Globale Rivalitäten. Anspruch und Realität des amerikanischen Imperiums

Die Führungsfähigkeiten der USA erodieren. Auch die nächste US-Regierung wird der Tatsache ins Auge sehen müssen, dass der mächtigste Staat der Erde in einem globalen System der geopolitischen Machtrivalitäten und weltwirtschaftlichen Instabilitäten nicht unhinterfragt herrschen kann, schreibt Tobias ten Brink. Dabei ordnet er die Entwicklungen der letzten Jahre in imperialismustheoretische Debatten ein.

Die weltweiten Kräfteverhältnisse nach dem Ende des Kalten Krieges wurden von den USA dominiert. Mitte der 1990er konnte sogar von einer unangefochtenen, hegemonialen Rolle gesprochen werden. Es ist aufgrund der einzigartigen Machtkapazitäten nicht allein als ideologisches Wunschdenken bzw. überhöhter Ausdruck einer „Ausnahmestellung“ zu begreifen, wenn amerikanische Machteliten das Ziel eines übergreifenden „Imperiums“ formulieren.1 Seit Jahrzehnten zielt die amerikanische Außenpolitik strategisch auf die Schaffung eines globalen „freien“ Marktes, der vom amerikanischen Staat reguliert wird. Dieser Anspruch scheint mit der Masse der Profite zu korrespondieren, die US-Unternehmen im Ausland realisieren: „Gemäß Zahlen des Jahres 2000 erscheint der Umfang von USDIA-Profiten [Profite, die von US-Unternehmen bzw. deren Tochterfirmen im Ausland erzielt wurden, Anm. TtB] überwältigend. USDIA-Profite stellten 53 % der inländischen Profite“.2
Tatsächlich kontrollieren die Vereinigten Staaten den internationalen Raum wie kein anderer Akteur. Aus dieser Vormachtstellung resultieren „Hegemonialrenten“3 (u.a. aufgrund der Rolle des Dollar als Weltgeld), die die Kosten der Aufwendungen für die Herstellung dieser Ordnung (Verteidigungsausgaben etc.) übertreffen können. Auf absehbare Zeit wird der amerikanische Staat die Vorzüge einer einheitlichen Volkswirtschaft mit enormen Kapazitäten und eines übergreifenden ökonomischen Anziehungspunktes nutzen können. Auf Grundlage ihrer gewaltigen militärischen Übermacht stellen sie ein, wenn auch prekäres „Gewaltmonopol“ dar, das nicht nur die amerikanischen, sondern auch andere international operierende Unternehmen sowie Staaten für ihre Reproduktion zu nutzen versuchen.
Zu einem gewissen Grad fungiert damit die US-amerikanische Weltordnungspolitik auch als Dienstleister der global um stabile Verwertungsmöglichkeiten und Wertschöpfungsketten bemühten Unternehmen sowie von Teilen der politischen Machteliten anderer Industriestaaten. Die in den Staaten des „Westens“ in Ansätzen geteilte kulturalistische Vorstellung eines neuen Konflikts zwischen der „zivilisierten Welt“ und der „barbarisierten Welt“ – der „Kampf der Kulturen“ – deutet auf diesen Sachverhalt hin, auch wenn unterschiedliche Taktiken debattiert werden, wie diesem Konflikt entgegenzutreten sei (was aber auch für die Diskussionen in den USA selbst zutrifft).

