Nicht alles tun?

in (16.06.2008)

Den Staat wegen systematischer Preisgabe, Ghettoisierung und systematischem Raub des gesamten Sektors des unabhängigen kulturellen und sozialen Lebens anklagen!

Am 31. März 2008 veröffentlichte die 2007 in Ljubljana, Slowenien, gegründete, künstlerisch-politisch-theoretische und diskursive Plattform Reartikulacija (Reartikulation) eine Resolution zur Veränderung des Stands der Dinge hinsichtlich der an unabhängige soziale und künstlerische Orte in Slowenien vergebenen Räume und Geldmittel. Diese war an den Bürgermeister der Stadt Ljubljana, an die Regierung und einzelne Sektoren der Regierung der Republik Slowenien ebenso gerichtet wie an das Parlament der Republik Slowenien. Die Resolution war im Anschluss an eine am 27. März 2008 im temporären autonomen Zentrum Rog in Ljubljana abgehaltene Plattform verfasst worden. Es ist wichtig festzuhalten, dass diese öffentliche Plattform im Rog sich als Folge eines persönlichen Besuches des Bürgermeisters Jankovic zusammengefunden hatte, der das Zentrum spät am Abend des 20. März 2008 aufgesucht hatte.

Dieses persönliche Erscheinen deutet auf den Ausnahmezustand, der in der Sphäre der unabhängigen und nicht-institutionalisierten Kunst- und Kulturszene in Ljubljana eingeleitet wurde. Es stellt eine beispiellose Einschüchterung und eine Beeinträchtigung der Rechte slowenischer BürgerInnen dar, ebenso wie eine Rache und Bedrohung durch den Bürgermeister als Repräsentanten der Stadt. Dieser mutierte in jenen nächtlichen Stunden zu einem Wild-West-Sheriff, der die AktivistInnen des Sozialen Zentrums persönlich bedrohte und für die BürgerInnen des Viertels, in dem das Rog sich befindet, ein Theater der Einschüchterung aufführte. Die Ausnahme funktioniert als Mechanismus differenzierter Inklusion, selbstverständlich auch der BürgerInnen des Stadtteils.
Das Soziale Zentrum Rog ist - so die Selbstbezeichnung der NutzerInnen - ein temporär organisiertes Zentrum von AktivistInnen und unabhängigen KünstlerInnen in einem ehemaligen Industriekomplex mitten im Zentrum von Ljubljana. Es liegt ganz in der Nähe eines weiteren unabhängigen Zentrums, das, anders als Rog, von der unabhängigen und alternativen Szene Anfang der 1990er Jahre besetzt worden war. Man kennt es als Metelkova City und in den letzten fünfzehn Jahren stand es für einen Ort der Kämpfe innerhalb der Stadt. Im Gegensatz zu Rog war Metelkova ein bestens ausgestatteter Armeebarackenkomplex (der ex-jugoslawischen Armee), der nach der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens 1991 leer stand. In den 1990er Jahren hatte die Stadtverwaltung versprochen, es der unabhängigen Szene für Kunst und Kultur zu überlassen, aber in der Zwischenzeit begannen sie insgeheim, den Komplex zu zerstören, um dort eine Shopping Mall zu errichten. Das führte zur Besetzung des Komplexes 1993. Der Ausgang des Kampfes um den Ort und die Regelung seines Status´ ist nach wie vor offen.

Warum nun kam der Bürgermeister persönlich, um "die Dinge zu regeln"? Die Intention war, einen Ausnahmezustand herzustellen, um eine Lösung vorschlagen zu können, die in der Räumung des Sozialen Zentrums Rog besteht. Die Form, die dafür entwickelt wurde, ist die so genannte Gouvernementalität - die dominante Form des Regierens aller sozialen Sphären im neoliberalen Kapitalismus. Eine solche Perspektive mischt die Karten im Zusammenhang der Debatten rund um sozialen Ungehorsam neu: Die Gouvernementalität besteht vor allem darin - und ich beziehe mich dabei auf Giorgio Agamben -, einen Konflikt abzuschaffen. Sie tendiert zur vollständigen Suspendierung von Konflikten. Gouvernementalität bedeutet, zunächst das Interesse an sozialer Regulierung abzuschaffen und am Ende schließlich zu intervenieren. Nach einem ausgiebigen Prozess der Nicht-Interventionen, die als "Demokratie und Respekt" angesehen werden (so wie jede Entscheidung als eine abrupte, heftige Einmischung der Autoritäten angesehen wird), schreiten die Autoritäten ein. Dies ist zugleich die allgemeine Haltung in den globalen neoliberal kapitalistischen Gesellschaften, in denen jeder Konflikt, jede direkte Frage, die dazu dient, eine gegebene Situation zu klären, als Störung der erreichten "Normalität" betrachtet wird. Letztlich sind dann die PolitikerInnen gefragt, einzuschreiten und Frieden zu stiften.

