Black President

"Auf diesen Tag haben wir seit 1619 gewartet“, sagte in der Wahlnacht Manning Marable, Direktor des Center for Contemporary Black Studies der Columbia University, und erinnerte damit an die ersten 20 Afrikaner, die in jenem Jahr auf einem niederländischen Sklavenschiff in Jamestown, Virginia, anlandeten. Tatsächlich bedeutet die Wahl Barack Obamas zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten eine Zäsur in der amerikanischen Geschichte. Die ersten 16 US-Präsidenten hätten den 44. Präsidenten als Sklaven besitzen können – ein eindrucksvoller Beleg für die Wandlungsfähigkeit und liberal tradition Amerikas.1

Entsprechend überschwänglich waren die Reaktionen. Der Kongressabge-ordnete John Lewis, in den 60er Jahren als Vorsitzender des Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) ein Wegbegleiter von Martin Luther King, jr., sprach euphorisch von einer „gewaltfreien Revolution“. Weltweit ausgestrahlte Bilder von der Wahlfeier in Chicagos Grant Park zeigten Kings Mitstreiter Jesse Jackson, der 1988 die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten nur knapp verfehlt hatte, zu Tränen gerührt. „Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Tag erleben würde“ – dies war der meistzitierte Satz des Abends.

Ganz offensichtlich kommt bereits Obamas Wahl eine historische Bedeutung zu – noch bevor er am 20. Januar in das einst von Sklaven erbaute Weiße Haus einziehen wird. Sie bestätigt, wie sehr sich die Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Offenbar vermögen offener Rassismus und die Ideologie der „Überlegenheit des weißen Mannes“ heute in den meisten Regionen des Landes keine breite Zustimmung mehr zu mobilisieren.

Doch der Kern des Wahlerfolgs liegt woanders: Obama wurde gewählt, weil er seinen Wahlkampf als race-neutral candidate, als „farbenblinder“ Kandidat, führte. Damit unterscheidet er sich sichtbar von der „alten Garde“ afroamerikanischer Politiker, die sich immer auch als „Sprachrohr der Schwarzen“ definierten. Mit ihrem offen vertretenen race consciousness hätte Obama keinerlei Chance gehabt, aus einer bundesweiten Wahl siegreich hervorzugehen.

Die Obama-Koalition

Obamas Leistung besteht darin, als Angehöriger einer Minderheit eine mehrheitsfähige Koalition geschmiedet zu haben. Indem es ihm gelang, gerade die wachsenden Schichten der amerikanischen Wählerschaft zu integrieren, könnte seinem Wahlsieg eine weitere historische Bedeutung zukommen: nämlich eine Hegemonie der Demokratischen Partei zu begründen, die ähnlich lange währen könnte wie diejenige der Republikaner von Ronald Reagan bis George W. Bush.

Tatsächlich ist es den Demokraten gelungen, insbesondere bei denjenigen Gruppen starke Zugewinne zu erzielen, die künftig allen demographischen Prognosen zufolge weiter wachsen werden (Minderheiten und Einwanderer), denen die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung zuwächst (Hochgebildete, Städter, moderne Frauen) oder denen schlicht die Zukunft gehört (unter 30jährige).

Umgekehrt hat der landesweit mit knapp sieben Prozentpunkten unterlegene McCain im Wesentlichen nur zwei Gruppen für sich gewinnen können: Senioren über 65 Jahre und Weiße (Obama 43, McCain 55), insbesondere weiße Männer (41:57).2 Auch wenn die Weißen derzeit immer noch die übergroße Mehrheit der Wählerinnen und Wähler ausmachen: Entscheidend ist, dass ihr Anteil an der Bevölkerung kontinuierlich zurückgeht. Bereits bei dieser Wahl lag er nur noch bei 74 Prozent und damit drei Prozentpunkte niedriger als noch vier Jahre zuvor; 1984 hatte er noch 86 Prozent betragen.

Im Unterschied zu McCain hat Obama vor allem bei den Minderheiten und Einwanderern gewonnen. So konnte er 95 Prozent der afroamerikanischen Stimmen auf sich vereinigen. Er siegte aber auch bei den Latinos, dem am schnellsten wachsenden Segment der amerikanischen Wählerschaft, mit 67 zu 31 Prozent und bei den Asian Americans mit 62 zu 35 Prozent deutlich. 78 Prozent Unterstützung durch die amerikanischen Juden belegen zudem, dass das traditionelle, aber immer wieder interessengeleitet kleingeredete Wahlbündnis von Schwarzen und Juden fortbesteht.

