Großer Sprung, tiefer Fall

in (25.08.2008)
Eine Revolution befreite China vom Imperialismus und brachte die Kommunistische Partei an die Macht. Ulrike Eifler schildert die Grenzen dieser Entwicklung und wirft einen kritischen Blick auf Maos Marxismus.

Am 1. Oktober 1949 wehen tausende rote Fahnen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Zehntausende jubeln Mao Zedong zu, als er dort die Volksrepublik China ausruft. Seine Revolution hat gesiegt und China vom Joch der kolonialen Unterdrückung befreit. Die chinesische Revolution war eine der ersten erfolgreichen nationalen Befreiungsbewegungen und inspirierte Antiimperialisten in vielen Teilen der Welt. Im Zentrum der Bewegung standen die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) und ihr charismatischer Vorsitzender Mao Zedong.

Die KPCh hatte sich in den 30er und 40er Jahren eine Massenbasis unter den Bauern aufgebaut. Sie organisierte erfolgreich bewaffneten Guerilla-Widerstand gegen Fremdherrschaft, zuerst gegen die Engländer, dann gegen die Japaner. Schätzungsweise 1,5 Millionen Soldaten kämpften in der Roten Armee, unterstützt von bis zu 2 Millionen Milizionären. Die große Mehrheit der 500 Millionen Menschen in China befürwortete die Revolution. Die Kommunisten versprachen Frieden und ein besseres Leben für alle.

Trotzdem war dies keine sozialistische Revolution. Als die Rote Armee durch die Städte zog, versammelten sich die Arbeiter zwar, um sie zu begrüßen und zu winken. Aber die Arbeiterklasse spielte keine aktive Rolle im Kampf gegen die imperialistische Besatzung.

Im Gegenteil: Die Kommunistische Partei Chinas war vollständig von der Arbeiterklasse getrennt. Die Führer der KPCh taten alles, was in ihrer Macht lag, um Aufstände in den Städten am Vorabend ihrer Eroberung durch die Rote Armee zu verhindern.

Kurz vor der Eroberung Shanghais beispielsweise gab Mao eine Sondererklärung heraus, in der es unter anderem hieß: „Wir hoffen, dass die Arbeiter und die Angestellten aller Industriezweige weiter arbeiten und dass das Geschäftsleben seinen gewöhnlichen Gang nimmt (...)." Beamte, Staatsangestellte und Polizeipersonal „sollen auf ihrem Posten bleiben und den Befehlen der Volksbefreiungsarmee der Volksregierung Folge leisten."

Die Arbeiterklasse gehorchte und blieb weitgehend tatenlos. Ein Bericht aus Nanking vom 22. April 1949, zwei Tage bevor die Stadt von der Volksbefreiungsarmee besetzt wurde, umreißt die Situation folgendermaßen: „Die Bevölkerung von Nanking zeigt keine besonderen Anzeichen der Aufregung. Neugierige Mengen versammelten sich heute morgen an der Flussmauer, um das Schieß-Duell auf der anderen Seite des Flusses zu beobachten. Das Geschäftsleben läuft wie gewöhnlich. Einige Geschäfte sind geschlossen, aber das ist auf mangelnde Nachfrage zurückzuführen (...) die Kinos haben immer noch volles Haus."

Dort, wo Arbeiter trotzdem Fabriken unter ihre Kontrolle brachten, wurden diese nach dem Einmarsch der Roten Armee wieder an die Geschäftsleitung übergeben. Dieser Verlauf der Revolution bestimmte auch den Charakter des neuen Staates. Zwar war die KPCh mit der Bevölkerung verbunden, aber sie war nicht demokratischer als die alte herrschende Klasse. Es gab keine Wahlen, die Arbeiter kontrollierten nicht die Fabriken und die Bauern nicht die Dörfer.

Der neue Staat war eben keine Arbeiterrepublik, sondern angeblich eine Volksrepublik. Laut der Verfassung der Volksrepublik China von 1949 waren auch die Unternehmer Teil des Volkes.

