Carl Schmitt Reloaded

Otto Depenheuer und der „Rechtsstaat"

in (06.11.2008)
1. Otto Depenheuer im Kampf gegen Terror, Wohlstand und Karlsruhe

Als Martin Heidegger 1933 seinen Posten als Rektor der Freiburger Universität antrat, überschrieb er seine berühmt gewordene Rektoratsrede mit dem Titel: „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität". Diese „Selbstbehauptung" definierte er seinerzeit als den „ursprüngliche[n], gemeinsame[n] Wille[n] zu ihrem Wesen." Ganz im Sinne seiner Lehre von der Offenbarung „auf der Lichtung des Seins" galt es ihm, die Gelegenheit der „Weltstunde" zu ergreifen und in „Arbeitsdienst, Wehrdienst und Wissensdienst"1 jene Trias der Dienstbereitschaft zu verkünden, die der deutschen Studentenschaft künftig als Pflicht auferlegt sei. In einer umfangreichen Studie zu Heidegger und den Brüdern Jünger schreibt Daniel Morat: „Die Universität als Ort des Wissensdienstes bekam [...] die Aufgabe einer Führungseinrichtung und erschien ‚als hohe Schule, die aus Wissenschaft und durch Wissenschaft die Führer und Hüter des Schicksals des deutschen Volkes in die Erziehung und Zucht nimmt'. [...] Ihm selbst als Rektor der Universität komme aber die Aufgabe der ‚geistigen Führung dieser Hohen Schule' zu, was ihn ganz wörtlich zum Führer der Führer machte." (Morat 2007: 122f.). Als solcher gab er seinen Studenten zum Beginn des Wintersemesters 1933/34 Weisung: „Unaufhörlich wachse Euch der Mut zum Opfer für die Rettung des Wesens und die Erhöhung der innersten Kraft unseres Volkes in seinem Staat." (Heidegger 2000: 184).

Im vergangenen Jahr erschien in der Reihe „Schönburger Gespräche zu Recht und Staat" im renommierten Verlag „Schöningh" ein Band dessen Titel wohl nicht zufällig an Heideggers Rektoratsrede erinnert: „Selbstbehauptung des Rechtsstaats" 2. Autor des Buches ist der Jurist Otto Depenheuer, der seit 1999 eine Professur für allgemeine Staatslehre, öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Köln innehat, wo er dem „Seminar für Staatsphilosophie und Rechtspolitik" als Direktor vorsteht.

Depenheuers Schrift ist tatsächlich in Gänze einer Topologie verhaftet, deren Ursprünge in der „geistigen Bewegung" der „Konservativen Revolution" nach dem ersten Weltkrieg liegen. Deren intellektuelles Herzstück bestand seinerzeit aus einem Philosophen, einem Schriftsteller und einem Juristen: Martin Heidegger, Ernst Jünger und Carl Schmitt prägten die Debatten des „neurechten Diskurses" der zwanziger Jahre und hinterlassen bis heute ihre Spuren im Denken seiner Nachfolger. Ein solcher Nachfolger ist Otto Depenheuer. Schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis lässt daran zweifeln, dass sich Depenheuer der Konnotationen seines Titels nicht bewusst gewesen sein sollte. Die Kapitelüberschriften - „Die terroristische Herausforderung", „Der Ernstfall", „Der Feind", „Das Bürgeropfer" - lassen bereits eine strenge Abfolge vermuten, die im Appell an die „Bürger", den „Mut zum Opfer für die Rettung des Wesens des Rechtsstaats" aufzubringen, einen krönenden Abschluss findet.

Will man die Kräfteverhältnisse ausloten, die sich in den Sicherheitsdiskursen der Gegenwart manifestieren, so lohnt die Beschäftigung mit der Schrift Depenheuers aus drei Gründen:

Erstens: Depenheuer ist kein Outcast der akademischen Szene. Er argumentiert vielmehr aus dem Inneren der „ideologischen Staatsapparate" heraus. Auch deshalb ist die Parallelisierung seiner Schrift mit der Rektoratsrede Heideggers keine oberflächliche Polemik. Der „Selbstbehauptung des Rechtsstaats" im Depenheuerschen Sinne, entspricht in spezifischer Weise die „Selbstbehauptung" der Staatsrechtslehre als Einsicht in die Notwendigkeit ihres „Wesens", aus der dann politische Konsequenzen abgeleitet werden sollen: Auch Depenheuer schreibt als geistiger „Führer der Führer".

Zweitens: Depenheuer ist mit seinem Konzept durchaus erfolgreich. Zumindest ein politischer „Führer" hat ihn gehört und bekannt gemacht. Denn es war kein geringerer als Innenminister Wolfgang Schäuble, der in zahlreichen Interviews, die Lektüre der Depenheuerschen Ausführungen empfahl. Depenheuer war Schäubles akademischer Stichwortgeber in dessen Streit mit dem Bundesverfassungsgericht über die Frage, ob der Staat ein Recht zum Abschuss von Passagierflugzeugen hat.

