Boliviens Opposition läuft Sturm gegen Evo Morales
In Bolivien fand im August das erste Abberufungsreferendum in der Geschichte des Landes statt. Vier Millionen Wahlberechtigte hatten die Möglichkeit, den Präsidenten Evo Morales, den Vizepräsidenten Álvaro García Linera sowie acht von neun Präfekten im Amt zu bestätigen oder abzuwählen. Evo Morales wurde mit fast 70 Prozent der Stimmen bestätigt. Doch auch die oppositionellen Präfekten der östlichen Departements des so genannten Halbmonds bleiben im Amt. Die bolivianische Rechte ist trotzdem empfindlich geschwächt und wehrt sich mit Gewalt.
Die Bevölkerung Boliviens stimmte
eindeutig ab. 67,4 Prozent, also zwei von drei BolivianerInnen,
stimmten am 10. August dafür, dass Staatspräsident Evo Morales und
Vizepräsident Álvaro García Linera im Amt verbleiben. In sechs der neun
Departements wurde das Duo bestätigt, in Tarija fehlten ihm nur 500
Stimmen. Selbst in den Departements Beni und Santa Cruz, deren
Regierungen am vehementesten gegen die Zentralregierung agieren,
erlangten Morales und García Linera über 40 Prozent der Stimmen. In den
andinen Departements übertraf die Zustimmung zum Regierungsprojekt alle
Erwartungen: In La Paz erklärten 83,2 Prozent der Stimmberechtigten
ihre Unterstützung, in Oruro 83 und in Potosí 85 Prozent. Auch in den
von der Opposition kontrollierten Departements Cochabamba und
Chuquisaca sind die Ergebnisse mit 71 und 54 Prozent Zustimmung für
Morales klar ausgefallen. Doch genauso wurden die oppositionellen
Präfekten im Osten des Landes, dem so genannten Halbmond, im Amt
bestätigt.
Evo Morales hat nun, dem impliziten Mandat des Referendums folgend, per
Dekret das Referendum über den Verfassungsentwurf für den 7. Dezember
angesetzt. Dies entspricht auch dem Wunsch der in der „Nationalen
Koordination für den Wandel" (Conalcam) vereinigten sozialen Bewegungen
des Landes. Zusätzlich ist die Wahl der Unter-Gouverneure in den
Departements vorgesehen, die zum ersten Mal gewählt und nicht ernannt
werden. In der Verfassungsabstimmung sollte es auch um die Frage gehen,
ob der Landbesitz auf 5.000 oder 10.000 Hektar Maximalgröße begrenzt
werden soll. Das Nationale Wahlgericht erklärte jedoch, dass für die
Zulassung der Verfassungsentscheidung die Zweidrittelmehrheit des
Kongresses nötig sei, über welche die Bewegung zum Sozialismus (MAS)
allein nicht verfügt. Derweil erklärte Branko Marinkovic, Präsident des
oppositionellen „Bürgerkomitees für Santa Cruz", dass man ein
Referendum in Santa Cruz unter keinen Umständen zulassen werde. Die
Antwort der regierungsfreundlichen sozialen Bewegungen ließ nicht lange
auf sich warten. Die indigenen Organisationen der östlichen
Departements kündigten für den 10. September Märsche auf Santa Cruz an.
Ab dem 15. September soll die Stadt, in der derzeit die wichtigste
Handelsmesse des Jahres stattfindet, eingekesselt werden. Einen Tag
später soll die massive Mobilisierung aller wichtigen Indigenen- und
Bauernorganisationen des Andenraumes sowie verschiedener Gewerkschaften
beginnen. Mit einem Marsch auf La Paz soll der Kongress zur sofortigen
Verabschiedung des Gesetzes zur Einberufung der Verfassungsabstimmung
bewegt werden.
Das Abberufungsreferendum vom 10. August hat Morales vorerst gestärkt.
Dabei hätten die Umstände für ein Referendum widriger kaum sein können.
Anfang des Monats hatte Marinkovic zusammen mit 30 Gesinnungsgenossen
einen Hungerstreik durchgeführt. In den folgenden Tagen besetzten
rechte SeparatistInnen in den Departements des „Halbmonds" öffentliche
Einrichtungen. Damit wollten sie die „Rückgabe" von Steuereinnahmen
erwirken. Die MAS-Regierung hatte die den Departements zustehenden
Einnahmen aus der Erdgassteuer prozentual gesenkt, um damit die
geplante Altersfürsorge „Würdevolle Rente" zu finanzieren. Die
Opposition in den Regionen des „Halbmonds" beschwert sich zwar, dass
sie nicht mehr genug Geld aus dem Geschäft mit Erdgas und -öl einnehmen
würde, de facto haben sich die Einnahmen der Departements aus diesem
Geschäft aber seit dem Amtsantritt Morales‘ mehr als verdoppelt. Im
Falle des Departements Santa Cruz haben sie sich sogar verdreifacht.