Grenzen der amerikanischen Macht

Doch dies ist nur ein Teil des Gesamtbilds. Die Umsetzung der Ziele gelingt nämlich nur partiell – im „alten“ Europa schlechter als im „neuen“, in Japan besser als in China, in Indien besser als in Russland, in Lateinamerika schlechter als in Südostasien, im Nahen und Mittleren Osten schlechter als in Zentralasien. Der Versuch der Bildung eines weltumspannenden Imperiums, der mit der hegemonialen Kontrolle anderer „Vasallenstaaten“ einhergeht, sowie die Strategie offener Märkte, stoßen auf Widerstände. Der Wunsch nach einem „US-Imperium“ wird von der Realität des „Imperialismus“, d.h. der geopolitischen Machtrivalitäten im internationalen Staatensystem und der Instabilität der Weltwirtschaft, konterkariert. Das trifft abgeschwächt auch auf die enge „transatlantische Partnerschaft“ zu: Die Vereinigten Staaten definieren Ansprüche an die „Alliierten“ – etwa den deutlichen Vorrang der NATO und deren Erweiterung auch gegenüber der europäischen Sicherheitsorganisation, die Entwicklung einer europäischen Verteidigungspolitik im Rahmen der NATO, die Angleichung der Bedrohungswahrnehmungen –, die allerdings nicht ohne weiteres umgesetzt werden. Die Beständigkeit des transatlantischen Bündnisses in den 1990ern war keine zwangsläufige, sondern eine unter größeren Anstrengungen seitens der USA politisch erkämpfte Entwicklung, wie das amerikanische Engagement in den Balkankriegen, die NATO-Osterweiterung, die Einflussnahme auf die EU-Osterweiterung oder, zuvor, die Etablierung des marktliberalen „Washington Consensus“4 anzeigt.
Auch die Entwicklung der Weltwirtschaft fordert den amerikanischen Staat heraus. Seit den 1970ern konnten die USA die weltwirtschaftlichen Turbulenzen bis zu einem gewissen Grad abfedern bzw. Kriseneffekte anderen Regionen aufbürden. Die hegemoniale Position der USA in der Weltwirtschaft war niemals ernsthaft gefährdet. Gegenwärtig erscheint es allerdings zumindest als fragwürdig, ob die aktuelle ökonomische Krise und ihre noch schwer absehbaren Folgen in ähnlicher Weise unter Kontrolle gehalten werden können. Die Tiefe der Krise – für gewöhnlich resultiert die Bankenkrise aus einer allgemeinen Krise, diesmal geht sie ihr voraus, d.h. das Bankensystem ist bereits geschwächt, bevor die Belastungen aus der allgemeinen Krise kommen – und der auch aufgrund des Aufstiegs Chinas und anderer neuer „Global Player“ relativ betrachtet reduzierte amerikanische Anteil an der Weltproduktion machen dieses Unterfangen zum schwer zu bewältigenden Mammutprojekt. Ökonomen diskutieren die Möglichkeit eines ernsthaften Vertrauensverlustes in den Dollar und selbst in die amerikanische Zentralbank.
Die Differenz zwischen den hegemonialen Zielen der amerikanischen Weltordnungspolitik und ihrer Umsetzung kann – etwas weniger spekulativ als in der Frage der Bewältigung der aktuellen Finanzkrise – am Fall der Kontrolle der Weltölressourcen exemplifiziert werden. Auf der einen Seite steht hier der Anspruch, als hegemonialer Ordnungsgarant die Ölnachfrage zu regulieren, indem auch die Interessen anderer berücksichtigt werden: „Mit ihrer militärischen Macht gestalteten die Vereinigten Staaten eine geopolitische Ordnung, die das von ihnen bevorzugte Modell der Weltwirtschaft politisch stützt: also eine immer offenere internationale liberale Ordnung. Die US-Politik zielte darauf ab, eine offene internationale Ölwirtschaft zu gestalten, wo von großen multinationalen Firmen beherrschte Märkte Kapital und Waren zuteilen. Die Macht des US-Staates wird nicht einfach nur eingesetzt, um die Konsumbedürfnisse der Vereinigten Staaten und der US-Firmen zu schützen. Es geht für die USA, in der zuversichtlichen Erwartung, als die führende Volkswirtschaft der Welt alle ihre Bedürfnisse durch Handel befriedigen zu können, vielmehr darum, die allgemeinen Voraussetzungen für einen Weltölmarkt zu schaffen“.5 Diese Zielsetzung trifft allerdings in der Realität auf strategische Präferenzen anderer Akteure, die mitunter mit den US-amerikanischen kollidieren.
Im Nahen und Mittleren Osten etwa interagieren mehrere starke Staaten und weitere inter-gesellschaftliche Akteure in einem Raum hoher geostrategischer Bedeutung. Auch die lokalen Staaten treten mit eigenen außenpolitischen Bestrebungen der Kontrolle von Räumen in Erscheinung. Einige OPEC-Staaten haben seit den 1970ern vor dem Hintergrund der steigenden weltweiten Abhängigkeit gegenüber den Erdölressourcen an Relevanz gewonnen. Des Weiteren haben innerhalb der Region bis in die 1970er nationalistische, seitdem vor allem politisierte religiös-nationale Bewegungen Einfluss auf die Politik von Einzelstaaten gewonnen. Zwischen den Staaten bzw. den Kräfteverhältnissen, die sie repräsentieren, finden oft Auseinandersetzungen statt, die selten zugunsten aller beteiligten Interessen gelöst werden können. Zugleich spielen sich in dieser Region indirekte geopolitische Konflikte zwischen den größten Staaten der Welt ab: Die europäischen und ostasiatischen Mächte sind beispielsweise erheblich abhängiger von den Öl- und Gasressourcen des Nahen und Mittleren Ostens als die Vereinigten Staaten. Weil die Regierungen der Vereinigten Staaten um die strategische Bedeutung der Ware Öl wissen, reagieren sie mit ihrem Ringen um den Nahen und Mittleren Osten nicht in erster Linie auf das Interesse einiger einheimischer Ölkonzerne (und damit zusammenhängender Industriezweige), sondern möchten als vorherrschende Kraft die Bedingungen und Regeln der Aneignung der Energieressourcen bestimmen, auch wenn dafür wie im Fall des Irakkriegs 2003 und der daran anschließenden Besatzung Aktionen nötig sind, die sich überhaupt nicht ökonomisch „rechnen“. Eine Vormacht in dieser Frage, so die (riskante) Annahme, befördere die Vorherrschaft in anderen Bereichen, etwa die Kontrolle der Weltleitwährung.6
De facto stellen sich die ausgeklügelten außenpolitischen Strategien der USA als ein mehr oder minder effektives Krisenmanagement dar und nicht als eine hegemoniale Führung.7 Bereits diese Sachverhalte verweisen darauf, dass die USA weder eine hegemoniale Führungsmacht noch ein Imperium, sondern lediglich der vorherrschende Akteur der Weltpolitik sind. „Imperien bestimmen die Spielregeln. Sie haben es nicht nötig, umständliche und nicht einleuchtende Ausnahmen für sich einzufordern, die fast von der ganzen Welt abgelehnt werden. Ein Staat, der nicht in der Lage ist, die von ihm bevorzugten internationalen Normen durchzusetzen, ist kein Imperium. Ein Staat, der nicht wenigstens zähneknirschende Zustimmung seiner wichtigsten ‚Verbündeten’ erhalten kann, übt nicht einmal eine Hegemonie aus“.8
Der „Krieg gegen den Terror“ wurde mit dem Ziel geführt, die globale Vorherrschaft der Vereinigten Staaten zu festigen oder gar auszubauen. Faktisch wurde sie geschwächt. Im Vergleich zur Mitte der 1990er Jahre hat sich die USA vom Ziel der hegemonialen politischen Führung entfernt, wiewohl ihre Führungsfähigkeit in verschiedenen Bereichen variiert.