Die starke Unterstützung durch die Minderheiten ist – aufgrund des US-Wahlsystems – durch deren geographische Verteilung von besonderer Bedeutung. So hat die Einwanderung von Latinos dazu geführt, dass langjährig republikanisch beherrschte Bundesstaaten bei dieser Wahl an die Demokraten fielen, und zwar insbesondere im sogenannten Mountain West, wo Obama Colorado, Nevada und New Mexico gewann. Obamas Sieg in Florida bedeutet zudem, dass von den vier bevölkerungsreichsten Staaten, von denen Ronald Reagan noch drei gewann, heute nur noch einer, nämlich Texas, republikanisch dominiert ist.

Stramm republikanisch wählte, neben den ländlich strukturierten, bevölkerungsarmen Plain Staates, dieses Mal nur noch der Süden, den die Demokraten in den 60er Jahren aufgrund der von Präsident Lyndon B. Johnson vorangetriebenen Bürgerrechtsgesetzgebung und Nixons „Southern strategy“ dauerhaft an die Republikaner verloren. Aber selbst hier gibt es, wie Obamas Siege in Virginia und North Carolina bestätigen, erste Einbrüche. So hat die im Zuge der „nachholenden“ Urbanisierung der Region anhaltende Zuwanderung dazu beigetragen, dass heute auch im Süden fast alle Großstädte Hochburgen der Demokraten sind. Die Umstrukturierung der Bevölkerung könnte mittelfristig somit auch diese Region dem festen republikanischen Zugriff entziehen.

Zwei weitere Gruppen sind für die Obama-Koalition von entscheidender Bedeutung: die Jugend und die Frauen. Die unter 30jährigen stimmten zu 66 Prozent für Obama; auch bei den Weißen in dieser Altersgruppe siegte der Demokrat (54:44). Und während sich die männlichen Wähler insgesamt etwa gleichmäßig aufteilten, votierten die weiblichen deutlich (56:43) für Obama.

Dabei waren es insbesondere alleinstehende Frauen (69:31) und alleinerziehende Mütter (74:25), die demokratisch wählten. Damit haben sich diese Frauen für den – gerade im Vergleich zu der bisweilen martialischen Soldaten-Rhetorik McCains – bedächtigeren, weniger aggressiven und sexistischen Typus entschieden. Gerade „moderne“ Frauen dürften zudem von der evangelikalen Vizepräsidentschaftskandidatin der Republikaner, Sarah Palin, abgeschreckt worden sein. Dies indiziert, dass die lange Zeit so erfolgreichen „Kulturkämpfe“ der Republikanischen Partei an ihr Ende gelangt sein könnten.3

In jedem Fall ist die „dauerhafte republikanische Mehrheit“, die der Chefstratege der Republikaner, Karl Rove, noch vor wenigen Jahren bereits etabliert sah, in weite Ferne gerückt.

Projektion und Wirklichkeit

Ob es den Demokraten ihrerseits gelingt, eine „dauerhafte Mehrheit“ zu etablieren, wird sich voraussichtlich bereits in den ersten Monaten nach dem Amtsantritt des neuen Präsidenten entscheiden: Denn mögliche Reformvorhaben, die sich dann als nicht durchsetzbar erweisen, werden vermutlich langfristig blockiert sein.

Für grundlegende Reformen spricht jedoch nicht nur der historische Augenblick, sondern auch die gewachsene Macht des Präsidenten. Immerhin konnten die Demokraten bei den wichtigen Kongresswahlen, die parallel zur Präsidentenwahl stattfanden, ihre Mehrheiten in beiden Kammern deutlich ausweiten. Auch wenn Parteien in den USA nur lose Dachverbände sind und Abgeordnete deshalb in einzelnen Fällen ihre Zustimmung verweigern dürften, kann Obama aufgrund seines überzeugenden Mandats doch bei wichtigen Reformen auf Mehrheiten setzen.

