Den Wandel denken

Der Fortschritt sei für alle Zeiten gesichert und werde sich unablässig
fortsetzen, meinte zur vorigen Jahrhundertwende, die ins 20. Jahrhundert
führte, in Europa und Nordamerika eine Mehrheit der Menschen.
Gewiß, viele Sozialisten erwarteten einen Zusammenbruch des Kapitalismus,
doch die meisten Menschen gingen nicht zu Unrecht davon aus,
daß Kapitalismus, Industrie und wachsender Wohlstand miteinander zu
tun hatten.


Der Erste Weltkrieg stellte eine jähe Unterbrechung dar, doch danach
ging es wieder aufwärts. In den USA versprach im Wahlkampf 1928 der
republikanische Kandidat Herbert Hoover ein baldiges Ende der Armut
und den Amerikanern »ein Huhn in jedem Topf und ein Auto in jeder Garage
«. Er fuhr einen gewaltigen Wahlsieg ein. Am 24. Oktober 1929 begann
der Große Börsenkrach, der die Weltwirtschaftskrise auslöste.


In den fünfziger und sechziger Jahren führten die fordistische Massenproduktion,
einschließlich Auto und Elektrotechnik, sowie Lohnanstieg
und Wohlfahrtsstaatlichkeit zu einer sichtbaren neuen Prosperität,
die wieder von vielen als Beginn einer immerwährenden angesehen und
als globales Erfolgsmodell gepriesen wurde. Mit der Ölkrise begann in
den siebziger Jahren zwar eine Rezession, doch in der Folge unterlag
der Realsozialismus im globalen Wettbewerb. Mit der Charta von Paris
wurden 1990 Demokratie und Marktwirtschaft zu den allgemeinen Grundlagen
der Staaten Europas erklärt. Der Kapitalismus sah sich als Siegerim Felde. Der Neoliberalismus verkaufte seinen Paradigmenwechsel zu
Lasten von Wohlfahrtsstaat beziehungsweise Sozialstaat und zum Abbau
öffentlicher Daseinsvorsorge als Konsequenz dieses »Sieges«.


Das alles gehört nun wohl der Vergangenheit an. »Vorhang für die Könige
der Wall Street«, titelte die Frankfurter Rundschau. Mit Goldman
Sachs und Morgan Stanley hatten die beiden letzten großen Investmentbanken
der USA das Handtuch geworfen. Die Seniorin aus den gehobenen
Kreisen Berlins, die im vorigen Jahr ihre Ersparnisse in Höhe von
140 000 Euro auf Anraten ihrer Bank in »Finanzprodukten« von Goldman
Sachs angelegt hatte, steht dumm da: Die deutschen Bankenabsicherungen
greifen da – zumindest bisher – nicht. In der Süddeutschen Zeitung
heißt es: »Der Turbokapitalismus frißt seine Kinder, seine Künder und
deren Derivate.« Nachdem jahrelang staatliche Eingriffe verschrien wurden,
kommen jetzt ganz andere Töne: »Denn das Desaster, dessen Zeuge
wir werden«, so weiter die Frankfurter Rundschau, »haben unregulierte
Finanzprodukte angerichtet, die auf unregulierten Märkten von oftmals
unregulierten Vehikeln wie Hedge-Fonds oder Zweckgesellschaften gehandelt
worden sind.«


Das niederländische NRC Handelsblad stellte die jetzige Finanzkrise in
eine eigene historische Dimension: »Der Nachsommer 2008 wird in die
Geschichte eingehen als der Moment, an dem die letzte politische Ideologie
des 20. Jahrhunderts ihren Untergang erlebte. Rund zwanzig Jahre
nachdem der Kommunismus definitiv besiegt schien, erscheint auch der
Sieger von damals als Verlierer. Beide Lager des Kalten Krieges haben
versagt. Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis sich der Bankrott auskristallisiert.
Dann wird das 20. Jahrhundert definitiv vorbei sein, genauso
wie es bis 1914 dauerte, bis das 19. Jahrhundert vorbei war.«


Was aber bedeutet das? Als die US-Investbank Lehman Brothers an ihrer
Pleite werkelte, zog sie schnell noch acht Milliarden Dollar aus der
Londoner Filiale ab, die nun nicht mehr ihre Mitarbeiter bezahlen konnte,
während für die New Yorker Mitarbeiter ein Topf für Bonuszahlungen
in Höhe von 2,5 Milliarden zurückgestellt wurde. »Das ist Sozialismus
für die Reichen«, zitierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung den Vorsitzenden
des Finanzausschusses des Parlaments in London.


Aber der Sozialismus für alle, oder zumindest »für die Armen«, ist ja
nicht zufällig vor zwanzig Jahren von der Bühne abgetreten. Das ist
nicht dadurch außer Kraft zu setzen, daß man den »Sozialismus der Reichen
« skandalisiert.


Man kann sich natürlich darüber mokieren, daß es die oben erwähnten
Illusionen über die immerwährende Prosperität unter dem Kapitalismus
immer wieder gab. Sie sind jedoch nicht zufällig mit tatsächlichen Prosperitätsphasen
zusammengefallen. Bestimmte Lernprozesse wurdenebenfalls immer wieder unternommen. Daher jetzt die großen Stützungsversuche
der US-Regierung – dort in Höhe von 700 Milliarden Dollar –
oder auch der EU – hier ist von zunächst 300 Milliarden Euro die Rede.
Eine zweite Weltwirtschaftskrise wollen alle vermeiden, weil feststeht:
Im Zweifelsfalle zahlen die »kleinen Leute« die Zeche, während der »Sozialismus
für die Reichen« sich fortzeugt.


Wir sollten deshalb einer »Zusammenbruch«-Theorie nicht folgen, einen
solchen der Menschen wegen nicht erhoffen sondern eher befürchten.
Rainer Land und Ulrich Busch haben dieser Tage gefragt (Berliner
Debatte Initial, Heft 4/2008): »Können wir mit einer Erholung, gar mit einer
neuen Prosperitätsphase rechnen? Mit einem neuen gewaltigen Innovations-
und Wachstumsschub, der die Welt noch einmal ebenso stark
verändern und verbessern wird, wie es die amerikanisch-europäische
Revolution der industriellen Massenproduktion und der produktivitätsorientierten
Lohn- und Sozialpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg taten?
Werden die Löhne wieder steigen, das Sozialsystem repariert und umgebaut
werden? Wird der Aufstieg Chinas und Indiens vielleicht doch
nicht zu einem Kollaps wegen Umweltbelastungen führen? Leuchtet am
Horizont gar ›Eine Welt‹ mit einer neuen Industrie ohne CO2-Emissionen,
mit Autos, die in China, Amerika, Afrika und Europa lautlos von
Elektromotoren getrieben durch die Straßen gleiten und in der Flugzeuge
durch elektronengetriebene Magnetschwebebahnen mit Mach 3 abgelöst
sind, für die Strom und Wasserstoff aus Sonnenbatterien über
Wasserstoffpipelines in der Sahara geliefert wird? Gelingt es gar, Armut
und Hunger, Unterentwicklung und Elend zu überwinden?«


Wir wissen es nicht. Es kann sein, es kann auch nicht sein. Nach den
Kenntnissen, die wir über die langwelligen wirtschaftlichen Zyklen (von
je 56 Jahren) nach Kondratieff und Schumpeter haben, beginnt die neue
Kondratieff-Welle im Jahre 2008 – und dann wäre auch die Finanzkrise
Teil dieses Übergangs.