Eindämmung potentieller Konkurrenten

Mit dem systematischen Ausstieg aus internationalen Verträgen (z.B. Atomteststopvertrag, Vertrag über biologische und toxische Waffen, ABM-Vertrag9, Ratifizierung des Internationalen Strafgerichtshofs) gewinnt die USA zwar auf der einen Seite an Entscheidungsfreiheit, verliert aber zugleich an Fähigkeit, seine Bündnispartner im Konsens zu führen. Vielmehr scheinen die Vereinigten Staaten mit ihren militärischen Aktionen darauf zu setzen, ihre Bündnispartner einschüchtern zu wollen. Der gewagte Versuch, über den Einsatz militärischer Kapazitäten die eigene Vorherrschaft zu befestigen oder gar auszubauen, bringt jedoch nicht den erwarteten Erfolg. Der amerikanische Hegemonismus hat zu einer Reaktion geführt, die man als „Soft-Balancing“ bezeichnet: „Frankreich und Deutschland haben nämlich versucht, amerikanische Initiativen politisch zu blockieren, oder sie haben ihre Mitarbeit verweigert, als sie darum ersucht wurden. Desgleichen haben die asiatischen Länder sich aktiv darum bemüht, regionale multilaterale Organisationen zu bilden, da Washington bei ihnen den Eindruck erweckt, es interessiere sich nicht besonders für ihre Bedürfnisse. Hugo Chavez in Venezuela hat die Öleinkünfte des Landes dafür eingesetzt, Länder in den Anden und in der Karibik aus der amerikanischen Einflusssphäre herauszulösen, während Russland und China zusammenarbeiten, um die Vereinigten Staaten nach und nach aus Zentralasien hinauszudrängen“.10
Als möglicherweise folgenreichster Grund für die Erosion der amerikanischen Vormachtstellung kann der Trend zu einer Rezentrierung der Weltwirtschaft in Ostasien gelten. Der asiatische Anteil am weltweiten Bruttosozialprodukt ist zwischen 1960 und heute von 13 % auf etwa 30 % gestiegen. Besonders die Entwicklungsstrategien Chinas stellen relativ stabile globale Kräfteverhältnisse und abgesteckte Interessenssphären „alter“ Großmächte in Frage und bergen damit mittelfristig eine Reihe von Konkurrenz- und möglicherweise folgenreicher Konfliktverhältnisse in sich. Einige AutorInnen sehen diesen Prozess als eine „hidden agenda“ hinter der hegemonialen Krise Washingtons.
In diesem Zusammenhang wird plausibel, warum Teile der amerikanischen Machteliten im Rahmen ihrer Globalstrategien nicht nur die Einbindung, sondern auch die Eindämmung möglicher Konkurrenten um die globale Vorherrschaft diskutieren.11 Dabei gelten besonders Russland und China als mögliche Wettbewerber um die Rolle der Führungsmacht. Virulent werden die Konkurrenzen um Einfluss- und Interessenssphären zwischen den USA sowie China und Russland im Hinblick auf den „Eurasian Continental Rim“. Dieser sich von Osteuropa über den Kaukasus bis nach Zentralasien erstreckende Staatengürtel befindet sich seit der Auflösung der Sowjetunion in einem Prozess der geopolitischen Restrukturierung. Bis 1991 waren 14 der heutigen Staaten Republiken der Sowjetunion. Um den Einfluss in diesem „Schwarzen Loch“ ringen seitdem die Großmächte. Beim Krieg zwischen dem künftigen Nato-Mitgliedstaat Georgien und Russland um Südossetien und Abchasien handelte es sich nicht nur um einen lokalen Konflikt – es ging auch um das internationale Kräfteverhältnis.