Und nicht nur im Kongress, sondern auch in der Bevölkerung gibt es eine Mehrheit für eine andere Politik: Anders als vor vier Jahren fordern heute zwei Drittel der Bevölkerung einen Abzug aus dem Irak. Und angesichts der tiefen Wirtschaftskrise wünscht sich eine absoluten Mehrheit von 51 Prozent (unter Obama-Wählern sind es gar 76 Prozent) eine größere Rolle des Staates bei der Lösung der Probleme – das ist, eingedenk der in den USA traditionell starken Ablehnung des Staates, in der Tat ein real change der öffentlichen Meinung. Ein neuer, „grüner“ New Deal, wie ihn neben Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman auch viele reformorientierte Linke fordern, könnte also durchaus auf Zustimmung zählen.

Gleichwohl sind massive Widerstände zu erwarten. Nicht zufällig wurde der in der Bevölkerung sehr beliebte „Vater des New Deal“ der 30er Jahre, Franklin D. Roosevelt, vom Big Business regelrecht gehasst. Auch der neue Präsident Obama kann es unmöglich allen Recht machen – und schon gar nicht kann er alle in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen. „Natürlich wird uns Obama enttäuschen“, schreibt deshalb, die ungeheuren Erwartungen dämpfend, der Publizist Eric Alterman, „das ist Teil des Job-Profils.“4

Obamas Dilemmata

Der Obama-Koalition wohnt zudem ein grundlegender Widerspruch inne: Obama wurde nämlich sowohl von den Reichsten wie auch insbesondere von den Ärmsten gewählt, während die Wähler aus mittleren Einkommensgruppen sich nahezu gleichmäßig zwischen den beiden Kandidaten aufteilten.5 Wie der dem liberalen Zentrum seiner Partei zuzurechnende Obama mit diesem Widerspruch umgeht – in einem Land, in dem, nach drei Jahrzehnten neoliberaler Herrschaft, das obere ein Prozent der Bevölkerung 21 Prozent des Gesamteinkommens erzielt, während die unteren 50 Prozent mit nur 13 Prozent auskommen müssen –, wird seine Präsidentschaft entscheidend definieren.

Hier aber beginnt Obamas Dilemma. Um die Weltmacht USA regieren zu können, ist er nämlich auf ein Bündnis mit Teilen des Establishments angewiesen. Wie also wird Obama den Widerspruch zwischen Arm und Reich unter diesen Vorzeichen auflösen? Ist eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, ja der Bruch mit der neoliberalen Dominanz unter diesen Vorzeichen überhaupt möglich? Hier sind Zweifel durchaus angebracht.

Das zweite Dilemma resultiert aus dem Status des „ersten schwarzen Präsidenten“. Denn der „farbenblinde“ Ansatz, auf dessen Basis Obama gewählt wurde, ist mit Blick auf die race relations durchaus ambivalent. Schließlich dürfen „farbenblinde“ Repräsentanten, wollen sie ihr Erfolgsrezept nicht gefährden, die real existierenden rassistischen Strukturen nicht mehr beim Namen nennen, geschweige denn offensiv thematisieren. Manning Marable spricht deshalb davon, dass die „farbenblinden“, „post-schwarzen“ Politiker die Bedeutung der Hautfarbe „bewusst minimieren“.6

Dies galt auch für den Präsidentschaftswahlkampf: Barack Obama äußerte sich nur ein einziges Mal explizit zur Frage von Hautfarbe und Rassismus – und dies auch erst, als die Kontroverse um seinen Pfarrer Jeremiah Wright ein Ausweichen unmöglich machte.7 Eine darüber hinausgehende Thematisierung des Rassismus hätte, darin waren sich alle Beobachter einig, das sichere Aus für seine Kandidatur bedeutet.

Obamas historischer Wahlsieg ist somit von einer bemerkenswerten Dialektik gekennzeichnet: Einerseits erbrachte er den Beweis dafür, dass der Rassismus in weiten Teilen der Gesellschaft substanziell zurückgegangen ist und nunmehr auch Schwarze in alle Ämter gewählt werden können. Andererseits ist der tief in der amerikanischen Geschichte und Politik verankerte Rassismus mit dem Wahlsieg Obamas natürlich keineswegs über Nacht verschwunden. Gerade in den ehemaligen Südstaaten, aber auch darüber hinaus, wirken die Eigentumsverhältnisse und Vorurteilsstrukturen aus der Zeit der Sklaverei weiter fort.