Drittens: Depenheuer ist kein isolierter Solitär. Mit dem Versuch eine politische Offenbarungstheologie wieder ins Gespräch zu bringen, reiht sich der Jurist ein in jene Phalanx eines katholischen Konservatismus, der die Wesenskerne strenger (und repressiver) Spiritualität mit den nicht mehr hinterschreitbaren Elementen moderner, säkularer Gesellschaft zu „versöhnen" versucht. Ganz in diesem Sinn hatte Joseph Ratzinger in seiner Funktion als Papst während seiner „Regensburger Rede" die Ergänzungsbedürftigkeit der (naturwissenschaftlich-technischen) Vernunft durch den Glauben behauptet. Ein solches Programm verfolgt auch Depenheuer. Damit steht er ebenfalls in einer geistigen Kontinuität zu Vertretern der „Konservativen Revolution" in der Weimarer Republik (und im Faschismus), die stets bemüht waren, technischen Fortschritt und konservative Offenbarungslehren in Einklang zu bringen.3

Der wichtigste Bezugspunkt für Depenheuer ist Carl Schmitt. Dass diese Tradition der Staatsrechtslehre nicht von bloß historischem Interesse ist, wird nicht nur dadurch deutlich, dass die „Carl-Schmitt-Gemeinde" (und nicht einmal erfolglos) versucht, Schmitt als einen „Klassiker des politischen Denkens" zu retten, sondern auch dadurch, dass Schmittsche „Deutungsmuster" nach wie vor Wirkungen entfalten.4 Das liegt auch daran, dass fast nirgends sonst reaktionäres politisches Denken so konzentriert, klar und offen formuliert ist wie bei Carl Schmitt. Eine oft vorgetragene These der Carl-Schmitt-Verteidiger ist, dass Schmitt von seinem Katholizismus davor bewahrt worden sei, im eigentlichen Sinn Faschist zu werden. Dagegen lässt sich die These stellen, dass gerade ein bestimmter politischer Katholizismus prädestiniert dafür ist, in einen bestimmten Faschismus umzuschlagen. Wegen dieses politischen Katholizismus, den Schmitt oberflächlich als eine politische Theologie „der Moderne" säkularisiert hat, geht sein Konzept „des Politischen" aber tatsächlich nicht im Faschismus (oder gar im Nazifaschismus) auf, sondern eignet sich auch für reaktionäre und im Kern antidemokratische Nachfolgeideologien. Hier schließt sich der Kreis zu Otto Depenheuer.

Depenheuers Schrift ist ein strenger Traktat. Die zentrale Fragestellung ist dabei das Verständnis von Staat und Autorität. Es führt ins Zentrum der Demokratieproblematik, zumindest dann, wenn man die Demokratiefrage vor allem als eine Frage der „Volkssouveränität", also als eine Gesellschaftsfrage, versteht. Hier setzt Depenheuer an, um - ganz im Sinne Carl Schmitts - einen dem Absolutismus entlehnten Begriff der Souveränität zu „behaupten", der ganz unabhängig vom Recht, allererst „den Staat" verteidigen will.


2. Die terroristische Herausforderung

Am 11. September 2001 erklärte der amerikanische Präsident George W. Bush, nichts werde bleiben wie es vorher war. Depenheuer folgt ihm, wenn er - nicht ohne untergründige Häme - die „Welt von gestern" (Stefan Zweig) beschreibt:

„Das Ende staatlicher und überhaupt aller Gewalt schien immer näher zu rücken: die Epoche der - potentiell als gewalttätig verdächtigten - Nationalstaaten schien historisch ihrem Ende zuzuneigen. In vielen Strophen wurden bereits Abgesänge auf den Staat gesungen, der als Bezugspunkt fehlgeleiteter politischer und gewaltträchtiger Emotionen identifiziert und durch einen prinzipiell friedlichen Verfassungspatriotismus ersetzt werden sollte. Staatlichkeit sollte in Recht und Demokratie aufgehen, sich in eine sich selbst regulierende Gesellschaft auflösen und als System unter Systemen nur kollektiv verbindliche und anschlußfähige Entscheidungen formulieren. Staatsraison wurde allenfalls noch als Verfassungsraison (A. Arndt) geduldet, das Staatsvolk mutierte zur Bevölkerung, die als Integrationsboden der multikulturellen Gesellschaft diente. Und auch die Idee der Souveränität wurde in immer kleinere rechtliche Zuständigkeiten zerlegt, sollte allenfalls noch kollektiv zum höheren Zwecke der Integration der Europäischen Union wahrgenommen werden, um dadurch endgültig verabschiedet werden zu können." (18)

Die Terroranschläge von New York und Washington gelten ihm dagegen als eine Stunde der Wahrheit, die den tot geglaubten Staat (Gott sei Dank - im wörtlichen Sinn) herausgefordert habe:

„Die Utopie totaler Selbstreferentialität wurde in dem Augeblick klar, als der Terror aus heiterem Himmel die Idylle vielfältig ausdifferenzierter Mehrebenenkommunikation empfindlich störte. Blitzartig zerfielen die Netzwerke, Selbstreferentialität brach erschrocken ab, die Autopoiesis erlahmte, die Mehrebenen flüchteten unter die Decke des einen friedensgarantierenden Souveräns: des politischen Systems ‚Staat'." (19)

Mit dem 11. September sei „de[r] elementare [...] Zusammenhang von Ordnung und Gewalt in Erinnerung" gerufen worden, der im munteren Treiben der „Spaßgesellschaft" bloß „verdrängt" gewesen sei (vgl. 19):

„Jede Ordnung beruht auf Macht, und jede Macht basiert letztlich auf Gewalt: Gewalt steht am Anfang aller, auch staatlich garantierter Ordnung." (16)

Wenn Depenheuer in diesem Zusammenhang die Gewalt als den „Anfang aller Ordnung" bezeichnet, so artikuliert sich darin ein spezifisches Verständnis des Politischen. Denn zentral für die Verwendungsweise des Begriffs „Anfang" ist hier, dass nicht bloß eine kontingente, zeitliche Priorität gemeint ist, sondern ein wesentliches Erstes. Der „Anfang" ist nicht ein empirischer oder historischer „Anfang", wie die erste Zeile eines Aufsatzes oder die erste Briefmarke des Philatelisten, sondern Anfang im logischen, besser im onto-logischen, oder noch besser im onto-theo-logischen Sinn. Alle Vorstellung der Überwindung des Gewaltzusammenhangs wird als Spielerei abgetan. Dies wird deutlich in Formulierungen wie der folgenden:

„In diese euphorische Stimmung eines bevorstehenden ewigen und gewaltfreien Friedens, einer allmählich verschwindenden Staatlichkeit bei sich gleichzeitig auflösender Souveränität, von Integration durch Multikulturalismus und Zivilgesellschaft, von Hedonismus und Wohlstand brach am 11. September 2001 unvermittelt die brutale Gewalt des Politischen ein." (18)

Die Gewalt, die hier einbrach, ist nicht einfach eine politische Gewalt, sondern die „Gewalt des Politischen" selbst, eine substantielle Gewalt. So kann Depenheuer schreiben, im Terrorismus würden „die Bürger eines freiheitlichen Verfassungsstaates" „mit einer Grundkategorie des Politischen konfrontiert, die sie rechtlich gebändigt geglaubt und politisch verdrängt haben: der Gewalt. Der Terror spricht die Sprache der nackten Gewalt - eine der demokratischen Kultur in Deutschland fremd gewordene Grammatik des Politischen." (14)

Die Ontologisierung der Gewalt, die in diesem Kontext steht, ist in der Tat jene Ontotheologisierung, die man von Carl Schmitt kennt. Das theologische Ferment dieser Argumentation wird dort deutlich, wo Depenheuer den Terrorismus - im Verhältnis zur bereits erwähnten demokratischen „Kultur" selbstreferentieller Luhmannscher Systeme - charakterisiert:

„[D]iese Heiden der säkularen Staatlichkeit und individuellen Freiheit gehen kulturell selbstbewußt und im Besitz fester religiöser Glaubensüberzeugungen zum Gegenangriff über. Ihnen ist die relativistische Rationalität nichts gegenüber festen Glaubensüberzeugungen, die Idee der Menschenrechte nichts gegenüber Gottesfürchtigkeit, Gleichheit nichts gegenüber göttlichen Geboten, Demokratie und Rechtsstaat nichts gegenüber religiöser Wahrheit, Leben nichts gegenüber dem Tod: ‚Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod'. Die Aufzählung der Antagonismen ließe sich verlängern; im Kern aber beruhen sie auf zwei konkurrierenden Souveränitätsansprüchen, die den ‚langen Krieg gegen den Terrorismus' inhaltlich tragen: jenseitige oder diesseitige Lebenserfüllung, Wahrheit oder Frieden stehen sich unüberbrückbar gegenüber." (13)

Die Entgegensetzung von Wahrheit und Frieden ist der Schlüssel zu Depenheuers Rehabilitierung der Topologie einer konservativen Revolution. Der Krieg, der zum „Vater aller Dinge" erklärt wird, ist hier keine bloße Metapher für Konflikt. Die „seinsvergessenen" neunziger Jahre erscheinen als eine Phase der Dekadenz, die durch den Einbruch der Wahrheit als unwahr enthüllt worden ist. Ganz ähnlich hatte Werner Sombart im Jahr 1915 das Offenbarungsereignis des Weltkriegs gefeiert:

„Wir hatten die feste Überzeugung gewonnen, daß es mit der Menschheit zu Ende sei, daß der Rest ihres Daseins auf der Erde ein überaus unerfreulicher Zustand der Verpöbelung, der Verameisung sein werde, daß der Händlergeist sich überall einzunisten im Begriff stehe, und daß ‚die letzten Menschen' heraufkämen, die da sprechen: wir haben das Glück erfunden und blinzeln. Da ereignete sich das Wunder. Der Krieg kam. Und aus tausend und abertausend Quellen brach ein neuer Geist hervor; nein - kein neuer Geist! Es war der alte, deutsche Heldengeist, der nur unter der Asche geglommen hatte, und der nun plötzlich wieder zu Flamme entfacht worden war. Flamme, zehrende Flamme!" (Sombart 1915: 117)

Diesem „Augusterlebnis" von 1914 stellt Depenheuer nun das „Septembererlebnis" von 2001 zur Seite. Die Verknüpfung des Wahrheitsbegriffs mit dem Ereignis einbrechender Gewalt adelt die Terroranschläge tatsächlich zum „Wunder": Der 11. September erscheint als ein mythisches Datum, als ein Datum echter „Offenbarung".

Man könnte sich noch lange an dieser Figur aufhalten. Entscheidend ist, dass Depenheuer den Wahrheitsbegriff nur religiös (und das bedeutet im strengen Sinn „totalitär", als ausgreifende Partikularität) denken kann. Von der islamischen Wahrheit herausgefordert, obliegt es nun der westlichen „Gesellschaft" ihre Wahrheit als „staatliche Gemeinschaft" zu finden, um im Krieg bestehen zu können.


3. Der Ernstfall

In seiner programmatischen Schrift „Politische Theologie" von 1922 (Neuauflage 1934) hatte Carl Schmitt einen „Begriff" von Ausnahmezustand formuliert, der von folgender Definition der Souveränität ausging: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." (Schmitt 2004: 13). Ausnahmezustand, dies war für Carl Schmitt mehr als „irgendeine Notverordnung oder jeder Belagerungszustand": Souveränität galt ihm als „Grenzbegriff". Der Ausnahmefall wurde zum „Grenzfall". Dem Schmittschen Begriff der Grenze kommt man nur auf die Spur, wenn man den theologischen Anspruch seiner politischen Theorie ernst nimmt. In dem Abschnitt der Schrift, der den gleichen Titel trägt, wie der Gesamttext, heißt es:

„Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach, weil sie aus der Theologie auf die Staatslehre übertragen wurden, indem zum Beispiel der allmächtige Gott zum omnipotenten Gesetzgeber wurde, sondern auch in ihrer systematischen Struktur, deren Erkenntnis notwendig ist für eine soziologische Betrachtung dieser Begriffe. Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie. Erst in dem Bewußtsein solcher analogen Stellung läßt sich die Entwicklung erkennen, welche die staatsphilosophischen Ideen in den letzten Jahrhunderten genommen haben." (Schmitt 2004: 43)

„Säkularisierung" ist für Schmitt keine Überwindung der theologischen Begründungsstruktur, sondern besteht lediglich darin, die Referenz „Gott" durch etwas anderes zu ersetzen. Funktional bleibt die Struktur erhalten. So ist „Säkularisierung" für Schmitt die „Entgöttlichung" des Politischen unter Wahrung seiner (theologischen) Substanz.

