Form und Sinn im Museum. Otto Neurath aktualisieren

in (01.09.2008)

Was ist eine Ausstellung? Mit dem Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum beantwortete Otto Neurath diese Frage im Roten Wien in einer Weise, die mit damaligen wie heutigen musealen Konventionen und Vorstellungen brach. Eine Ausstellung hatte ihm zufolge nämlich weder mit der Präsentation künstlerischer Arbeiten noch mit der Zurschaustellung pretiöser, kurioser Objekte zu tun. Eine Ausstellung sollte vielmehr die Gesellschaft adressieren - und zwar nicht als Selbstzweck, sondern im Hinblick auf ihre Veränderung.
Um sein Projekt zu verwirklichen, konnten Neurath weder Objekte noch Fotografien genügen. Wenn gesellschaftliche Strukturen auf Film und Foto zu veranschaulichen wären, meinte er, dann hätte er diese gerne gezeigt. Aber so wirksame und unsichtbare Phänomene wie Machtverhältnisse oder soziale und ökonomische Prozesse lassen sich nicht mit dem bloßen Auge erfassen. Ebensowenig können sie Neurath zufolge anhand von Objekten aufgezeigt werden, die als „wertvoll und selten" gelten. „Nicht darauf kommt es an, gefühlsbetonte Gegenstände zu vereinigen", schreibt er „sondern darauf, die Sammlung der instruktiven Abbildungen, Modelle usw. derart zu gestalten, daß sie ein systematisches Ganzes ist, ein wirklicher Lehrgang für jeden, der ohne Vorbereitung sich mit gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Fragen beschäftigen will."[1] Um das Ausstellen solchermaßen neu zu denken, um das Wissen zu demokratisieren und zu dezentralisieren, galt es, neue Formen zu entwickeln: Formen der Gestaltung und der Bildung. Und so entwarf er gemeinsam mit dem Künstler Gerd Arntz eine neue Methode der Darstellung: die grafische Bildstatistik. Und entwickelte eine neues Museumsmodell: Das Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum hatte keine Sammlungen, es war ein Ort der Kommunikation.
In den letzten Jahren meldete sich von unterschiedlichen Seiten ein neues Interesse an Neuraths Ausstellungs- und Museumsprojekten. Alice Creischer und Andreas Siekmann aktualisierten die bildstatistischen Visualisierungen von Neurath und Arntz für gegenwärtige global-neoliberale Verhältnisse, GrafikdesignerInnen und -theoretikerInnen wie Erwin Bauer und Frank Hartmann beschäftigten sich mit der Demokratisierung des Wissens durch Bildsprache, Hadwig Kräutler widmete sich den Ausstellungen als Kommunikationsräume aus museologischer Perspektive und kürzlich erschien bei dem niederländischen Verlag Nai Publishers ein reich bebildeter Band, der sich Neuraths Projekten aus urbanistischer Sicht zuwendet. Was erscheint nun so aktuell an diesem Museumsprojekt der Zwischenkriegszeit? Eine mögliche Antwort soll hier anhand von vier Aspekten versucht werden: Information, Dezentralisierung, Kommunikation und gesellschaftliche Relevanz.