Schon in der Wahlnacht wurde Obamas Erfolg – ganz in diesem Sinne – dazu instrumentalisiert, das Ende des amerikanischen Rassismus zu verkünden. Wenn jetzt ein Schwarzer sogar erster Mann im Staate werden könne, so der Subtext, dann könne es auch keinen (nennenswerten) Rassismus mehr in der Gesellschaft geben. Damit wäre die Lage der innerstädtischen „Unterklassen“ heute kein Produkt einer langen Geschichte von Unterdrückung und Diskriminierung mehr, sondern nur noch Ausdruck individuellen Fehlverhaltens.

Anders formuliert: In dieser Hinsicht erschwert es Obamas Wahlsieg sogar, die anhaltende rassistische Ungleichheit mit Blick auf Einkommens- und Vermögensverhältnisse, Arbeitslosigkeit, Bildung oder Gefängnis zu thematisieren. Dass die reale Rassentrennung in den Wohngebieten und Schulen heute, entgegen der landläufigen Annahme, nicht geringer, sondern größer ist als in den 60er Jahren,8 wird auf diese Weise systematisch verdrängt.

Gerade mit Blick auf das afrikanische Amerika steht der schwarze Präsident deshalb vor einer schwierigen Aufgabe: Die an ihn gerichteten Erwartungen sind immens; gleichzeitig wird der „farbenblinde“ Präsident keine Programme entwickeln (können), die sichtbar darauf angelegt sind, primär die Lage der seit der Sklaverei benachteiligten Schwarzen zu verbessern.

Ein Ausweg immerhin bleibt Obama: Er kann Programme auflegen, die auf alle sozial Schwachen in der Gesellschaft ausgerichtet sind; von diesen wiederum würden die Afroamerikaner automatisch weit überproportional profitieren. Ähnliches würde für Programme gelten, die auf eine Verbesserung der innerstädtischen Infrastruktur abstellen.

Handlungsspielräume sind also durchaus vorhanden. Doch letztlich wird erst die Politik der kommenden Monate erste Belege dafür erbringen, ob und inwieweit sich die historische Symbolik des 4. November 2008 in materielle Politik übersetzen lässt.

 

1 Vgl. Albert Scharenberg, Comeback der liberal tradition? Die USA nach Bush, in: „Blätter“, 3/2008, S. 53-61.
2 Diese und alle weiteren Zahlenangaben folgen den auf www.cnn.com dokumentierten Exit Polls (Nachwahlbefragungen).
3 Allerdings mischte sich in dieser Hinsicht in den Jubel des Wahlabends auch ein Aufschrei der Enttäuschung, denn während landesweit 70 Prozent der Homosexuellen für Obama stimmten, wurde die „Homo-Ehe“ in der Volksabstimmung in Kalifornien, wo Obama gewann, gesetzlich abgeschafft.
4 Eric Alterman, These Are Better Days, in: „The Nation“, 1.12.2008.
5 Obama siegte in der (nur sechs Prozent der Bevölkerung umfassenden) höchsten Einkommensgruppe (über 200?000 Dollar p.a.) mit 52 zu 46 Prozent und in der niedrigsten Einkommensgruppe (unter 15?000 Dollar p.a.) mit 73 zu 25 Prozent sowie im „unteren Drittel“ (unter 50?000 Dollar p.a.) mit 60 zu 38 Prozent. Dies wird durch einen Blick auf den Bildungsstand bestätigt: Gerade Menschen ohne High-School-Abschluss (63:25) und Postgraduierte (58:40) stimmten für den Demokraten.
6 Manning Marable, Beyond Black and White: Transforming African-American Politics, London und New York 1995, S. S. 205. Zu dieser jüngeren Generation afroamerikanischer Politiker vgl. auch Matt Bai, Is Obama the End of Black Politics? In: „New York Times Magazine“, 6.8.2008.
7 Vgl. seine Rede vom 18. März in Philadelphia, dokumentiert in: „Blätter“, 5/2008, S.112-121.
8 Jonathan Kozol, The Shame of the Nation: The Restoration of Apartheid Schooling in America, New York 2005; vgl. auch Albert Scharenberg, Weiße Herrschaft, schwarzer Kampf. Erfolg und Scheitern der Bürgerrechtsbewegung, in: „Blätter“, 12/2005, S. 1503-1512.
Analysen und Alternativen - Ausgabe 12/2008 - Seite 65 bis 69