Diese Einnahmen sind ironischerweise das Produkt der teilweisen
Verstaatlichung der Erdöl- und Erdgasindustrie durch die Regierung
Morales, der sich die Oligarchie im Jahr 2006 noch mit aller Macht
widersetzt hatte.
Gleichzeitig begannen Vereinigungen von Behinderten, die den
separatistischen Bürgerkomitees nahe stehen, in verschiedenen Städten
Proteste zu organisieren. Die Gruppen von DemonstrantInnen lieferten
sich seltsam anmutende Straßenschlachten mit der Polizei. Um ihrer
Forderung nach einer jährlichen Rente von umgerechnet etwa 430
US-Dollar Nachdruck zu verleihen, schoben Angehörige
RollstuhlfahrerInnen in Polizeiketten, die zum Schutz öffentlicher
Einrichtungen aufgebaut worden waren. Gleichzeitig warfen militante
SeparatistInnen aus der Nachhut Steine und Molotow-Cocktails. Die fast
ausnahmslos regierungsfeindlichen Medien konnten auf diese Weise die
gewünschten Bilder vom ungleichen Kampf der RollstuhlfahrerInnen gegen
die Einsatzpolizei liefern.
Nur fünf Tage vor dem Referendum schien die Lage dann zu eskalieren.
Etwa 400 teilweise mit Schusswaffen ausgerüstete Mitglieder des
Bürgerkomitees von Tarija lieferten sich eine vierstündige Schlacht mit
Militäreinheiten um den Flughafen der Stadt. Anlass dieser
Gewalteskalation war das an diesem Ort erwartete Treffen Morales‘ mit
dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez und seiner argentinischen
Amtskollegin Cristina Fernández de Kirchner. Sie wollten Verträge über
Erdölförderung und -lieferungen unterschreiben. Die bolivianische
Regierung musste das Treffen schließlich absagen, während das
Bürgerkomitee Morales für unerwünscht erklärte.
Am 10. August wurden die BolivianerInnen schließlich an die Wahlurnen
gebeten. Die MAS hatte es verstanden, ihrer Basis die Volksbefragung
von vornherein als Schritt hin zur Lösung der schwerwiegenden Probleme
des Landes zu vermitteln. Das rechte Spektrum hingegen verstrickte
sich, je näher das Referendum rückte, immer tiefer in Widersprüche.
Die regionale Opposition in Santa Cruz hatte zuvor selbst auf ein
Referendum gebaut. Doch die Abstimmung über das „Autonomiestatut" von
Santa Cruz am 4. Mai traf nicht auf das erhoffte Echo in der
Bevölkerung und wurde weder vom Staat noch von internationalen
Organisationen anerkannt. So sah sich die separatistische Rechte des
Halbmondes geschwächt. Am 8. Mai stimmten die SenatorInnen der rechten
Gruppierung PODEMOS, die von den Eliten La Paz´ dominiert wird,
überraschend dem Gesetzesentwurf Morales´ über das Abwahlreferendum zu.
Sie wollte auf diese Weise die drohende Volksabstimmung über den neuen
Verfassungsentwurf verhindern und politisch wieder Oberhand gewinnen.
Stattdessen führte dieser Schritt jedoch zu einer Zersplitterung der
mittlerweile aufgelösten PODEMOS. Zudem entfremdeten sich zunehmend die
andinen Eliten der PODEMOS von den oppositionellen Präfekten des
Tieflands, die sich im „Nationalen Demokratischen Rat" (CONALDE)
organisierten. Nachdem der CONALDE zunächst widerstrebend die Teilnahme
am „tendenziösen" Referendum erklärt hatte, riefen die Präfekten im
Juli doch noch zu einem Boykott auf. Angesichts des Unverständnisses,
auf das diese Haltung stieß, drängte die US-Botschaft die Präfekten
jedoch dazu, der Volksbefragung doch wieder zuzustimmen, was zu
weiterem internen Zwist führte. Gezielt gestreute Gerüchte über
geplante Wahlfälschung sollten das Referendum in den folgenden Wochen
in Misskredit bringen, wurden aber Anfang August von einer Kommission
der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) widerlegt. Der Opposition
half das alles nichts: Am Ende fand das Referendum statt und Morales
wurde mit deutlicher Mehrheit im Amt bestätigt.