Renaissance der Imperialismusanalyse

Das Zeitalter der „Globalisierung“ sollte eigentlich das Ende der Machtpolitik und zwischenstaatlicher Konflikte mit sich bringen. Heerscharen an JournalistInnen und WissenschafterInnen posaunten das in den 1990ern hinaus. Diese optimistische liberale Erklärung geht langfristig von einem Versiegen der Quellen internationaler, mit Gewalt verbundener Konflikte aus. Geopolitik und Krieg rühren dem zufolge aus vormodernen Quellen. Je mehr sich marktwirtschaftliche Prinzipien global durchsetzen und die wirtschaftliche Interdependenz zunimmt, desto mehr werden zwischenstaatliche Konflikte an Bedeutung verlieren. Die Politik der Bush-Regierung wird auf ein nicht mehr zeitgemäßes, „irrationales“ Machtstreben reduziert.
Im wissenschaftlichen „Mainstream“ wird diese These in der Regel nur von konservativen Argumentationen herausgefordert. Eine übergeschichtliche Konstante der ungleichen Machtverteilung begründet dem zufolge eine anhaltende Tendenz zur militärischen Absicherung einzelstaatlicher Interessen. Jeder Staat, der auf Machtpolitik verzichtet, droht letztlich zum Opfer der Machtpolitik anderer Staaten zu werden, was zu einer Unterordnung staatlicher Handlungen unter das Interesse des Machterhalts führt. Nach der Devise „Das ist halt so“ werden die politischen Eliten dazu angeregt, sich den „Umständen“ gemäß zu verhalten – und gegebenenfalls mit Gewaltmitteln für die Sicherheit und die Interessen eines Landes zu sorgen.12 Amerikas Rolle als „Weltpolizist“ wird folgerichtig akzeptiert.
An den kritischen Rändern des Wissenschaftsbetriebs und in sozialen Bewegungen werden der „alte“ wie „neue“ Imperialismus und die amerikanische Außenpolitik im Zusammenhang mit dem globalen Kapitalismus und den mit ihm zusammenhängenden Konkurrenzverhältnissen, Machthierarchien und Unterdrückungsmechanismen erforscht. Im Gegensatz zu konservativen TheoretikerInnen halten die linken TheoretikerInnen diese Struktur jedoch prinzipiell für überwindbar.
In den letzten Jahren ist es zu einer Wiederbelebung imperialismustheoretischer Debatten gekommen. Die dafür verwendeten theoretischen Ansätze unterscheiden sich freilich. Nachdem die so genannte Empire-These von Michael Hardt und Antonio Negri13 in den letzten Jahren an Strahlkraft verloren hat – die Annahme einer Transformation des Kapitalismus und der fragmentierten Staatenwelt in einen „glatten Raum“ der Machtausübung, einer Herrschaft des „Gesamtkapitals“ – haben zwei andere Ansätze an Bedeutung gewonnen: Die These eines amerikanischen Superimperialismus und die Annahme neuer globaler Rivalitäten.
Die These des US-Superimperialismus wird von kritischen WissenschafterInnen wie Leo Panitch vertreten. Für ihn sind die Staaten, insbesondere der amerikanische Staat, Urheber der Globalisierung und nicht deren Opfer. Nach 1945 hat sich eine historisch neuartige Konstellation ergeben. Die USA konnten die anderen kapitalistischen Mächte in ein funktionsfähiges Netzwerk integrieren. Es ist zur „Verknüpfung“ des amerikanischen Staates mit den Exekutivapparaten Europas und Japans sowie mit deren Zentralbanken gekommen. Vertiefte wirtschaftliche Verflechtungen innerhalb der Triade, die internationalen politischen Institutionen, die die USA um sich herum schufen, vervollkommnet durch die Sicherheitsstrukturen der NATO, führten so zu einer „Veränderung des Wesens des kapitalistischen Zentrums“ im Sinne einer Abnahme inner-imperialistischer Konflikte.14 Spannungen und Bündnisse nationaler herrschender Klassen können heute nicht mehr in rein „nationalen“ Begriffen verstanden werden. Unter Bezugnahme auf den Marxisten Nicos Poulantzas wird von „inneren“ Bourgeoisien in Europa gesprochen, die im Gegensatz zur alten „nationalen“ Machtelite gegenüber den USA ihre Unabhängigkeit verloren haben. Die EU passt in den Rahmen der amerikanisch geführten Globalisierung, wiewohl es weiterhin zu Meinungsverschiedenheiten kommen kann. Die Krise der 1970er Jahre und die darauf folgende Stagnation konnte der amerikanische Staat relativ erfolgreich überwinden, obwohl dieser Prozess die wirtschaftliche Konkurrenz zwischen regionalen Wirtschaftsblöcken forcierte. Der amerikanische Staat sorgt weiterhin als „prototypischer Globalstaat“ für eine globale Regulation. Andere potentielle Konkurrenten sind noch lange nicht dazu in der Lage, das amerikanische Imperium herauszufordern.
Panitch kann für sich reklamieren, den fortwährenden Einfluss einzelstaatlicher Instanzen belegt zu haben. Auch der Akzent auf die Notwendigkeit der Historisierung imperialistischer Kräfteverhältnisse ist ein Fortschritt. Leider führt eine Fixierung auf die Politik Washingtons dazu, das Durchsetzungsvermögen der amerikanischen Weltordnungspolitik zu überschätzen, weshalb auch die hieraus abgeleiteten theoretischen Verallgemeinerungen fragwürdig erscheinen. Die Annahme, der zufolge die Übermacht der amerikanischen Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg die europäischen Kapitalien „zersetzt“ und das Ende „kohärenter Bourgeoisien“ eingeleitet habe, erscheint vorschnell. Sie unterschätzt die relative Unabhängigkeit der europäischen (und anderer) Machteliten genauso wie mögliche Quellen der Entstehung von zwischenstaatlichen Rivalitäten, auch wenn diese andere Formen als vor 1945 annehmen.