Im Interesse der nationalen Einheit und der Machtstellung der Partei wurde der Übergang zur vollständigen Verstaatlichung des Privatbesitzes an Produktionsmittel hinausgezögert. Der damalige Minister für Schwerindustrie Chen Yun versicherte 1950: „In China, dessen Industrie rückständig ist, wird es ein Fortschritt sein und dem Land und dem Volk zugute kommen, wenn die nationalen Kapitalisten die Industrie entwickeln und lange Zeit dort ihre Investitionen tätigen".

In diesem Rahmen sahen die Kommunisten die Selbstaktivität der Masse der Arbeiter und Bauern als eine Bedrohung an. Deswegen waren auch die neu eingeführten Staatsgewerkschaften keine wirklichen Verteidigungsinstrumente der Arbeiterklasse. Sie waren eher der verlängerte Arm der KPCh-Führung, um ihre Vision der Industrialisierung Chinas durchzusetzen. In einem Erlass der Regierung vom 10. Mai 1953 heißt es, die Aufgabe der Gewerkschaften sei es, „(...) die Arbeiter dazu zu erziehen, dass sie die Gesetze und Erlasse des Staates gewissenhaft befolgen, für die Entwicklung der Produktion kämpfen sowie für die beständige Steigerung der Arbeitsproduktivität und die Erfüllung beziehungsweise Überfüllung der Produktionspläne des Staates."

In diesem Sinne wurden unter dem Druck, die Industrialisierung des Landes voranzutreiben, Sondergerichte organisiert, um mit Gefängnisstrafen gegen Wirtschaftsverbrechen vorzugehen. Zu diesen „Verbrechen" zählten: Fahrlässigkeit, dauerndes Fehlen am Arbeitsplatz, unsachgemäße Behandlung von Material oder Nicht-Beachtung von Vorschriften.

Dennoch gab es Anfang der 50er Jahre eine wirkliche Verbesserung des Lebensstandards der meisten Chinesen. Die Rote Armee brach die Macht der Großgrundbesitzer auf dem Land. Die neue Regierung brachte die Inflation und die hohe Arbeitslosigkeit unter Kontrolle. Das 1952 verabschiedete Gesetz zur Hochzeit beendete die absolute Kontrolle des Mannes über das Leben der Frau. Auch im Schulwesen gab es fortschrittliche Reformen.

Doch die Pläne der KPCh waren ehrgeiziger. Im Eiltempo sollte sich China in eine moderne Großmacht verwandeln. Das Ziel einer eigenständigen nationalen Entwicklung verband die alten Beamten, Kapitalisten und Armeeoffiziere mit der Parteimaschine der KPCh. Mit Sozialismus von unten hatte der Aufbau der Volksrepublik China deswegen nichts zu tun. Die chinesische Revolution war eine erfolgreiche nationale Befreiungsbewegung, geführt von einer Guerillaarmee von Berufssoldaten. Die fehlende Selbstaktivität der Arbeiter gegen japanische Aggressoren und chinesische Nationalisten verhinderte, dass den Arbeitern eine führende Rolle beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zukam. Die Partei wurde zum Stellvertreter sozialistischer Politik und stieg schnell zur politischen Elite des Landes auf (siehe Hintergrund: „Die Wandlung der KP").

 


Industrialisierung statt Arbeiterrepublik

Die langen Jahre der kolonialen Besatzung und des Kampfes hatten zur Folge, dass China im Jahre 1949 ein rückständiges Entwicklungsland war. 65 Prozent des Bruttoproduktionswertes stammten aus der Landwirtschaft. Nur 4 Millionen der damals 500 Millionen Chinesen waren in der Industrie tätig. Das durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen betrug 54 US-Dollar gegenüber beispielsweise 6000 US-Dollar in Großbritannien.