Santiago López Petit schreibt, dass der Diskurs um bürgerliches Verhalten zwei Elemente impliziert und erfordert: Das erste ist der Kriegsstaat (war state), der ein neoliberal kapitalistischer Mechanismus auf Krieg basierender Ordnung ist, und der zweite ist postmoderner Faschismus. Das bürgerliche Verhalten, argumentiert Petit, bestimmt heutzutage auf fadenscheinige Art und Weise das Auftreten eines Großteils der Bevölkerung im sozialen und politischen Leben, während andererseits der gegenwärtige globale Kapitalismus versucht, solches Auftreten zu depolitisieren, indem er "Leute, die auf die Straße pinkeln" und "Protestierende, die für die Verbesserung der sozialen Verhältnisse eintreten" als ein und dieselbe Gruppe von BürgerInnen darzustellen versucht. Der Staat kategorisiert sie als zwei Sorten von Kriminellen. Petit schreibt, der postmoderne Faschismus erkenne Differenzen an, um sie für die Vereinheitlichung der Ordnung zu nutzen. In diesem Kontext, argumentiert Petit, ist die Verteidigung der individuellen Autonomie tatsächlich eine Form der Kontrolle. Individuellen Wahlfreiheit allein bedeutet, dass sich nichts wirklich ändert!
Der Bürgermeister von Ljubljana verfolgt den Plan, das Stadtzentrum in "Little Manhattan" zu verwandeln, d. h. die Stadtmitte in ein höchst unternehmerisches und luxuriöses Viertel umzuwandeln, das nur noch die KulturarbeiterInnen und KünstlerInnen loswerden muss, die Kunst als soziale Beziehung im Rahmen einer emanzipatorischen Politik praktizieren. Dieser Prozess wird den Stadtteil in ein prestigeträchtiges, unternehmerisches Zentrum mit hohen Mieten, hohen Preisen und einer Beeinträchtigung hinsichtlich des Zugangs zu den eigenen Wohnhäusern (im Namen der "Sicherheit" und der "Verbrechensprävention") transformieren. Diese neue Vision der Stadt ist die Vision eines technokratischen und brutalen neoliberalen globalen Kapitalismus, der die Privatisierung aller nationalstaatlichen Güter und jedes öffentlichen Raumes nach den Anforderungen des Kapitals und der unternehmerischen Elite in Stadt und Staat umfasst, indem das Stadtzentrum in eine nach Maß gefertigte Europäische Stadt verwandelt wird (Kopenhagen, London, Berlin, Wien, etc.). Die komplette Privatisierung der Stadt muss im Zusammenhang mit den Maßnahmen der slowenischen Regierung in ganz anderen Bereichen gesehen werden, in denen sie das eiserne Gesetz der Privatisierung, der Übergriffe auf und Begrenzungen von Rechte(n) betreibt. In Kunst und Kultur wird dies durch das nationale Kulturprogramm für die Zeit von 2008 bis 2011 gesetzlich durchgesetzt. Im sozialen und politischen Bereich wird es durch die "nekropolitischen" Maßnahmen des Staates in Bezug auf die 18.305 so genannten "Ausgelöschten" bekräftigt, die seit 1992 in Slowenien ohne Papiere leben; die Papiere der "ausgelöschten" Personen, meist ArbeiterInnen aus anderen ex-jugoslawischen Republiken, waren auf der Basis einer illegalen Verwaltungsvorschrift konfisziert worden, die die damaligen slowenischen Machthaber erlassen hatten. Eine dritte Ebene ist die "rachsüchtige Politik", die mit dem neuen slowenischen Strafrecht (2008) eingesetzt wurde. Um die nekropolitischen, vom slowenischen Staat veranlassten Maßnahmen gegenüber den "Augelöschten" zu verstehen, muss die mögliche Intensivierung der Foucault´schen neoliberal-kapitalistischen Biopolitik in eine turbo-kapitalistische Nekropolitik in Betracht gezogen werden. Die "ausgelöschten", sämtlichen Papieren beraubten Personen werden gewissermaßen einem Prozess des symbolischen und realen Todes überlassen. Dies ist keine "klassisch" biopolitische Regulierung des Lebens von BürgerInnen. Die "Ausgelöschten" können nicht zur Arbeit oder zum Arzt gehen oder Pension beziehen: Ihnen wird jede Würde und sogar die Möglichkeit geraubt, das Land zu verlassen (eben weil sie keine Papiere haben). In seinem Essay Nekropolitics hat Achile Mbembe 2003 Nekropolitiken als die Schaffung eines Ausnahmezustands beschrieben, in dem das Leben vom Standpunkt der Macht über den Tod aus kontrolliert und reguliert wird. In einer ähnlichen Lage wie die "Ausgelöschten" befinden sich heutzutage Tausende von AsylbewerberInnen in der Europäischen Union.