Kapitalismus und Geopolitik

Die Ereignisse der letzten Jahre scheinen denjenigen Autor-Innen Recht zu geben, die von einer fortwährenden Relevanz zwischenstaatlicher Konflikte ausgehen. Sie verstehen unter kapitalistischer Geopolitik den Versuch der Kontrolle von und die Einflussnahme in Räumen auch und gerade, wenn keine direkte territoriale Kontrolle über diese vorliegt. Einige AutorInnen (u.a. David Harvey, Alex Callinicos oder Joachim Hirsch) versuchen im Rahmen einer Kapitalismusanalyse und der Annahme der relativen Autonomie geopolitischer Konkurrenzlogik imperialismustheoretische Konzepte weiterzuentwickeln.15 Einem instrumentellen Staatsverständnis wird dadurch entgegenzutreten versucht, indem zwischen ökonomischen und geopolitischen Machtlogiken unterschieden wird. Sie möchten die Analyse von Staatenkonkurrenz in einem weltwirtschaftlichen Zusammenhang ermöglichen, ohne dass erstere auf letzteren reduziert wird. Der amerikanische Imperialismus steht demzufolge in einem umkämpften Verhältnis zu anderen Imperialismen.
Um an diese Thesen anknüpfen zu können, muss mit einer Analyse des Kapitalismus in räumlicher wie auch in zeitlicher Hinsicht begonnen werden.16 Das globale System der „verallgemeinerten Warenproduktion“ ist grundlegend dadurch gekennzeichnet, dass es den sozialen Akteuren äußerliche Handlungszwänge aufherrscht. Der Kapitalismus ist zwar ein von Menschen geschaffenes System, es produziert jedoch Verhältnisse, die sich gegenüber dem bewussten Handeln und Wollen der Subjekte verselbständigen – und die, über Kontinente und Kulturen hinweg, sowohl Wahrnehmungen als auch Handlungen der Akteure prägen.
Verschiedene Merkmale des Kapitalismus – genau genommen der „vielen“ Kapitalismen – tendieren in einer historischen Perspektive betrachtet, d.h. auch unter Berücksichtigung erheblicher Modifikationen im Aufbau verschiedener Spielarten des Kapitalismus seit Ende des 19. Jahrhunderts, dazu, geopolitische Konflikte und internationale Abhängigkeiten zu befördern:
1. Geopolitik steht in einem Zusammenhang mit den Klassenverhältnissen moderner Gesellschaften. Interne gesellschaftliche Konflikte und Legitimationsdefizite werden häufig von Machteliten dadurch zu lösen versucht, dass ein externes, feindliches „Anderes“ konstruiert wird. Ein innenpolitischer Konsens soll über eine Abgrenzung nach „außen“ hergestellt werden. Die jeweilige nationale Außenpolitik lässt sich daher nicht ohne eine Analyse der nationalen Gesellschaften und der Phänomene moderner „Massenpolitik“ verstehen (z.B. gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, nationalistische Bewegungen, Auseinandersetzungen im herrschenden Machtblock). Hieraus ergibt sich wiederum eine Unterscheidung zwischen vielfältigen Varianten des kapitalistischen Imperialismus.
2. Die Konflikthaftigkeit kapitalistischer Gesellschaften erschöpft sich nicht in den „vertikalen“ Klassenauseinandersetzungen. Diese werden von einer anderen Konfliktachse überlagert, den „horizontalen“ Konkurrenzverhältnissen zwischen den Unternehmen. Die systematische Notwendigkeit zur Akkumulation des Kapitals setzt sich vermittelt durch die Konkurrenz durch. Diese wirkt als sozialer Sanktions¬mechanismus, der jedem Einzelkapital den Zwang zur Akkumulation bei Strafe der Existenzgefährdung unterwirft. Wettbewerbsverhältnisse zwischen Unternehmen generieren eine permanente Unsicherheit und Krisenhaftigkeit. Kapitalistische Märkte existieren daher immer in einer anarchischen, dezentralen Weise. Die maß- und endlose Kapitalakkumulation sowie der Sanktionsmechanismus der Konkurrenz verweisen auf die Grenzen der Steuerung des Systems, auch und gerade auf internationaler Ebene.
3. In welcher Weise ist die ökonomische Konkurrenz und Krisenhaftigkeit mit der Politik von Staaten verbunden? Das Kapital drückt schließlich in erster Linie ein soziales Verhältnis aus, dessen „Motor“ nicht das „nationale Interesse“, sondern das „Eigeninteresse“ an einer möglichst hohen Profitrate ist. Zur Beantwortung dieser Frage müssen die Ursachen für die Existenz vieler konkurrierender kapitalistischer Einzelstaaten bzw. gegenwärtig auch makro-regionaler Zusammenschlüsse beachtet werden. Erst einmal gilt es dabei festzuhalten, dass ohne eine „besonderte“, d.h. relativ autonome politische Instanz, die das Gewaltmonopol innehat, eine gelingende Kapitalakkumulation nicht vorstellbar ist. Der Staat schafft eine Reihe von sozialen, rechtlichen und infrastrukturellen Integrations- und Anpassungsleistungen, die die Aufrechterhaltung kapitalistischer Vergesellschaftung zu garantieren versuchen.