Außerdem hatte der langjährige Bürgerkrieg nicht nur die bestehende Infrastruktur weitgehend zerstört, sondern auch die Möglichkeiten zur Befriedigung grundlegender gesellschaftlicher Bedürfnisse gelähmt. Das Gesundheits- und Bildungswesen waren unterentwickelt. Die Lebenserwartung wurde auf durchschnittlich 28 Jahre geschätzt, die Analphabetenquote lag bei 80 bis 85 Prozent.

Unter diesen Bedingungen trieb die KPCh den Aufbau einer industriellen Basis um jeden Preis voran. Die Akkumulation (Anhäufung) von Kapital, die Marx als einen wichtigen Charakterzug des Kapitalismus erkannt hatte, war in China nun ironischerweise das zentrale Ziel der Wirtschaftspolitik der Kommunisten. Die Produktion für die Bedürfnisse der Menschen kam an zweiter Stelle.

Doch es herrschte eine große Kluft zwischen den Vorstellungen der KPCh zur wirtschaftlichen Entwicklung Chinas und den verfügbaren materiellen Ressourcen. Mao versuchte, diesen Konflikt in voluntaristischer Weise zu lösen. Fehlendes Kapital und materielle Ressourcen sollten durch harte Arbeit und übermenschliche Anstrengungen der Bevölkerung ersetzt werden.

1958 rief Mao Zedong den „Großen Sprung nach vorn" aus. Unter der Parole „Unter Anspannung aller Kräfte immer vorwärts strebend, mehr, schneller, besser und wirtschaftlicher den Sozialismus aufbauen" sollte die Stahlproduktion verdoppelt und Großbritannien in den nächsten 15 Jahren hinsichtlich der Produktion der wichtigsten Waren überholt werden. So wurden 1958 alle Bauern in den so genannten Volkskommunen zusammengefasst. In ganz China gab es 24.000 Volkskommunen, in denen jeweils etwa 20.000 Menschen arbeiteten. Das ganze Land und andere Produktionsmittel wie Vieh und Pflüge wurden zum Gemeineigentum der Kommune erklärt. Neben dem landwirtschaftlichen Betrieb sollten die Kommunen industrielle Unternehmen sowie Erziehungs- und andere soziale Einrichtungen wie Schulen, Kinderkrippen und Krankenhäuser besitzen und leiten.

Die Kommunen waren jedoch nicht demokratisch, sondern militärisch organisiert. Die Arbeitskräfte wurden zentral verwaltet und in Arbeitsbrigaden eingeteilt. Die Kommunenleitung gab Anweisungen an die Arbeitsbrigaden, die ihrerseits wieder in verschiedene Produktionsgruppen unterteilt wurden. Die Bauern wurden gezwungen, rund um die Uhr zu arbeiten.

Trotzdem scheiterte der „Große Sprung nach vorn" an seinen unrealistischen Zielen. Die Antwort waren neue unrealistische Ziele, das Ergebnis eine Katastrophe. Manche Volkskommunen griffen zu Notmaßnahmen, um die ihnen gesetzten hoch gesteckten Ziele zu erfüllen. In Nacht-und-Nebel-Aktionen demontierte man Eisenbahnschienen, die eingeschmolzen wurden, um die Qualität des produzierten Stahls zu heben.

Neben den katastrophalen Auswirkungen auf die Infrastruktur führte die übertriebene Stahlproduktion auch zu einem extremen Mangel an Arbeitskräften auf dem Land. Nur 40 Prozent der Bauern befanden sich auf den Feldern. Bei Wintereinbruch stand nicht genug warme Kleidung zur Verfügung, so dass viele Produktionsbrigaden nicht mehr auf den Feldern arbeiten konnten. Zudem hatte die Überbetonung der Stahlproduktion die Volkswirtschaft so geschwächt, dass die geringer werdenden Erntemengen der folgenden Jahre nicht durch andere Waren ausgeglichen werden konnten.

Der „Große Sprung nach vorn" führte zu einer fürchterlichen von der Regierung selbst verursachten Hungersnot. Bis 1962 verhungerten schätzungsweise 30 Millionen Menschen. In manchen ländlichen Gebieten starben bis zu 40 Prozent der Bevölkerung. Millionen ernährten sich in ihrer Verzweifelung von Gras, Blättern oder Baumrinde.

