Was ist eine Ausstellung? Mit dem Gesellschafts-
und Wirtschaftsmuseum beantwortete Otto Neurath diese Frage im Roten Wien in
einer Weise, die mit damaligen wie heutigen musealen Konventionen und
Vorstellungen brach. Eine Ausstellung hatte ihm zufolge nämlich weder mit der
Präsentation künstlerischer Arbeiten noch mit der Zurschaustellung pretiöser,
kurioser Objekte zu tun. Eine Ausstellung sollte vielmehr die Gesellschaft
adressieren - und zwar nicht als Selbstzweck, sondern im Hinblick auf ihre
Veränderung.
Um sein Projekt zu verwirklichen, konnten Neurath weder Objekte noch
Fotografien genügen. Wenn gesellschaftliche Strukturen auf Film und Foto zu
veranschaulichen wären, meinte er, dann hätte er diese gerne gezeigt. Aber so
wirksame und unsichtbare Phänomene wie Machtverhältnisse oder soziale und
ökonomische Prozesse lassen sich nicht mit dem bloßen Auge erfassen.
Ebensowenig können sie Neurath zufolge anhand von Objekten aufgezeigt werden,
die als „wertvoll und selten" gelten. „Nicht darauf kommt es an, gefühlsbetonte
Gegenstände zu vereinigen", schreibt er „sondern darauf, die Sammlung der
instruktiven Abbildungen, Modelle usw. derart zu gestalten, daß sie ein
systematisches Ganzes ist, ein wirklicher Lehrgang für jeden, der ohne
Vorbereitung sich mit gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Fragen
beschäftigen will."[1] Um das Ausstellen
solchermaßen neu zu denken, um das Wissen zu demokratisieren und zu
dezentralisieren, galt es, neue Formen zu entwickeln: Formen der Gestaltung und
der Bildung. Und so entwarf er gemeinsam mit dem Künstler Gerd Arntz eine neue
Methode der Darstellung: die grafische Bildstatistik. Und entwickelte eine
neues Museumsmodell: Das Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum hatte
keine Sammlungen, es war ein Ort der Kommunikation.
In den letzten Jahren meldete sich von unterschiedlichen Seiten ein neues
Interesse an Neuraths Ausstellungs- und Museumsprojekten. Alice Creischer und
Andreas Siekmann aktualisierten die bildstatistischen Visualisierungen von
Neurath und Arntz für gegenwärtige global-neoliberale Verhältnisse, GrafikdesignerInnen
und -theoretikerInnen wie Erwin Bauer und Frank Hartmann beschäftigten sich mit
der Demokratisierung des Wissens durch Bildsprache, Hadwig Kräutler widmete
sich den Ausstellungen als Kommunikationsräume aus museologischer Perspektive
und kürzlich erschien bei dem niederländischen Verlag Nai Publishers ein reich
bebildeter Band, der sich Neuraths Projekten aus urbanistischer Sicht zuwendet.
Was erscheint nun so aktuell an diesem Museumsprojekt der Zwischenkriegszeit?
Eine mögliche Antwort soll hier anhand von vier Aspekten versucht werden:
Information, Dezentralisierung, Kommunikation und gesellschaftliche Relevanz.
Info-Ausstellungen
Neurath stellte sich die Frage, wie institutionelle Rahmenbedingungen
geschaffen werden könnten, die eine Demokratisierung von Wissen und Kultur
ermöglichen würden. Diese sollte durch die Präsentationsweise stattfinden und
damit untrennbar verbunden durch die Themenwahl: Es ging um die sozialen und
ökonomischen Bedingungen im urbanen Raum. Ziel war es, Informationen, Kontexte,
Daten und Fakten so zur Verfügung zu stellen, dass sie für die BetrachterInnnen
relevant werden konnten. Gerne betonte Neurath, dass sein Museumsprojekt sich
von den klassischen Museen grundsätzlich unterscheide: Diese erschienen ihm als
rituelle Institutionen bürgerlichen Wissens, die mit ihren kleinen Labels und
einschüchternden Objekten viel mehr der Selbstbestätigung dienten als der
Information.
