Lenin – durchsetzten.

Drittens aber ist für die grundsätzliche Umwandlung einer Gesellschaftsordnung die Leitung dieses komplizierten Prozesses durch eine zielklare und einheitlich handelnde politische Kraft unabdingbar. Im März 1919 wies Lenin auf dem 1. Kongress der Kommunistischen Internationale auf folgendes hin: „Die Geschichte lehrt, dass noch nie eine unterdrückte Klasse zur Herrschaft gelangt ist und auch nicht gelangen konnte, ohne eine Periode der Diktatur durchzumachen, d. h. der Eroberung der politischen Macht und der gewaltsamen Unterdrückung des verzweifeltsten, wildesten, vor keinem Verbrechen zurückschreckenden Widerstands, der immer von den Ausbeutern geleistet wurde.“ Für die Richtigkeit dieser These gibt es genügend Beispiele aus der Geschichte.

Und auch hierbei befindet sich Lenin in Übereinstimmung mit Marx, der schrieb: „Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz.“ 18

Wenn wir also akzeptieren, dass sich das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ins Gegenteil verkehrt hat und wenn wir die relativierenden Hinweise von Marx zu Ende denken, werden konkrete historische Vorgänge der neueren Geschichte erst erklärbar.

Trotz enormer technischer und wirtschaftlicher Rückständigkeit fand in China eine soziale Revolution statt, in deren Verlauf die kapitalistischen und halbfeudalen Eigentumsverhältnisse liquidiert wurden. Entstandene Verzerrungen wie Maoismus und Kulturrevolution wurden überwunden und führten keineswegs zu einem programmierten Zusammenbruch. Die Wirtschaftspolitik beruft sich auf Lenin und die NÖP und es wurde eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Gang gesetzt, die zunächst eine stabile nichtkapitalistische Gesellschaft konstituiert. Laut Programm und Statut bekennt sich die KP Chinas zum Marxismus und zu sozialistischer Entwicklung. In ihren Dokumenten wird betont, dass sich China am Anfang eines sozialistischen Weges befindet, dass dieser Weg lang ist und dass für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft eine historische Periode von etwa 100 Jahren ins Auge gefasst wird.

In Vietnam hat sich das Gleiche vollzogen einschließlich der Vertreibung der US-amerikanischen Invasoren. Das gilt auch für Korea und in ähnlicher Weise für Kuba. Und jetzt wird in einigen südamerikanischen Ländern damit begonnen, ebenfalls diesen Weg zu beschreiten.

Natürlich ist noch keinesfalls endgültig klar, zu welchem Ziel diese Wege führen, welche Hemmnisse dabei zu überwinden sind und welche Irrtümer und Fehler dabei noch zu begehen und zu korrigieren sein werden. Dies ist zu unterstreichen, weil es viele verständliche Zweifel an den Entwicklungsmöglichkeiten in China und Südamerika gibt. Günter Krause hat unbedingt Recht mit der Feststellung, Alternativen zur herrschenden Ordnung werden nicht „für alle Regionen, Ökonomien und Gesellschaften dieser Welt einem stets gleichen Strickmuster folgen.“ 19 Aber wenn in einem halben Dutzend Ländern auf drei Kontinenten eine solche Überwindung kapitalistischer Verhältnisse bzw. die Einleitung dieser Überwindung registriert werden kann, ist sicher nicht mehr von historischen Zufällen oder Ausnahmen zu sprechen. Offensichtlich haben sich die Bedingungen für das Entstehen und Realisieren revolutionärer Situationen dahingehend geändert, dass dies nicht in den hochentwickelten, sondern in den schwach entwickelten Ländern eintritt. Und da diese nicht in Europa und Nordamerika, sondern in Asien und Südamerika liegen, bedeutet dies zugleich eine räumliche Verschiebung historischer Entwicklungszentren.

Dafür ist sicher auch wesentlich, dass dort die alten Herrschaftsapparate korrupt und brüchig waren bzw. sind und die alten politischen und ökonomischen Eliten noch nicht über jenes ausgefeilte und erfahrungsreiche Herrschaftswissen verfügen, welches erforderlich und in den hochentwickelten Ländern vorhanden ist.

Zu diesen Bedingungen gehört gemäß dem Hinweis von Marx an Kugelmann auch der „Charakter der Persönlichkeiten, die zuerst an der Spitze der Bewegung stehen“. Das gilt für Lenin und den Roten Oktober, für den jungen Mao und den „Langen Marsch“, für Ho Chi Minh und Fidel Castro. Wir können nur hoffen, dass es ebenso für Hugo Chavez und Evo Morales einmal gelten wird.

Zu welchen Konflikten es dabei zwischen den antikapitalistischen Staaten und Bewegungen einerseits und den imperialistischen Metropolen kommen wird und wie diese Konflikte ausgetragen werden, ist nicht voraussehbar.

Zunächst geht es darum, die durchaus unterschiedlichen Aspekte revolutionstheoretischen Denkens, welches eben eng mit der Veränderung der Beziehung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen verknüpft ist, neu zu überdenken, sie an den inzwischen gesammelten historischen Erfahrungen zu messen und ihre einzelnen Aspekte widerspruchsfrei ineinander zu fügen, um sich in den historischen Auseinandersetzungen unserer Zeit theoretisch seriös orientieren zu können.

Fußnoten

1 K. Marx, F. Engels, Das Kommunistische Manifest, Hamburg 1999, S. 50

2 K. Marx, Marx-Engels-Werke (MEW) Berlin 1978, Band 13, S. 9

3 K. Marx, F. Engels, Das Kommunistische Manifest, Hamburg 1999 – S. 51

4 ebenda, S. 58

5 MEW, Band 24, S. 506

6 MEW, Band 23, S. 40

7 MEW, Band 7, S. 247

8 Dieter Klein, Notwendigkeit und Möglichkeit sozialer Reformen im Kapitalismus – und über ihn hinaus, in: Links oder lahm? edition ost, Berlin 2006, S. 97/98

9 MEW, Band 13, S. 9

10 MEW, Band 23, S. 252

11 Helmut Bock, Zu früh zur Macht gegriffen?, in: Neues Deutschland, Berlin, 7/8. April 2007 S. 24

12 W. I. Lenin, Werke Berlin, Band 25, S. 426

13 ebenda, Band 28, S. 236

14 MEW, Band 22, S. 542

15 MEW, Band 33, S. 209

16 Helmut Bock, ebenda

17 ebenda

18 MEW, Band 23, Seite 779

19 Günter Krause, Keynesianische Ökonomie für eine „andere Wirtschaft“ – zum pro und contra, in: Keynes als Alternative, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, Seite 112

top