Dass der „Bedarf“ des Kapitals nach einem Staat nicht in einem Weltstaat mündet, sondern im Kapitalismus grundsätzlich viele Staaten koexistieren, hat wenigstens zwei zentrale Ursachen: Erstens macht die Notwendigkeit der Schaffung klassenübergreifender Koalitionen (gegenwärtig zwecks Sicherung des „Standortes“) zur Herstellung innergesellschaftlicher Stabilität die Integrationsleistungen der Einzelstaaten erforderlich. Am ehesten sind hierzu staatliche Machtapparate in der Lage. Ohne die Existenz vieler Einzelstaaten wären grundlegende Mechanismen der Ausbalancierung von Konflikten sowohl innerhalb als auch zwischen den Klassen nicht mehr gewährleistet. Diese Form der Abgrenzung der einzelnen Staaten untereinander setzt andere Staaten gewissermaßen voraus: Ein „Anderer“ kann nur konstruiert werden, wenn es diesen Anderen auch wirklich gibt. Wie Nationalismusforscher argumentieren, gilt die nationale Form als „der am universellsten legitimierte Wert im politischen Leben unserer Zeit“.17
Zweitens führt die kombiniert-ungleiche, krisenhafte wirtschaftliche Entwicklung nicht zu einer Homogenisierung auf Weltebene. Die Welt ist kein einheitlich-glatter, sondern ein gekerbter Raum. Es haben sich fest verankerte wirtschaftliche Zentren gebildet, die in einem engen Wechselverhältnis zu den auf dem jeweiligen Territorium herrschenden Staatsapparaten stehen. Harvey spricht von relativ immobilen „raum-zeitlichen Fixierungen“ des Kapitals, insbesondere des Produktivkapitals, die hohe Anforderungen an staatliche Regulierungsapparate stellen. Um eine gewisse Berechenbarkeit und Sicherheit zu gewährleisten, müssen wirtschaftliche Ver¬flechtungsräume ein Maß an Kohärenz garantieren, die von politischen Hilfestellungen abhängt. Komplexe Produktionsstrukturen erfordern eine administrativ-ordnungssetzende Infrastruktur (wie Rechtswesen, Verwaltung, Lizenzierungsverfahren), eine wirtschaftliche Infrastruktur (etwa bei der Regelsetzung für ökonomische Transaktionen) sowie weitere Regulierungen (beispielsweise im Arbeitsrecht). Ferner verlangt die Kapitalintensivierung der Produktionsprozesse eine gewisse Risikoübernahme durch den Staat mittels Subventionen, Direktbeteili¬gungen etc. Zugleich waren und sind die Staaten angehalten, für ein Mindestmaß an ausgebildeten Arbeitskräften und deren soziale Sicherheit zu sorgen. Die Globalisierung bringt also eine Gegentendenz hervor: Die globale Akkumulation ist im Zuge permanenter Ortswechsel und der Suche nach profitablen Anlagemöglichkeiten gebunden an eine auch politisch produzierte „geographische“ Infrastruktur.18
4. Doch nicht nur die Unternehmen sind abhängig von den jeweiligen staatlichen Instanzen, umgekehrt hängt die Existenz des Staates von den erfolgreichen Aktivitäten der Wirtschaft ab. Sie befinden sich in einer strukturellen Abhängigkeit gegenüber einer gelingenden Akkumulation innerhalb ihres Territoriums, die sich etwa in einem Interesse am Erhalt der Besteuerungsgrundlagen ausdrückt. Der moderne, kapitalistische Staat ist immer auch „Steuerstaat“: Um handlungsfähig zu bleiben, müssen die politischen Eliten der Tatsache Rechnung tragen, dass ihre Einkünfte und damit die Mittel, staatliche Politik zu gestalten, letztlich von einer einigermaßen reibungslosen Kapitalakkumulation abhängen. Auch wenn Firmen mehr und mehr „global“ denken und agieren (und sich teilweise auf die infrastrukturellen Voraussetzungen mehrerer Staaten gleichzeitig beziehen), werden die Staaten künftig von international wettbewerbsfähigen „nationalen“ bzw. „einheimischen“ Unternehmen ausgehen müssen und ein Interesse an dauerhaften Beziehungen zu ihnen haben.
Parallel hierzu bildet der kapitalistische Einzelstaat in einer nicht unmittelbar ökonomisch ableitbaren, sondern auch auf seine Selbsterhaltung bezogenen Weise grundlegende Interessen an der Attraktivität der von ihm gesicherten und angebotenen Standortvorteile aus.
5. Auf dieser Basis lässt sich ein weiteres Merkmal des Kapitalismus benennen, das internationale Konflikte befördert: die Geld- und Währungsverhältnisse. Geld ist immer bezogen auf konkrete einzelstaatliche (im Falle des Euro, supranationale) Währungsräume. Die Geldpolitik grenzt mit dem Gültigkeitsbereich einer Währung etwa Binnen- und Außenwirtschaft gegeneinander ab. Geld ist somit immer ein politisch reguliertes Medium, was insbesondere für die Ausgabe des Geldes zutrifft. In den Geldverhältnissen kommt ähnlich wie in anderen Strukturmerkmalen des Kapitalismus die konstitutive Präsenz des Politischen zum Ausdruck. Mangels eines Weltstaates gibt es kein internationales Geld – eine Grundlage für die Währungskonkurrenz.