Die Info-Ausstellungen Neuraths präsentierten freilich kein Wissen als
Selbstzweck, ihr Ziel war die Ermächtigung der BesucherInnen. Diese sollten
Einblicke, Fakten und Kontexte zu den gesellschaftlichen Verhältnissen erhalten
- nicht nur um sie zu kennen, sondern auch und vor allem um sie zu
transformieren. Es handelte sich insofern um ein Projekt, das eine spezifische
Form der Bildung von Kenntnissen und Fertigkeiten entwickelte: Frigga Haug
benutzte dafür einmal den Begriff „Veränderungswissen"- Wissen mit politischem
Sinn.
Um diese breite Form des Wissenstransfers und der Wissensproduktion stattfinden
zu lassen, wurden neue grafische Techniken und eine neue visuelle Sprache
entwickelt: Die Wiener Methode der Bildstatistik[2].
Diese sollte wissenschaftliche Zusammenhänge und gesellschaftliche Verhältnisse
für die Massen zugänglich machen. Mit der Visualisierung sollte die Kluft
zwischen Sehen und Lesen durchbrochen und klassische Gewohnheiten der Bildung
durch lange Prozesse der Erklärung überwunden werden. Einfache Grafiken machten
Ungleichverteilungen sowie Arbeitslosenraten oder Krankheitsdaten schnell
sichtbar. Das Motto bestand darin, dass es besser sei, sich vereinfachte
Mengenbilder zu merken, als genaue Zahlen zu vergessen. 1929 begann die
Zusammenarbeit mit dem konstruktivistischen Zeichner Gerd Arntz, der
Linoleumschnitt als Mittel der Vervielfältigung einsetzte und auf Basis von
Neuraths konzeptuellen Überlegungen den einheitlichen visuellen Stil prägte -
klare Formen mit politischem Sinn.
Kommunikationsräume
Das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum (1924 am Fuchsenfeld in Wien 5
gegründet und ab 1927 auch in der Volkshalle im Wiener Rathaus) sollte nicht
nur Ort des Wissenstransfers von oben sein: Im Museum sollte öffentlich
diskutiert werden. So wurde mit eigenen Kommunikationsräumen eine Infrastruktur
für Debatten zur Verfügung gestellt. Auch die Rahmenbedingungen brachen mit
jenen des klassischen Museums zugunsten einer breiten Öffentlichkeit: Es gab vorwiegend
Abendöffnungszeiten und freien Eintritt. Vor den Stellwänden versammelten sich
Gruppen von BesucherInnen und verhandelten die Themen der Ausstellungen, die
sich stets mit gesellschaftlich relevanten Fragen beschäftigten. Während
Zeitungen, Bücher und das Radio Informationen eher an Einzelne vermitteln,
sieht Neurath das Museum als einen Ort, in dem die Auseinandersetzung mit
Informationen in gemeinsamen Prozessen stattfinden kann. Kommunikation war
daher neben Information ein wesentliches Ziel der Raumgestaltung: Neurath verstand
das Museum als Werkzeug für Kommunikation und als öffentlichen Raum.
Ein dezentrales Museum
Doch das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum war nicht nur an seiner
Adresse anzutreffen. Es verstand sich mehr als Projekt, denn als Raum, das
möglichst weite Verbreitung finden sollte: „Die Museen sollten nicht zentral
gelegene Monumentalanlagen, sondern bewegliche Gebilde sein, die man je nach
Änderung des Ausstellungszweckes leicht umgestalten kann."[3],
schrieb Otto Neurath und entwickelte gemeinsam mit dem Architekten Josef Frank
Formen des Displays, die nicht site-specific waren und auf diese Weise unter
verschiedenen Rahmenbedingungen gezeigt werden konnten. Das Gesellschafts- und
Wirtschaftsmuseum konnte so stets dort sein, wo es zum Zwecke der Bildung und
Organisation gebraucht wurde: In Gemeinschaftsräumen, Büros, Bibliotheken,
Wohnzimmern und an mehreren Plätzen gleichzeitig. Hier zeigt sich noch einmal
die Produktivität von Neuraths Abkehr von Originalität und Aura: Alles in dem
Museum konnte und sollte sogar kopiert werden. Der einzige Wert war der
Informations- und Bildungswert.