Im Kern ist es dieser Schmittsche Säkularisierungsbegriff, den Depenheuer bereits im Jahr 2002 wieder aufgegriffen und in eine moderne systemtheoretische Sprache übersetzt hat. Als Vater des modernen, säkularen Staates erscheint hier der dreißigjährige Krieg:

„Der weltliche Staat stand dabei zunächst ganz im Dienste der geistlichen Parteien: nach der vom Papst gegen den Kaiser durchgesetzten Verhältnisbestimmung von geistlicher und weltlicher Gewalt war es die Aufgabe der weltlichen Macht, mit ihren Mitteln der Wahrheit zum Siege zu verhelfen, den Irrtum zu unterdrücken, Ketzer und Häretiker zu bestrafen. Der religiöse Konflikt musste daher unvermeidlich zum politischen Kampf und als solcher ebenso gnadenlos und total werden, wie er als religiöser kompromißlos war." (Depenheuer 2002a: 12)

Gerade die Brutalität der Religionskriege, die Depenheuer „hermeneutische Bürgerkriege" nennt,

„legte [...] ungewollt und unbewußt den Grund für den praktischen Durchbruch der theoretischen Idee des souveränen und säkularen Staates. Der einzige Ausweg aus der Krise des 17. Jahrhunderts schien den großen Denkern dieser Zeit in der Depotenzierung der religiösen Mächte zu liegen. Zu diesem Zweck mußte ein absolut sicherer Punkt jenseits der hemeneutischen Disputation über den Wahrheitsgehalt von Offenbarungstexten, d.h. eine kultur- und konfessionsunabhängige Form der Wahrheit gefunden werden, deren Wahrheit alle Menschen einsehen können und kraft apriorischer Überzeugungen zustimmen müssen [...]. Inhalt dieser säkularen Wahrheit war der Frieden, ihr Sachwalter der absolutistische Staat, der sich gerade deswegen nicht mehr religiös legitimieren konnte. Der Staat wird zur neutralen Instanz, die über den streitenden Religionsparteien steht." (Depenheuer 2002a: 12f.)

Sieht man ab von der einseitigen („idealistischen") Ursachenerklärung für die Kriege des 17. Jahrhunderts aus religiösen Überzeugungen allein, handelt es sich um eine durchaus plausible Rekonstruktion der Geburt des modernen europäischen Staatsbegriffs aus dem Geist der politischen Theologie, wenn Depenheuer schreibt: „An die Stelle der einen res publica christiana trat zunächst die Trennung von Staat und Kirche und schließlich - auf der Basis der Grundrechte - das in zahlreiche Teilsysteme ausdifferenzierte Gemeinwesen der modernen Gesellschaft." (ebd.: 13) Depenheuer folgt systemtheoretischen Überlegungen bis zu jenem Punkt, an dem die „funktional ausdifferenzierte Gesellschaft" als eine „notwendig und unaufhebbar fragmentierte" erscheint: „Die einzelnen Funktionssysteme operieren nach der Logik ihrer jeweiligen spezifischen Systemrationalität. [...] Zudem gibt es keine zentrale Integrationsagentur, auch Staat und Religion bilden nicht das Zentrum gesellschaftlicher Einheit: die Integration der Gesellschaft erfolgt nicht durch Einheitsbeschwörung, sondern paradoxerweise durch Differenz - und damit absolut konträr zur mittelalterlichen Einheitsvorstellung." (ebd.) Dennoch gelingt es Depenheuer, von diesem Punkt aus den Anschluss zurück zu jener absolutistisch-staatlichen Offenbarungstheologie zu finden, die das Staatsverständnis von Carl Schmitt im Kern prägt: „Wohl aber ist der Staat insoweit grundlegend, als sich die funktional differenzierte Gesellschaft nur im Schutz des Staates entwickeln kann, d.h. nur solange er seiner primären Aufgabe der Friedenssicherung gerecht zu werden vermag." (ebd.)

Die kleine Exkursion zu diesen Ausführungen Depenheuers aus einem Aufsatz des Jahres 2002 hilft, das „Offenbarungserlebnis" des 11. September besser zu bestimmen: Von einer unmittelbar theologischen Wahrheit herausgefordert, muss der Staat seinen wehrhaften Substanzkern, der im Gewimmel ausdifferenzierter Systeme beinahe vergessen worden wäre, „freilegen". Dieses staatliche Substrat, das zwar nicht als Zentrum, wohl aber als Grundlage gesellschaftlicher Differenz fungiert, ist in seiner Souveränitätsstruktur im Kern dasselbe, das den absolutistischen Staat zum säkularen Friedensgaranten gemacht hat. Wenn (religiöse) Wahrheit und Frieden (als Inhalt der staatlichen Wahrheit) kollidieren, muss der Sachwalter des Friedens seine kriegerischen Zähne zeigen. Hier holt das Staatsverständnis den Gehalt der „Ausnahme" als funktionales Äquivalent des „Wunders" ein, dessen Stellung in der katholischen Theologie, aus der Depenheuer und Schmitt gleichermaßen schöpfen, zentral ist: Im Wunder vollzieht sich Offenbarung, unmittelbarer Kontakt zwischen Jenseits und Diesseits, göttlicher Eingriff in die menschlichen Geschicke. Ganz gemäß dem „Tat-Denken" der „konservativen Revolution" (bei Schmitt so gut wie bei Jünger und Heidegger) erwählt sich die Offenbarung des Seins einen ersten Hirten, dessen Entscheidung nur dadurch freie Entscheidung ist, als er das vorherbestimmte Seins-Schicksal annimmt.