Der Ausnahmezustand, der im Sozialen Zentrum Rog, eingeleitet wurde, ist nicht auf Kultur und Kunst allein beschränkt, und er betrifft nicht nur - wie die Massenmedien uns glauben machen wollen - eine Hand voll "marginalisierter BürgerInnen Sloweniens". Vielmehr wird er alle betreffen, selbst die "am meisten an eine angepasste Stadtviertel-Gemeinschaft angepassten BürgerInnen". Das eigentliche Ziel ist nicht nur die Schließung des Sozialen Zentrums Rog, sondern auch die von Metelkova City. Dies geschieht mittels eines ungerechten Systems der Verteilung finanzieller Ressourcen durch die Stadt und den Staat, die eine konsistente Politik der Verelendung, Behinderung und letztlich der Abschaffung einer unabhängigen kulturellen, sozialen und politischen Szene in Ljubljana und Slowenien insgesamt betreiben. Die gegenwärtige Politik der systematischen Zerstörung der unabhängigen Szene in Ljubljana ist das Ergebnis einer langen Geschichte. Diese Prozesse können als Prozesse der Entleerung und der Produktion von Gedächtnisverlust auf verschiedenen Ebenen von der Produktion bis zur Geschichte der unabhängigen Szene beschrieben werden. Sie werden von Organen und bürokratischen Apparaten des Staates, der Stadt und ihren besonderen Einrichtungen vom Kulturministerium bis zu den repressiven Apparaten unterstützt, organisiert und realisiert.

Es gibt drei Ebenen, die systematisch zusammen funktionieren: Erstens der bürokratische Apparat, der hinter der nationalen Kulturpolitik steht, seine gesetzgeberische Regulation und seine Finanzierungspolitik im Hinblick auf Kunst und Kultur. Zweitens ein still schweigender Konsens mit diesem Apparat, ausgehend von den nationalen Kulturinstitutionen, also den offiziellen Kultureinrichtungen, die vollständig innerhalb jener Prozesse mitwirken, die sich gelegentlich auch gegen sie selbst richten (wie im Falle der Moderna Galerija). Drittens die Hilfe von zahlenlosen diskursiv-theoretisch-kritischen und massenmedialen Vorgängen, die Schreiben ebenso implizieren wie kuratorische Praxen, Medienpräsentationen etc.
Der am meisten versteckte Prozess dieser "Entleerung" ist jener, der von den nationalen, offiziell unterstützten Kulturinstitutionen in Gang gesetzt wurde. Und dies ist zugleich die unanständigste Art und Weise, den gegenwärtigen Status Quo aufrechtzuerhalten. Anstatt irgendeine Form der Reorganisierung und der Umverteilung staatlicher Ressourcen zu befürworten, betreiben die Institutionen eine Form der Wieder-Aneignung verschiedener unabhängiger Projekte. Die Kannibalisierung oder die Übernahme dieser Projekte weist in keiner Weise auf die dahinter stehende soziale, politische oder konzeptuelle Haltung. Was wir hier erleben, ist institutioneller Vampirismus - das ist das Hauptmerkmal offizieller Institutionen der Gegenwart (legalisierter Vampirismus, der hauptsächlich der Durchsetzung und der Erweiterung der Infrastruktur der offiziellen und nationalen Kulturinstitutionen dient, insbesondere jener, die als von nationaler Bedeutung eingeschätzt werden). Offizielle Institutionen haben sich den Modus der unabhängigen Szene angeeignet, ohne irgendwelche Privilegien zu opfern und ohne über die sozialen Beziehungen zu reflektieren, die von den unabhängigen Szenen entwickelt worden sind. Dieser Vampirismus wird auch vom Staat und den Stadtverwaltungen umgesetzt; sie eignen sich die Sprache und Modelle an, die vorab aller Bedeutung entleert werden.