Zahlreiche Kooperationen mit Schulen und LehrerInnen ließen die Ausstellungen
auch über die Architektur hinaus in Form von Unterrichtsmaterialien (bestehend
aus Informationen, Symbolen, Karten und Magneten) in den Bildungsalltag
eingehen. Das Museum entwickelte Diashows, Filme, Bücher und Broschüren, die in
unterschiedlichen Bildungszusammenhängen Verwendung finden konnten. In
Verbindung damit wurden Vermittlungsaktionen mit Schulklassen und Gruppen im
Museum organisiert. Vor allem aber die Konferenzen mit Lehrenden, die im Museum
stattfanden, waren wichtige Momente der Wissensproduktion in beide Richtungen:
denn einerseits konnten die Methoden der Bildstatistik und die
gesellschaftlichen Verhältnisse mit LehrerInnen disktuiert werden. Andererseits
konnten, anhand dessen, was in der Schule und von den Leuten gebraucht wurde,
die Bildstatistiken im Museum adaptiert und reformuliert werden. Das Wiener
Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum war somit eine der ersten Institutionen,
die das Museum dezentral und nomadisch anlegte, mobil, wandelbar und seriell
produziert.
Form und Sinn im Dienste einer
Veränderung der Gesellschaft
Vor dem Hintergrund des Austromarxismus im Roten Wien vertrat Neurath die
Überzeugung, dass es keine „neutrale" Erziehung in einem „gesellschaftslosen
Raume" gäbe und dass politische mit sozialer und kultureller Veränderung sowie
mit Bildung einhergehen müsse[4].
Mit seinem Projekt redefinierte Neurath die Idee des Museums und der
Ausstellung radikal. Zahlreiche ihrer Merkmale -wie das Sammeln, die
Repräsentation von Wert, Aura und Originalität - wurden dabei über Bord
geworfen, neue Kriterien - wie emanzipatorisches Potenzial, gesellschaftliche
Relevanz, Information, Kommunikation und Debatte wurden neu formuliert. So
verstand Neurath das Museum - ebenso wie das Denken selbst - als Werkzeug für
eine Veränderung der Gesellschaft. Genau in diesem Kontext ist die Entwicklung
seiner leicht lesbaren Formensprache zu sehen, die später in der Welt Furore
gemacht hat. Die Formen entstanden als Trägerinnen von Sinn. Ein Sinn, der
nicht nur in ihnen lag, sondern der sich vor allem bei den RezipientInnen durch
eine kritische Bezugnahme auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ergeben würde
- der nicht in der Legitimation des Bestehenden, sondern in seiner Veränderung
bestand.
Zahlreiche Infoausstellungen haben in den letzten Jahren Ausstellungen zu Orten
des Wissenstranfers und der Wissensproduktion gemacht. Nicht selten hatte dabei
die Form allerdings an Stellenwert verloren, dienten Daten und Kontexte
vielleicht sogar mehr der Distinktion als der Demokratisierung von Wissen. Eine
Aktualisierung Neuraths kann in diesem Zusammenhag auf keinen Fall als Plädoyer
gegen die Form verstanden werden, vielmehr als eines für deren Sinn.
Nora Sternfeld ist Kunstvermittlerin, Kuratorin und Redakteurin von Bildpunkt. Von ihr erscheint in Kürze Das pädagogische Unverhältnis. Lehren und
lernen bei Jacques Rancière, Antonio Gramsci und Michel Foucault, Wien 2008
(Verlag Turia + Kant).
Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Herbst 2008, "formal sinnvoll".
[1] Otto Neurath in Österreichische Gemeinde-Zeitung, Nr.16, Wien 1925.
[2] 1935 wurde sie umbenannt in International System of Typographic Picture Education - ISOTYPE.
[3] Otto Neurath: Das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien, in: Minerva Zeitschrift 7:9/10 (1931).
[4] Vgl. Max Adler: Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung, Berlin 1926.