Ökonomische und geopolitische Konkurrenz

Aus den vielgestaltigen Artikulationen von Kooperations- und Konkurrenzverhältnissen zwischen staatlichen Machtstrategien in einer instabilen Weltwirtschaft geht kein glatter, sondern ein durch viele Akteure konflikthaft strukturierter internationaler Raum hervor. Als ein anarchisches, quer zu anderen sozialräumlichen Dimensionen verlaufendes Geflecht befördert der Raum des Inter- und Transnationalen nicht intendierte bzw. nicht antizipierte Formen des gewaltförmigen Handelns.
Auf Weltebene können zwei grundlegende, relativ unabhängig voneinander existierende und nicht aufeinander zu reduzierende, jedoch sich zeitweise verschränkende Muster der Konkurrenz beobachtet werden: die sozio-ökonomische sowie die geopolitische Konkurrenz zwischen Einzelkapitalien bzw. Einzelstaaten.
Kapitalbewegungen und kapitalistische Einzelstaaten orientieren sich an verschiedenartigen Kriterien der Reproduktion und bilden daher untereinander ein Spannungsverhältnis aus, das regelmäßig divergierende Handlungsstrategien zur Folge hat, so dass ökonomische Interessen sich nicht unvermittelt in Staatshandeln niederschlagen müssen. Der Einzelkapitalist operiert „im Raum-Zeit-Kontinuum, während der Politiker innerhalb der Grenzen seines Hoheitsgebiets operiert und, zumin¬dest in Demokratien, in einer vom Wahlzyklus diktierten Zeitlich¬keit. Andererseits kommen und gehen kapitalistische Firmen, sie ver¬schieben ihren Standort, fusionieren oder schließen, wohingegen Staa¬ten langlebige Einheiten sind, nicht abwandern können und, außer unter außergewöhnlichen Umständen geographischer Eroberung, auf Territorien mit festen Grenzen beschränkt sind“.19 Das wesentliche ökonomische Kriterium der Reproduktion besteht in der Behauptung der relativen Kapitalstärke (und damit der Profitabilität); sollten Einzelkapitalien dieses Ziel verfehlen, drohen der Bankrott oder die Übernahme. Das wesentliche Kriterium der geopolitischen Reproduktion zielt dagegen darauf, die Herrschaft gegenüber der jeweiligen Bevölkerung und gegenüber anderen Staaten sowie „äußeren“ sozialen Kräften zu behaupten.20
Die wechselseitige strukturelle Abhängigkeit beider Akteursebenen führt aber immer wieder auch zu kongruenten Handlungsstrategien, die sich unter anderem in der geopolitischen Hilfestellung bei der globalen Restrukturierung der Kapitalverwertung (in der Produktions-, Zirkulations- und Konsumtionssphäre) und dem Versuch des Managements der internationalen öffentlichen Sphären ausdrücken. Solche Dienste lassen sich zugleich nicht hinreichend aus einzelnen Profitinteressen erklären, sondern müssen immer auch die Interessen einzelstaatlicher Instanzen in Betracht ziehen, die damit etwa auf die Aufrechterhaltung bzw. Erweiterung ihrer Souveränität und damit ihrer Machtbasis zielen.
Wenn die Akkumulationsprozesse die Grenzen eines Gebietes überschreiten, ist die Frage, wie sich dies auf die Handlungen des ursprünglichen Standortes (des Staates) auswirkt. Ist es für den Staat absehbar, dass dieser Prozess der Kapitalakkumulation seine Macht potentiell unterminieren könnte, ringt er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darum, Investitionsströme mit viel „Mühe und Besonnenheit“ zu seinem eigenen Vorteil zu lenken: „Und was den externen Bereich angeht, wird er typischerweise große Aufmerksamkeit auf die Asymmetrien legen, die immer aus dem Handel zwischen Räumen entstehen, und versuchen, die Trümpfe der monopolistischen Kontrolle so stark zu machen, wie er kann. Er wird sich, kurz gesagt, notwendig am geopolitischen Kampf beteiligen und wo er kann auf imperialistische Praktiken zurückgreifen“.21 Die gewöhnlichen Formen der Konkurrenz würden sich in letzterem Fall in einen Konflikt steigern. Letztere sind vielgestaltig und liegen in der Regel unterhalb der Schwelle der offenen Gewaltanwendung bzw. dem zwischenstaatlichen Krieg.
Die jeweilige Struktur der internationalen Konkurrenzverhältnisse variiert. Die gegenwärtige Weltordnung unterscheidet sich erheblich von früheren Weltordnungsphasen. Das Verhältnis zwischen Kooperation und Konflikt im Kontext des amerikanischen Hegemonismus erscheint gegenwärtig, etwas vereinfacht ausgedrückt, wie folgt: In relativer Übereinstimmung wird auf den internationalen Wirtschafts- und Politikgipfeln versucht, die „Agenda“ zu setzen und marktliberale Handlungs- und Deutungsmuster zu festigen. Doch bereits bei den Sondierungsgesprächen über Fragen der Wirtschafts-, Sicherheits- und Energiepolitik können mitunter erhebliche Meinungsverschiedenheiten auftreten, die dann in den internationalen Organisationen wie der UN, der NATO oder der WTO möglicherweise bis zur Handlungsunfähigkeit führen. Die Machteliten sind sich mehr oder wenig einig darin, die Herstellung von weltweiter Ordnung und einer gelingenden Kapitalakkumulation (auch mittels Gewalt) gegenüber den Bevölkerungen herzustellen, streiten aber untereinander um die Rangordnung in der Herstellung dieser Ordnung.22
Insofern steht die heutige Forschung vor der Herausforderung, die Bedingungskonstellationen potentieller ökonomischer und geopolitischer Konflikte zwischen den entwickelten Industriegesellschaften vor dem Hintergrund der nur relativen Zusammenfassung derselben unter amerikanischer Vorherrschaft zu untersuchen. Auch wenn verschiedene kapitalistische Staaten ein im Kern ähnliches marktliberales „policy regime“ durchsetzen, bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass unter ihnen keine ernsthaften Interessengegensätze bestehen oder entstehen können. Die „Triadezentren“ bleiben in eine „ständige Auseinandersetzung um die Kontrolle von Märkten, Investitionsgebieten und Rohstoffquellen verwickelt. Interventionskriege wie auf dem Balkan, in Afghanistan oder im Irak liegen einerseits im Interesse der kapitalistischen Metropolen an der Erhaltung der von ihnen bestimmten ökonomischen, militärischen und politischen Weltordnung. Zugleich sind sie auch ein Mittel der Auseinandersetzung zwischen ihnen um Rohstoffvorkommen, Marktzugänge und Investitionsgebiete“.23 Unter der Regierung Bush ist diese Dynamik besonders deutlich geworden. Auf der obersten Führungsebene der amerikanischen Politik hatte bereits in den 1990ern eine ideologische Verschiebung stattgefunden. In den letzten Jahren der Clinton-Regierung sowie in der nachfolgenden, „neokonservativen“ Bush-Administration wurde wieder verstärkt nach Maßgabe geopolitischer Strategien agiert, denen zufolge die geo-ökonomische Vorherrschaft eine geopolitische (Macht-)Grundlage zur Voraussetzung hat.24

Hoffnung Obama?