All dies hängt mit dem Prozess der Dekontextualisierung zusammen, der einen leeren Raum produziert, eine "leere Zeit" (Walter Benjamin) in der Geschichte. Auf diese Weise werden wir ZeugInnen einer Konstruktion von Geschichte, in der alternative und unabhängige Praxen von großer Wichtigkeit vollständig ausgelöscht/entleert werden. Kunst- und Kulturveranstaltungen werden popularisiert und romantisiert und individuelle Projekte werden ab ovo präsentiert. Ähnliche Prozesse finden in der Theorie, der Kritik und den populistischen Medien statt. Das rechte politische Lager schreibt eine Geschichte, die den slowenischen nationalen Raum glorifiziert, aus dem alles, was den internationalen Kontext oder alles, was eine Bedrohung des nationalen Mythos repräsentiert, ausgeklammert wird, während die populistische Linke der Mitte alles auf die Yuppie-Elite und die KulturmanagerInnen setzt. Weder die Linke noch die Rechte zeigen eine Neigung für die unabhängige kulturelle Produktion, die durch die Realisierung ihrer Projekte den Raum und seine Verhältnisse zu kodieren und ihren Ort innerhalb der politischen, sozialen, ästhetischen und theoretischen Sphäre einzunehmen anstrebt.

Neben diesem institutionellen Vampirismus besteht die effizienteste Methode (zur Durchsetzung dieses Modells) in der Kontrolle der Geldmittel. Mittels dieser Kontrolle wird eine heftige Zensur betrieben. Anders als unabhängige Produktionszentren, werden nationale kulturelle Institutionen nicht nur finanziert, um ihre Programme zu realisieren, sondern sie werden zudem mit finanziellen Ressourcen ausgestattet, allein um als solche zu existieren, als Institutionen per se. All dies führt geradewegs zur weiteren Ermächtigung von Macht- und Autoritätssystemen, zu heftiger Hierarchisierung von Institutionen und zur Schaffung einer vollkommenen sozialen Unbeweglichkeit, die jede Möglichkeit der Veränderung eliminiert.
Wegen der konstanten Repression gegen die unabhängige Szene, betrieben durch die fortgesetzten Prozesse der Verarmung und Diskriminierung, durch systematische Übergriffe auf gesetzlich verbürgte Menschen- und BürgerInnenrechte, legte die Resolution von Reartikulacija einen Vorschlag vor, der sich an das Verfassungsgericht der Republik Slowenien und an die zuständigen europäischen Gerichte wandte. Die Idee war, Slowenien wegen seiner systematischen Preisgabe, Ghettoisierung und des systematischen Raubs des gesamten Sektors des als unabhängige Szene bekannten, kulturellen und sozialen Lebens in Slowenien zu verklagen.

Literatur:
Giorgio Agamben 2004: Ausnahmezustand, Frankfurt a. M. 2004 (Suhrkamp Verlag).

Santiago López Petit 2007: A civic democracy: a new form of controll,
http://www.zemos98.org/spip.php?article585 (13.05.2008)

Achille Mbembe 2003: Necropolitics. Public Culture 15, no. 1 (Winter),

Reartikulacija: http://www.reartikulacija.org/

Aus dem Englischen übersetzt von Jens Kastner.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "nicht alles tun", Wien, Sommer 2008.