Das Referendum hat auch gezeigt, wie regional eingeschränkt die
Opposition ist. Sie ist vor allem in den urbanen Zentren des Halbmonds
stark. In den ländlichen Gebieten stimmte die Bevölkerung mehrheitlich
für das Regierungsprojekt. Zudem konnte die Regierung einen
strategischen Erfolg einfahren: Sehr eindeutig ist der Präfekt von
Cochabamba, Manfred Reyes Villa, von den WählerInnen abgelehnt worden.
65 Prozent der Wahlberechtigten stimmten gegen den früheren
Armeehauptmann, der während der brutalen Militärdiktatur García Mezas‘
zu zweifelhaften Ehren gekommen war. Im Jahr 2006 war er eine zentrale
Figur bei blutigen Auseinandersetzungen mit Quechuas und rassistischen
Angriffen auf diese, nachdem er sich trotz massiver Widerstände in der
Bevölkerung für einen Autonomiestatus Cochabambas stark gemacht hatte.
Die Abwahl Reyes Villas ist für die MAS von nicht zu unterschätzendem
strategischen Wert. Die Regierungspartei wird jetzt aller
Wahrscheinlichkeit nach das Departement der cocalero-Bewegung für sich
erobern. Die Opposition des Halbmonds ist nun vollkommen auf sich
selbst zurückgeworfen. Denn auch der rechte Präfekt von La Paz, José
Luis Paredes, wurde mit 65 Prozent der Stimmen seines Amtes enthoben.
Die Frage, wer das Departement zukünftig regiert, wird nun eher eine
interne Frage der MAS werden.
Morales zeigte sich nach der Abstimmung versöhnlich und lud die
Opposition nach dem gewonnenen Abberufungsreferendum zum Dialog ein.
Vier der fünf Präfekten des Halbmonds nahmen das auch an. Einzig der
Präfekt von Santa Cruz, Rubén Costas, widmete sich wieder seinem
Hungerstreik zwischen Laptop und Federkernmatratze. Doch auch der
martialische Diskurs des Präfekten von Santa Cruz konnte nicht über die
empfindliche Schwächung des CONALDE hinwegtäuschen: Da die erhoffte
Solidarisierung mit Costas´ Protestform ausblieb, versiegte der Streik
kurze Zeit später einfach.
So ging der Protest der oligarchischen Rechten gewalttätig weiter.
Angehörige und AktivistInnen der ultrarechten „Union der Jugend für
Santa Cruz" (UJC) versuchten gewaltsam, das regierungstreue
Polizeihauptquartier in Santa Cruz einzunehmen. Nachdem Studierende,
die dem Bürgerkomitee nahestehen, sich dem Marsch angeschlossen hatten,
eskalierte die Situation. Zunächst zerstörten die Protestierenden
einige Polizeifahrzeuge, dann lauerten Mitglieder der UJC dem
Polizeichef von Santa Cruz auf und schlugen ihn brutal zusammen. Costas
erklärte daraufhin vor seinen AnhängerInnen, dass die „autonome
Regierung" von Santa Cruz bereits an dem Aufbau eines parallelen
Sicherheitsorgans arbeite, welches über die Einhaltung der
„departementalen Rechte" wachen solle.
Was für ein Bolivien die rechtsextremen Gruppen des Ostens sich
wünschen, kommt noch deutlicher in den immer brutaler werdenden,
politisch motivierten, vor allem aber rassistischen Übergriffen in den
Departements des Halbmonds zum Ausdruck. Ziel der Attacken wurden in
letzter Zeit alle, die nicht in ihr Gesellschaftsprojekt passen: Frauen
in indigenen Trachten, GewerkschafterInnen, AnhängerInnen der MAS,
linke Intellektuelle, VenezolanerInnen oder KubanerInnen. In den
Städten des Halbmondes werden täglich Menschen öffentlich misshandelt
und häufig verüben militante Oppositionelle Brandanschläge auf die
Wohnhäuser linker AktivistInnen. Die Gewalt der SeparatistInnen richtet
sich zudem zunehmend gegen staatliche Einrichtungen. In den ersten
Septembertagen eröffneten bewaffnete Gruppen im Departement Beni das
Feuer auf einen Kontrollpunkt des Militärs. Bei dem Angriff wurden mehr
als zehn Soldaten verletzt. Das „Zivilkomitee" von Beni gab daraufhin
dem Oberkommandierenden des Departements 48 Stunden Zeit, „benianisches
Territorium" zu verlassen. Die Tatsache, dass sie immer häufiger
Schusswaffen bei ihren Angriffen einsetzen, zeigt, dass Boliviens
Unternehmer- und Großgrundbesitzerkaste zur Verteidigung ihrer
Interessen vor fast nichts zurückschreckt.
Text: Börries Nehe
Ausgabe: Nummer 411/412 - September/Oktober 2008