Hier kommt der Depenheuersche Begriff des Ernstfalls ins Spiel:

„Der Ernstfall kann, muß aber normativ nicht der Ausnahmefall sein. Der Ausnahmefall ist - normativ betrachtet - nur die intensivste Form des Ernstfalles. Er bezeichnet die Grenze möglicher Normierbarkeit. Wo die Ausnahme beginnt, vermag die Regel der Normierbarkeit nicht mehr zu greifen. Die Tatbestandsmäßigkeit des positiven Rechts läuft leer, und die Souveränität der Tat tritt an ihre Stelle: ‚Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.'" (40)

Die existentielle, ontotheologische Bedeutung, die Normalität und Ernstfall als „Aggregatzuständen staatlicher Existenzweise" zugeschrieben wird, ist überall dort greifbar, wo Depenheuer den Begriff des Seins verwendet:

„Jede normative Ordnung reagiert auf eine vorgegebene Ordnung des Seins, indem sie die Ordnung dieses Seins nachzuzeichnen (Naturrecht) oder diese Wirklichkeit durch positives Recht zu ändern sucht (positives Recht)." (37) - „Im Ernstfall wird der Mensch mit der Gegenwelt des Normativen konfrontiert: der nackten Gewalt" (41) -  „Terroristische Angriffe nach Art des 11. September bilden für die freiheitlichen Verfassungsstaaten den Ernstfall. Sie stellen eine Bedrohung der eigenen politischen Existenzform dar." (47)

Aus dieser Seinslehre leitet sich die Notwendigkeit ab, eine Rechtsgrundlage freizulegen, die der Souveränität des Staates angemessen ist: „Das Recht arbeitet als Ordnung des Sollens tendenziell rechtsautistisch, ignoriert die Zumutungen des Seins." (41) Wo im Ernstfall das Sein selbst zu den Waffen ruft, bedarf es daher einer seinsmäßigen „Ergänzung" des Rechtsverständnisses. Dem trägt Depenheuer Rechnung, indem er aus der Dichotomie von Normallage und Ausnahmelage zwei entgegengesetzte Bereiche des Rechts ableitet: „Zwei unterschiedliche Rechtsregime greifen Platz: Bürgerrecht und Ausnahmerecht" (37) Dieser Unterscheidung entspricht eine Zuordnung der (bloß biologischen) Kategorie „Mensch" in das Rechtssubjekt „Bürger" auf der einen, das Rechtsobjekt „Feind" auf der anderen Seite. Denn Ausnahmerecht ist für Depenheuer Feindrecht:

„Im Ernstfall tritt an die Stelle des allgemeinen Bürgerrechts die theoretische Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Der grundgesetzliche Rechtsstaat aber will die Kategorie des Feindes nicht kennen. Da er sich im Krieg gegen den Terror aber trotzdem Feinden gegenübersieht, hat sich im Rahmen des geltenden Rechts subkutan ein spezifisch an der terroristischen Bedrohung orientiertes Gefahrenabwehrrecht etabliert." (54)


4. Der Feind

Die Unterscheidung von Freund und Feind als der wesentlichen politischen Unterscheidung geht abermals auf Carl Schmitt zurück. Ganz der Ausnahmezustandskonstruktion aus der „politischen Theologie" entsprechend wird in der Schrift „Der Begriff des Politischen" der Dualismus von Freundschaft und Feindschaft als eine „existentielle" Unterscheidung gefasst, die nicht in Begriffen wie Hass oder Verachtung gefasst werden kann (vgl. Schmitt 1932: 14f.). Mit der Diagnose des Ausnahmezustands einher geht notwendig die Identifikation des Feindes, der den Ernst- oder Ausnahmefall personal repräsentiert, in dem sich - anders formuliert - das Analogon des Wunders manifestiert:

„Staatstheoretisch könnte der Feind des Rechtsstaates von der Rechtsordnung als Feind qualifiziert und damit außerhalb des Rechts gesetzt werden. Denn Staat und Gesellschaft beruhen auf einem Verhältnis elementarer Gegenseitigkeit." (61)

Die Konsequenzen dieser Unterscheidung zweier elementarer Rechtsbereiche, die „den Feind" außerhalb jeder Form von Bürgerrecht stellen, sind Depenheuer durchaus bewusst:

„[D]er Feind ist die Negation des Bürgers im status civilis, er steht als Mensch außerhalb des Gesellschaftsvertrags, aus ihm kann er keine Rechte für sich herleiten. Der Feind ist verfassungstheoretisch nicht Rechtsperson, die das geltende Recht prinzipiell achtet, sondern Gefahr, die um der Rechtsgeltung willen bekämpft werden muß. Es gibt verfassungstheoretisch keine Basis, auf deren Grundlage der Staat seiner terroristischen Negation in Person etwas schuldete. Indem der Feind außerhalb des Rechts gestellt wird, liegt gar eine Anerkennung seiner Würde: der Terrorist wird als Überzeugungstäter ernst genommen und gerade deswegen als Gefahr für die staatlich verfaßte Gemeinschaft [sic!] bekämpft." (63)

Diese Form der Anerkennung der Menschenwürde „außerhalb des Rechts" schließt weder Internierung noch Folter aus. Diese Möglichkeit verbleibt bei Depenheuer nicht im Impliziten:

„Phänomenologische Chiffre für die Rechtlosigkeit des Feindes und Maßgeblichkeit reiner Staatsraison steht ‚Guantanamo' als ein Ort, an dem Recht solange suspendiert ist, wie die Gefahr andauert. Die Gefangenen haben hier nicht den Status von Rechtssubjekten, sie haben nur noch ihr ‚nacktes Leben'"5 (63). - „Systematisch zum Feindgefahrenabwehrecht würden auch spezielle, aber soweit ersichtlich derzeit noch nicht ernsthaft erwogene Maßnahmen der präventiven Sicherungsverwahrung ebenso zählen wie solche der Internierung potentiell gefährlicher Personen oder die kontrovers diskutierte Frage nach einer - rechtsstaatlich domestizierten - Folter." (72)

Entscheidend sind an dieser Argumentation zwei Aspekte:

Erstens: Depenheuer spricht hier nicht von einem politischem Strafrecht, das sich zu seinem politischen Charakter bekennen und somit die Karten einer politischen Strafjustiz auf den Tisch legen würde. Er argumentiert auch nicht im Sinne des Rechts eines Überzeugungstäters, ernst genommen zu werden, und ihm so den Rechtsstatus eines politischen Gefangenen zu gewähren (man denke etwa an die alte Forderung, die RAF-Gefangenen als politische Gefangene bezeichnen zu dürfen). Depenheuer spricht von einem Feindrecht, das in keiner Weise den Delinquenten als Rechtsperson akzeptiert. Das Feindrecht bezieht den Feind nicht ein, sondern macht ihn - ganz im Sinne von Agambens Theorie des „nackten Lebens" - zur personifizierten Ausnahme aus dem Rechtssystem.

Zweitens: Dies wird noch dadurch gesteigert, dass Depenheuer das Feindrecht als Gefahrenabwehrrecht beschreibt, also als präventives „Recht", als explizites Unrecht, das die Verteidigung des „Rechts" garantiert. Hiermit sind wir wieder beim oben erwähnten Prinzip der „nackten Gewalt", der die abgeschminkte „Verfassungsstaatlichkeit" als Staatlichkeit zu begegnen habe: mit „nackter Gewalt" gegen „nacktes Leben".

In einem Punkt freilich macht Depenheuer eine Einschränkung der Reduktion des Feindes auf ein reines Objekt staatlicher Souveränität. Beinahe mutet es so an, als ob er Angst vor der eigenen Courage hätte, wenn er schreibt:

„Würde der Feind aber einem spezifischen Rechtssystem unterstellt, dann gälte der rechtsstaatliche Grundsatz, daß dem möglichen Feind Rechtsschutz jedenfalls in dem Umfang zuerkannt werden muß, als es um den Status als Feind - und nicht um den als straffällig gewordener Bürger - geht. Der Staat müßte dem terrorverdächtigen Feind also jedenfalls ein subjektives Recht zugestehen, nämlich auf gerichtliche Klärung seines Status: als feindlicher Terrorist oder als bürgerlicher Verbrecher." (64f.)

Wer freilich hier eine Inkonsequenz Depenheuers vermuten wollte, wird im Schlusskapitel der Schrift eines Besseren belehrt. Die konjunktivische Grammatik dieses einschränkenden Passus wird in ihrer Bedeutung dann ersichtlich, wenn die letzte Kategorie des Depenheuerschen Ausnahmerechts entfaltet wird. Dem Feindrecht korrespondiert das „Bürgeropfer". Die Rückwirkung dieses Konstrukts auf das vorher Ausgesagte bleibt bei Depenheuer allerdings implizit.


5. Das Bürgeropfer

Ging es im Konzept eines Feindrechts darum, dem „Feind" den Status der Rechtssubjektivität abzusprechen, so wird im abschließenden Kapitel die Möglichkeit „diskutiert", dem „Bürger" das Opfer seines Lebens abzuverlangen. Zunächst beklagt Depenheuer in diesem Zusammenhang die „Opfervergessenheit" der bundesdeutschen Gesellschaft:

„Die hiesige ‚Opfervergessenheit' folgt nicht zufällig auf eine Zeit der ‚Opferversessenheit' in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. [...] Die nach der militärischen Niederlage und dem moralischen Offenbarungseid einsetzende Tabuisierung des Opfergedankens in Deutschland hat die Semantik des Opferbegriffs nachhaltig umgeprägt: das Opfer, das man - aktiv und bewußt - ‚bringt', war weithin diskreditiert und wurde durch das Opfer, das man - passiv und schuldlos - ‚ist', ersetzt. Aber selbst dieser Opferbegriff wurde - der deutschen Kriegsschuld wegen - den deutschen Opfern von Krieg und Vertreibung vorenthalten, während er sich im übrigen inflationsartig vermehrte und sich jeder als Opfer definieren konnte: als Opfer von Kriegen und Naturkatastrophen, von Unterdrückungen und Diskriminierungen, von Ausbeutung oder Hungerkatastrophen, von Verkehrsunfällen und verdorbenen Lebensmitteln." (82f.)

Man sollte sich vom Lippenbekenntnis zu deutscher Kriegsschuld und „verbrecherischen und sinnlosen Zwecken" (82) in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht aufs Glatteis führen lassen. Depenheuer geht es um die vollständige Rehabilitierung des Opfergedankens in seiner „ursprünglichen Semantik". Ganz getreu dem Ausnahme-Wunder-Analogon wird auch hier vom Extrem her das eigentliche, ungeschminkte Wesen der Bürgerschaft gedacht. In letzter Instanz ist nur derjenige Bürger, von dem der Staat im Ausnahmefall Opferbereitschaft verlangen und erwarten kann:

„Sowohl die Erwartung der Opferbereitschaft der anderen als auch die Bereitschaft zum eigenen Opfer für die Gemeinschaft bildet die Konsequenz des Lebens in staatlicher Gemeinschaft. Wer in Gemeinschaft lebt und leben will, kann sich den daraus erwachsenden Pflichten nicht entziehen." (99)