China verlor bis 1962 wieder nahezu allen Wirtschaftszuwachs, den es zuvor erreicht hatte. Die Folge waren schwere ökonomische Schäden. Doch nicht nur die Produktion brach ein, sondern auch der Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten sank rapide ab.

Von Mao zu Deng

Als die Zerstörung und das Chaos des „Großen Sprungs nach vorn" sichtbar wurden, wandte sich die Mehrheit der herrschenden Klasse in China gegen Mao. Mao Zedong wurde von seinen Kollegen in der chinesischen Führung getadelt und verlor einen großen Teil seiner Macht. Hinter den Kulissen der politischen Bühne tobte jetzt ein erbitterter Machtkampf um die wirtschaftspolitische Strategie.
Ab 1966 versuchte Mao mit der „Großen Proletarischen Kulturrevolution" seine Macht gegenüber realen und vermeintlichen Gegnern in der kommunistischen Partei zu behaupten. Getragen von hunderttausenden Studenten und Schülern stürzte die Kulturrevolution China erneut in einen blutigen Bürgerkrieg. Die Auswirkungen der Kulturrevolution stellten sich als drastischer heraus, als Mao es beabsichtigt hatte. Die Zustände von Anarchie und Gewalt zwangen Mao schließlich zum Eingreifen und er beauftragte die Rote Armee mit der Wiederherstellung der Ordnung.

Am Ende des fast 10 Jahre andauernden Konflikts stand die KPCh erneut vor einen Scherbenhaufen. Das Ergebnis war die schwerste Wirtschaftskrise seit 1961. Die Wachstumsraten für die Wirtschaft gingen in vielen Bereichen zurück und erreichten 1976 einen Tiefstand. Stagnierender Lebensstandard, Wohnungsknappheit und Engpässe in vielen Bereichen des täglichen Lebens waren die Folgen. Erst nach Maos Tod 1976 setzte eine neue Wirtschaftspolitik ein. Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise Mitte der 70er Jahre setzte Deng Xiaoping 1978 eine Öffnung der Wirtschaft für ausländisches Kapital durch. Damit einher ging die Privatisierung einiger ehemaliger Staatsbetriebe und die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die wirtschaftspolitische Strategie der KPCh enormen Schwankungen unterworfen war und zwischen zögerlicher Privatisierung und absoluter Kollektivierung sowie Verstaatlichung wie zwischen zwei Polen hin- und hergezogen wurde. Dabei engten die objektiven ökonomischen Bedingungen Chinas den Spielraum für die politische Führung massiv ein. Der britische Marxist Tony Cliff beschrieb die enormen ökonomischen Entwicklungsschwierigkeiten Chinas mit einem Querverweis auf Russland: „Stalin versuchte, Russland an den Stiefelriemen industriell und militärisch emporzuziehen, Mao versuchte dasselbe mit einem Land ohne Stiefel und Riemen". Ihren politischen Ausdruck fanden diese ökonomischen Probleme in halsbrecherischen Kampagnen und der zunehmenden Loslösung von der sowjetischen Bevormundung bis hin zum vollständigen Bruch.

Das heutige Wirtschaftswachstum ist das Ergebnis einer brutalen Industrialisierung, die auf den Rücken von Millionen Arbeitern und Bauern betrieben wurde. Die Grundlage dafür lieferten die ökonomischen Reformen Deng Xiaopings Ende der 70er Jahre. Mit Sozialismus hat diese Entwicklung nichts zu tun, sie ist vielmehr die Folge der nationalen Entwicklung Chinas.

Zur Autorin:
Ulrike Eifler ist Landesvorsitzende der LINKEN in Hessen. Sie hat Politologie und Sinologie an der Universität Marburg studiert. Letztes Jahr erschien ihr Buch "Neoliberale Globalisierung und die Arbeiterbewegung in China" (Ibidem 2007).

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