Info-Ausstellungen
Neurath stellte sich die Frage, wie institutionelle Rahmenbedingungen geschaffen werden könnten, die eine Demokratisierung von Wissen und Kultur ermöglichen würden. Diese sollte durch die Präsentationsweise stattfinden und damit untrennbar verbunden durch die Themenwahl: Es ging um die sozialen und ökonomischen Bedingungen im urbanen Raum. Ziel war es, Informationen, Kontexte, Daten und Fakten so zur Verfügung zu stellen, dass sie für die BetrachterInnnen relevant werden konnten. Gerne betonte Neurath, dass sein Museumsprojekt sich von den klassischen Museen grundsätzlich unterscheide: Diese erschienen ihm als rituelle Institutionen bürgerlichen Wissens, die mit ihren kleinen Labels und einschüchternden Objekten viel mehr der Selbstbestätigung dienten als der Information.
Die Info-Ausstellungen Neuraths präsentierten freilich kein Wissen als Selbstzweck, ihr Ziel war die Ermächtigung der BesucherInnen. Diese sollten Einblicke, Fakten und Kontexte zu den gesellschaftlichen Verhältnissen erhalten - nicht nur um sie zu kennen, sondern auch und vor allem um sie zu transformieren. Es handelte sich insofern um ein Projekt, das eine spezifische Form der Bildung von Kenntnissen und Fertigkeiten entwickelte: Frigga Haug benutzte dafür einmal den Begriff „Veränderungswissen"- Wissen mit politischem Sinn.
Um diese breite Form des Wissenstransfers und der Wissensproduktion stattfinden zu lassen, wurden neue grafische Techniken und eine neue visuelle Sprache entwickelt: Die Wiener Methode der Bildstatistik[2]. Diese sollte wissenschaftliche Zusammenhänge und gesellschaftliche Verhältnisse für die Massen zugänglich machen. Mit der Visualisierung sollte die Kluft zwischen Sehen und Lesen durchbrochen und klassische Gewohnheiten der Bildung durch lange Prozesse der Erklärung überwunden werden. Einfache Grafiken machten Ungleichverteilungen sowie Arbeitslosenraten oder Krankheitsdaten schnell sichtbar. Das Motto bestand darin, dass es besser sei, sich vereinfachte Mengenbilder zu merken, als genaue Zahlen zu vergessen. 1929 begann die Zusammenarbeit mit dem konstruktivistischen Zeichner Gerd Arntz, der Linoleumschnitt als Mittel der Vervielfältigung einsetzte und auf Basis von Neuraths konzeptuellen Überlegungen den einheitlichen visuellen Stil prägte - klare Formen mit politischem Sinn.

Kommunikationsräume
Das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum (1924 am Fuchsenfeld in Wien 5 gegründet und ab 1927 auch in der Volkshalle im Wiener Rathaus) sollte nicht nur Ort des Wissenstransfers von oben sein: Im Museum sollte öffentlich diskutiert werden. So wurde mit eigenen Kommunikationsräumen eine Infrastruktur für Debatten zur Verfügung gestellt. Auch die Rahmenbedingungen brachen mit jenen des klassischen Museums zugunsten einer breiten Öffentlichkeit: Es gab vorwiegend Abendöffnungszeiten und freien Eintritt. Vor den Stellwänden versammelten sich Gruppen von BesucherInnen und verhandelten die Themen der Ausstellungen, die sich stets mit gesellschaftlich relevanten Fragen beschäftigten. Während Zeitungen, Bücher und das Radio Informationen eher an Einzelne vermitteln, sieht Neurath das Museum als einen Ort, in dem die Auseinandersetzung mit Informationen in gemeinsamen Prozessen stattfinden kann. Kommunikation war daher neben Information ein wesentliches Ziel der Raumgestaltung: Neurath verstand das Museum als Werkzeug für Kommunikation und als öffentlichen Raum.