Die Opferbereitschaft wird von Depenheuer folglich aus dem Konstrukt eines „apriorischen Pflichtenstatus des Einzelnen" abgeleitet, als dessen „Grenzfall" sie beschrieben wird:

„Die ebenso existentielle wie unverfügbare Verwiesenheit des Einzelnen an die konkrete staatliche Gemeinschaft hat unmittelbar rechtliche Konsequenzen: weil diese Bedingung der Möglichkeit ist, dem Einzelnen physische Existenz und freie Entfaltung seiner Persönlichkeit im Kontext eines demokratischen Rechts- und freiheitlichen Sozialstaats zu garantieren, ist das Grundverhältnis von Staat und Bürger nicht durch Grundrechte, sondern durch Grundpflichten charakterisiert." (90)

Der Bürger erscheint somit als das Positiv des Feindes. Wo der Feind getötet (gefoltert oder interniert) werden darf, weil er kein Rechtssubjekt ist und als solches der staatlichen Gemeinschaft schlichtweg entgegensteht, wird vom Bürger die Bereitschaft verlangt, sich für die Staat töten zu lassen, weil er seinen Status als Rechtssubjekt dieser ihm vorgeordneten staatlichen Gemeinschaft verdankt.

Stand die Konstruktion des Feindrechts im Kontext der Suspendierung rechtsstaatlicher Normen im Kontext des „Antiterrorkriegs" (Guantanamo, Folter), so steht die Konstruktion der Bürgerpflicht im Kontext der Diskussion, um ein - vom Verfassungsgericht verneintes - „Recht" des Staates, Passagierflugzeuge abzuschießen. Entsprechend heftig fällt Depenheuers Behandlung der höchsten Richter aus: „Diese Perversion des Rechtsdenkens darf als Verrat an den Ideen und Werten freiheitlicher Verfassungsstaatlichkeit bezeichnet werden; sollten zu deren Erhaltung die Bürger tatsächlich weder Willen noch Mut haben, dann werden die historischen Kämpfe für ihre verfassungsrechtliche Etablierung vergeblich gewesen sein." (98) Entscheidend an dieser Argumentation ist, dass Depenheuer hier nicht von einem moralischen Dilemma redet, sondern ein explizites Recht des Staates einfordert, „seine" Bürger zu töten: Flugzeuge sollen mit guten Gewissen und ohne Rechtskonflikt abgeschossen werden. Der von Depenheuer mehrfach beschworenen „tragischen Konfliktlage" wird dadurch schlicht der Boden entzogen, indem Eindeutigkeit behauptet wird.

Ganz in diesem Sinne hatte schon Ernst Jünger verkündet,

„daß unsere Freiheit dort am mächtigsten sich offenbart, wo sie von dem Bewußtsein getragen wird, daß sie ein Lehen ist. Dieses Bewußtsein hat sich in all jenen unvergeßlichen Aussprüchen niedergeschlagen, mit denen der Uradel der Nation den Wappenschild des Volkes bedeckt; es regiert Denken und Gefühl, Tat und Werk, Staatskunst und Religion. Daher wird jedesmal die Welt in ihren Grundfesten erschüttert, wenn er erkennt, was das Notwendige ist. Hier läßt sich nichts abdingen, und möge die Welt untergehen, so muß doch das Gebot vollstreckt werden, wenn der Ruf vernommen ist." (Jünger 1932: 13)

Der Bereitschaft sich ins „Notwendige" zu fügen, entspricht ein Sinnversprechen des Opfers: „Die freiwillige Aufopferung für andere (Pater Kolbe), für den Staat (Soldaten) oder für eine Wahrheit (Märtyrer) verleiht dem subjektiven Leben zugleich eine objektive Dimension, die ihm Sinn und Erfüllung zu geben vermag." (99) Depenheuer wird pathetisch, wenn er schreibt: „Die allerorten aufzufindende Gefallenentafeln von einst formulieren: für das ‚Vaterland'. Dies ist aus der Mode gekommen, aber in der Sache jedenfalls besser als das peinliche Schweigen der Politik angesichts der Gefallenen von heute." (102)

Damit sind wir wieder im originären Bereich politischer Ontotheologie angelangt: Transzendenter Sinn und Erfüllung im Märtyrium werden als zentrale Kategorien der Opferbereitschaft vorgeführt. Bürger und Feind unterscheiden sich letztlich nur darin, dass der Bürger ein Recht darauf hat, geehrt zu werden. Die Komplementarität von Feindrecht und Bürgerpflicht hat freilich noch eine andere Konsequenz, die Depenheuer nicht explizit macht. Das „subjektive Recht" des Feindes auf Klärung seines Status ist hinfällig in dem Moment, in dem die Kategorie des Bürgeropfers ernst genommen wird. Der zu Unrecht als Feind behandelte Bürger, muss streng genommen - als Einsicht in Notwendigkeit - das Unrecht über sich ergehen lassen und gleichzeitig wissen, dass er ein Opfer bringt.


6. Fazit: Die Verteidigung der drei großen Fetischismen

Depenheuers Wiederbelebung fast sämtlicher Topoi der konservativen Revolution zeigt sich somit als ein geschlossener Versuch sämtliche Maßnahmen von Demokratieabbau als einem permanenten Ausnahmezustand geschuldet für legitim zu erklären. Für Depenheuer ist Demokratie eine durchaus kontingente Lebensweise, die oberflächlicher Ausdruck einer sich ausdifferenzierenden Systemvielfalt ist, in den Tiefen ihrer staatlichen Garantiemacht jedoch das Prinzip der Souveränität im Carl Schmittschen Sinne als Wesenskern verborgen hält. Im existentiellen Offenbarungserlebnis (etwa terroristischer Anschläge) bricht das Wesensprinzip der nackten Gewalt als Schicksal des Staates hervor. Wer dann Entscheidungskraft beweist, ist erleuchteter Prophet, bzw. sein säkulares Analogon: Souverän oder Führer.

