Kehrt das Völkerrecht zurück?

Wie autistisch sich der Westen unter einer Käseglocke bewegt und sich weigert, die eigene Beengtheit zu erkennen, ist nicht nur erstaunlich, sondern beängstigend. Seit es wieder gegen Rußland geht, propagieren plötzlich sowohl die regierende Politik als auch die sie tragenden Medien die vom Westen selbst ad acta gelegten Völkerrechtsnormen der Souveränität, der territorialen Integrität und des Gewalt- und Interventionsverbots, was sie seit 1991 ganz verlernt zu haben schienen. Ersetzt man in all den Klagen und Anklagen den Namen Georgien durch Jugoslawien oder Serbien, so klingt es wie Hohn.

Seit dem Ende des Kalten Krieges spielten diese wichtigen Völkerrechtsnormen für den Westen keine Rolle mehr. Vielmehr wurde die eigentlich untergeordnete Norm des Selbstbestimmungsrechts an die Spitze der Normenhierarchie gestellt, wie man es brauchte, um Jugoslawien und Serbien zu demontieren. Kosovo stellt nicht den Präzedenzfall dar. Kosovo war nur die Fortsetzung einer Reihe von Sezessionen, die der Westen kräftig unterstützte. Der Präzedenzfall begann tatsächlich mit Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina in den Jahren 1991/92.

Jugoslawien war ein souveräner Staat mit allen Merkmalen moderner Staatlichkeit. Die föderalen Strukturen waren konkreter Ausdruck des eingeräumten internen Selbstbestimmungsrechts – in einem Ausmaße, an dem sich so mancher dem Westen zugehörige Staat ein Beispiel nehmen könnte. Dennoch mischte sich der Westen politisch, nachrichtendienstlich, ja sogar militärisch (mit Waffenlieferungen, Spionageflügen, militärischer Ausbildung der sezessionistischen Kräfte) in die inneren Angelegenheiten des souveränen Staates ein, um die sezessionistisch-nationalistischen Kräfte, angeblich freiheitsliebende Demokraten, zu unterstützen und schließlich Jugoslawien in Kleinstteile zu zerlegen. Damit verstieß der Westen gegen das in der UNO-Charta als zwingendes Recht festgehaltene Interventionsverbot – hinsichtlich Kosovos auch gegen das Gewaltverbot. Der Westen hinderte 1991/92 Jugoslawien und 1998/99 Serbien daran, ihr – jedem souveränen Staat zustehendes – Gewaltmonopol wirksam einzusetzen; die Folge war zunehmendes Blutvergießen.

Dem Völkerrecht, wie es bis dahin galt, hatten die Sieger des Kalten Krieges in ihrem Taumel keine Bedeutung mehr beigemessen. Gesetz war nun das, was der Westen für nützlich hielt.

Wenn nun der Westen von Völkerrechtsbruch durch Rußland spricht, so handelt es sich nicht um eine ehrliche Rückbesinnung auf die Vorzüge eines allgemeingültigen Völkerrechts. Vielmehr empört er sich tief darüber, daß ihm seine eigenen fragwürdigen Völkerrechtskonstruktionen (»weiterentwickeltes Völkerrecht«) nun um die eigenen empfindlichen Ohren fliegen. Es darf offenbar nicht sein, daß Rußland sich dreist erlaubt, die vom Westen für seine Interessen erdachte »Weiterentwicklung« nun auch für sich in Anspruch zu nehmen. Die Frage, ob Rußland mit der Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens sowie mit der militärischen Operation auf georgischem Kernland tatsächlich das Völkerrecht bricht oder nicht, hat im Prinzip der Westen selbst durch die Präzendenzfälle in Jugoslawien, aber auch im Irak klar beantwortet.

Diese Transferleistung, die eigentlich nicht allzu viel Geisteskraft erfordert, wurde von unseren politischen »Eliten« offensichtlich nicht erbracht. Die Feststellung des Führers der Freien Welt, George W. Bush, daß »die territoriale Integrität und die Grenzen Georgiens genauso respektiert werden müssen wie bei jedem anderen Staat einschließlich Rußlands«, beweist wenige Monate nach der von den USA und anderen Staaten des Westens forcierten Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien den bedrohlich fortgeschrittenen Autismus.

Es wird höchste Zeit, daß der Westen seine Käseglocke verläßt. Friede erfordert gleichberechtigte internationale Kooperation auf der Grundlage des von der UNO beschlossenen Völkerrechts, wie es bis 1991 bestand. Der Westen darf nicht versuchen, der Welt durch brutale Machtpolitik seine Ordnungsvorstellungen aufzuzwingen. Rußlands Anerkennung der Unabhängigkeit der beiden georgischen Provinzen ist völkerrechtlich gesehen falsch, aber sie hat eine Vorgeschichte. Für die Konflikte im Kaukasus müssen dieselben völkerrechtlichen Standards gelten wie für die Konflikte auf dem Balkan und sonstwo auf der Welt. Damit der Westen das begreift, müssen allerdings unsere politischen »Eliten« gründlich umlernen. Oder ausgetauscht werden.