Ein dezentrales Museum
Doch das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum war nicht nur an seiner Adresse anzutreffen. Es verstand sich mehr als Projekt, denn als Raum, das möglichst weite Verbreitung finden sollte: „Die Museen sollten nicht zentral gelegene Monumentalanlagen, sondern bewegliche Gebilde sein, die man je nach Änderung des Ausstellungszweckes leicht umgestalten kann."[3], schrieb Otto Neurath und entwickelte gemeinsam mit dem Architekten Josef Frank Formen des Displays, die nicht site-specific waren und auf diese Weise unter verschiedenen Rahmenbedingungen gezeigt werden konnten. Das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum konnte so stets dort sein, wo es zum Zwecke der Bildung und Organisation gebraucht wurde: In Gemeinschaftsräumen, Büros, Bibliotheken, Wohnzimmern und an mehreren Plätzen gleichzeitig. Hier zeigt sich noch einmal die Produktivität von Neuraths Abkehr von Originalität und Aura: Alles in dem Museum konnte und sollte sogar kopiert werden. Der einzige Wert war der Informations- und Bildungswert.
Zahlreiche Kooperationen mit Schulen und LehrerInnen ließen die Ausstellungen auch über die Architektur hinaus in Form von Unterrichtsmaterialien (bestehend aus Informationen, Symbolen, Karten und Magneten) in den Bildungsalltag eingehen. Das Museum entwickelte Diashows, Filme, Bücher und Broschüren, die in unterschiedlichen Bildungszusammenhängen Verwendung finden konnten. In Verbindung damit wurden Vermittlungsaktionen mit Schulklassen und Gruppen im Museum organisiert. Vor allem aber die Konferenzen mit Lehrenden, die im Museum stattfanden, waren wichtige Momente der Wissensproduktion in beide Richtungen: denn einerseits konnten die Methoden der Bildstatistik und die gesellschaftlichen Verhältnisse mit LehrerInnen disktuiert werden. Andererseits konnten, anhand dessen, was in der Schule und von den Leuten gebraucht wurde, die Bildstatistiken im Museum adaptiert und reformuliert werden. Das Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum war somit eine der ersten Institutionen, die das Museum dezentral und nomadisch anlegte, mobil, wandelbar und seriell produziert.

Form und Sinn im Dienste einer Veränderung der Gesellschaft
Vor dem Hintergrund des Austromarxismus im Roten Wien vertrat Neurath die Überzeugung, dass es keine „neutrale" Erziehung in einem „gesellschaftslosen Raume" gäbe und dass politische mit sozialer und kultureller Veränderung sowie mit Bildung einhergehen müsse[4]. Mit seinem Projekt redefinierte Neurath die Idee des Museums und der Ausstellung radikal. Zahlreiche ihrer Merkmale -wie das Sammeln, die Repräsentation von Wert, Aura und Originalität - wurden dabei über Bord geworfen, neue Kriterien - wie emanzipatorisches Potenzial, gesellschaftliche Relevanz, Information, Kommunikation und Debatte wurden neu formuliert. So verstand Neurath das Museum - ebenso wie das Denken selbst - als Werkzeug für eine Veränderung der Gesellschaft. Genau in diesem Kontext ist die Entwicklung seiner leicht lesbaren Formensprache zu sehen, die später in der Welt Furore gemacht hat. Die Formen entstanden als Trägerinnen von Sinn. Ein Sinn, der nicht nur in ihnen lag, sondern der sich vor allem bei den RezipientInnen durch eine kritische Bezugnahme auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ergeben würde - der nicht in der Legitimation des Bestehenden, sondern in seiner Veränderung bestand.
Zahlreiche Infoausstellungen haben in den letzten Jahren Ausstellungen zu Orten des Wissenstranfers und der Wissensproduktion gemacht. Nicht selten hatte dabei die Form allerdings an Stellenwert verloren, dienten Daten und Kontexte vielleicht sogar mehr der Distinktion als der Demokratisierung von Wissen. Eine Aktualisierung Neuraths kann in diesem Zusammenhag auf keinen Fall als Plädoyer gegen die Form verstanden werden, vielmehr als eines für deren Sinn.

Nora Sternfeld ist Kunstvermittlerin, Kuratorin und Redakteurin von Bildpunkt. Von ihr erscheint in Kürze Das pädagogische Unverhältnis. Lehren und lernen bei Jacques Rancière, Antonio Gramsci und Michel Foucault, Wien 2008 (Verlag Turia + Kant).

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Herbst 2008, "formal sinnvoll".



 

[1] Otto Neurath in Österreichische Gemeinde-Zeitung, Nr.16, Wien 1925.

[2] 1935 wurde sie umbenannt in International System of Typographic Picture Education - ISOTYPE.

[3] Otto Neurath: Das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien, in: Minerva Zeitschrift 7:9/10 (1931).

[4] Vgl. Max Adler: Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung, Berlin 1926.