Karl Marx hat sich mit drei großen Fetischismen beschäftigt: dem authentischen Fetisch der Religion, dem säkularisierten Fetisch des Staates und zuletzt dem den Waren- und Geldfetisch enthaltenden Kapitalfetisch. Wenn richtig ist, dass die Kritik der Religion, des Staates und der politischen Ökonomie ihren gemeinsamen Standort darin haben, Fetischismuskritik zu sein, so beweisen moderne Fetischdiener wie Depenheuer die Notwendigkeit einer an Marx geschulten Kritik. Eine genaue Analyse der umherschwirrenden Fetischismen und ihres Verhältnisses würden zeigen, dass man nicht dem geschichtsphilosophischen Irrtum aufsitzen darf, Religion, Staat und Kapital einfach nur als eine Abfolge zu begreifen. Die Fetischdiener selbst beschreiben den Prozess vielmehr als eine Ausdifferenzierung. Ihr Streit untereinander geht darum, welcher Fetisch die Oberhand haben soll. Die Form der Kritik, die den drei konkurrierenden und sich doch gegenseitig stützenden Totalitarismen6 beikommen kann, ist die Marxsche „Kritik im Handgemenge". Diese Kritik ist im „eigentlichen", säkularen Sinn demokratische Haltung.

Literatur
Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer, Frankfurt/Main
Agamben, Giorgio (2003): Was von Auschwitz bleibt, Homo sacer III, Frankfurt/Main.
Agamben, Giorgio (2004): Ausnahmezustand, Homo sacer II, Frankfurt/Main.
Depenheuer (2002a): Religion als ethische Reserve der säkularen Gesellschaft? Zur staatstheoretischen Bedeutung der Kirche in nachchristlicher Zeit; in: Otto Depenheuer, Markus Heintzen, Matthias Jestaedt, Peter Axer: Nomos und Ethos. Hommage an Josef Isensee zum 65. Geburtstag von seinen Schülern, Berlin.
Depenheuer, Otto (2002b): Entwicklungslinien des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes in Deutschland 1949-2001; in: Thomas von Danwitz, Otto Depenheuer, Christoph Engel: Bericht zur Lage des Eigentums, Berlin u.a.
Depenheuer, Otto (2007): Selbstbehauptung des Rechtsstaates, Schönburger Gespräche zu Recht und Staat Bd. 8, Paderborn.
Jünger, Ernst (1932): Der Arbeiter - Herrschaft und Gestalt, Hamburg.
Heidegger, Martin (2000): Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910-1976, Gesamtausgabe Bd. 16, hrsg. v. Hermann Heidegger, Frankfurt/Main.
Morat, Daniel (2007): Von der Tat zur Gelassenheit - Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920-1960, Göttingen.
Schmitt, Carl (1932): Der Begriff des Politischen, München u.a.
Schmitt, Carl (2004): Politische Theologie, Berlin.
Sombart, Werner (1915): Händler und Helden, München u.a.

Endnoten:
1     Hiermit knüpfte Heidegger an Platons Politeia und die darin entwickelte Lehre von den drei Ständen - Nährstand, Wehrstand und Lehrstand - an, die zugleich eine gesellschaftliche Hierarchie bezeichnen sollte, in der die Philosophen den Staat regieren.
2     Depenheuer (2007), im Folgenden beziehen sich Seitenzahlen in Klammern auf diesen Band.
3     Beispiele hierfür sind etwa Carl Schmitts im Kontext der geopolitischen Wende in den vierziger Jahren formulierten These einer „Raumrevolution" durch die moderne Luftfahrt („Land und Meer", „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte") und Ernst Jüngers Überlegungen zur „totalen Mobilmachung" (in „Krieg und Krieger") und schließlich die „apokalyptische" Vision eines totalen Arbeitsstaats jenseits der Trennung von Organik und Mechanik („Der Arbeiter" 1932, vgl. hierzu auch Morat 2007: 94ff.). Jünger unterscheidet sich von Schmitt freilich dadurch, dass er seinerzeit kein Katholik war. (Er konvertierte erst 1998 zum Katholizismus.)
4     So gelangten zentrale Elemente Schmittschen Denkens (vermittelt über den Schmitt-Schüler Leo Strauß) in die USA und prägten - ins Protestantische übersetzt - den dortigen „Neokonservatismus" nachhaltig.
5     Die explizite Nennung der Kategorie des „nackten Lebens", die der italienische Philosoph Giorgio Agamben Walter Benjamin entlehnt, erscheint in diesem Zusammenhang auch deshalb pikant, weil Agamben sie in einen - selbst höchst problematischen - Zusammenhang mit den Konzentrationslagern der deutschen Faschisten bringt. Dieser unterschwellige Bezug der Depenheuerschen Argumentationskette kann hier unmöglich rekonstruiert werden. Verwiesen sei aber auf die zentralen Schriften Agambens aus dem Homo-sacer-Zyklus (Agamben 2002, 2003, 2004).
6     Vgl. dazu Depenheuers Ausführungen zur Eigentumsgarantie im Grundgesetz: „Die Grundrechte, insbesondere die Eigentumsgarantie, stehen [...] der Einführung von Systemen wie der Zentralverwaltungswirtschaft oder der Planwirtschaft mit staatlicher, verbindlicher Steuerung, bzw. der Einführung eines durchgängig volkseigenen Gemeineigentums an Produktionsmitteln a priori entgegen." (Depenheuer 2002b: 119). Eine genaue Analyse der privatrechtlichen Schriften Depenheuers wäre ein lohenswertes Unterfangen, das im Rahmen dieses Artikels jedoch nicht geleistet werden kann.


Dieser Artikel erschien zuerst in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 152, 38. Jg., 2008, Nr. 3