Insgesamt lassen diese Sachverhalte die Hoffnungen auf einen grundsätzlichen Wandel der Außenpolitik innerhalb global-kapitalistischer Sozialbeziehungen schwinden. Gegenwärtig steht Barack Obama weltweit für die Hoffnung auf eine friedlichere Außenpolitik. Doch auch er würde im Rahmen eines Weltsystems regieren müssen, das von erheblichen Verwerfungen, zwischenstaatlichen Konflikten und Gewalt zusehends dominiert ist. Obama steht (bislang) für eine Außenpolitik, die mehr als sein Vorgänger Bush auf die „multilaterale“ Absprache mit den „Bündnispartnern“ setzt. Daher wird etwa die NATO in den nächsten Jahren womöglich eine wichtigere Rolle im globalen Spiel um Macht und Einfluss erhalten. In einem Aufsatz für die renommierte Zeitschrift Foreign Affairs informiert er darüber, dass seine außenpolitischen Zielsetzungen lediglich taktische Änderungen darstellen. „Ich werde nicht zögern, Gewalt einzusetzen, wenn notwendig auch unilateral, um das amerikanische Volk oder unsere grundlegenden Interessen zu schützen … Wir müssen auch erwägen, militärische Macht unter Umständen einzusetzen, die über die Selbstverteidigung hinausgehen, um für die gemeinsame Sicherheit zu sorgen, die die globale Stabilität untermauert.“25In einer Stellungnahme während des Kaukasus-Kriegs im August 2008 sprach sich Obama für eine beschleunigte Aufnahme Georgiens in die NATO aus – und goss damit Öl ins Feuer. Zwar votiert er für einen allmählichen Truppenabzug aus dem Irak (stellt dies allerdings unter den Vorbehalt der Expertise seiner Militärs), fordert aber im nächsten Satz eine Verstärkung der Truppenpräsenz in Afghanistan.
Obamas stärker bündnisorientierte Vorstellungen haben Tradition. Durch die beiden großen Parteien des politischen Systems der USA hindurch wurde das gesamte 20. Jahrhundert über die richtige außenpolitische Taktik gestritten. Auch unter den Liberalen Wilson, Roosevelt oder Clinton wurden imperiale Ziele angestrebt. Der immer wieder auf den „Multilateralismus“ Bezug nehmende amerikanische Liberalismus agierte immer als national orientierter „Internationalismus“, der nie, wie konservative Kräfte kritisieren, einfach nur einem idealistischen Politikansatz Rechnung trug, sondern immer auch geopolitische Ambitionen durchzusetzen suchte.26 Das Desaster im Irak und die aufgebrachte Öffentlichkeit drängen derzeit dazu, das Ruder wieder in eine stärker multilaterale Richtung zu reißen. Bereits Bush hat in seiner zweiten Amtsperiode auf diesen Druck reagieren müssen.27
Die Vereinigten Staaten sind der einzige Staat, der in der Lage ist, ein weltweites hegemoniales Projekt zu verfechten. Doch dieser Versuch stößt auf Widerstände. Der Wunsch nach einem „US-Imperium“ wird von der Realität der geopolitischen Machtrivalitäten im internationalen Staatensystem, der Instabilität der Weltwirtschaft und den Konkurrenzen im Bereich der Währungsverhältnisse untergraben. Ob dies durch eine veränderte Taktik rückgängig gemacht werden kann, erscheint fraglich. Ebenso die vage Hoffnung, der Multilateralismus könne wenigstens das Ausmaß der Gewalt reduzieren.

Anmerkungen

Tobias ten Brink ist Politikwissenschafter und arbeitet am Frankfurter Institut für Sozialforschung.
Zuletzt sind von ihm erschienen:
Staatenkonflikte. Stuttgart: Lucius & Lucius 2008
und
Geopolitik. Geschichte und Gegenwart kapitalistischer Staatenkonkurrenz. Münster: Westfälisches Dampfboot 2008.

1 Vgl. Bacevich, Andrew J.: American Empire. The Realities and Consequences of U.S. Diplomacy, Cambridge/London 2002, 3, 79-116, 215 ff.
2 Duménil, Gérard/ Lévy, Dominique: The economics of US imperialism at the turn of the 21st century, in: Review of International Political Economy, Vol. 11, 4/2004, 662
3 „Hegemonialrenten” sind Gewinne, die die US-amerikanische Wirtschaft aufgrund der politischen und militärischen Vormachtstellung der USA im Weltsystem abschöpfen kann. Vgl. Massarat, Mohsen: Amerikas Hegemonialsystem und seine Grenzen. Europas Beitrag für eine multilaterale Weltordnung, in: Sozialismus Supplement 3/2004, 1-33, online unter http://www.home.uni-osnabrueck.de/mohmass/USAHEM.pdf (Anm. d. Red.).
4 Als „Washington Consensus” wird die neoliberale wirtschaftspolitische Doktrin bezeichnet, die insbesondere von den in Washington ansässigen Institutionen IWF (Internationaler Währungsfonds) und Weltbank in aller Welt durchgesetzt wird (Anm. d. Red.)
5 Bromley, Simon: The United States and the Control of World Oil, in: Government and Opposition, Vol. 40, 2/2005, 254
6 Vgl. Altvater, Elmar: Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik, Münster 2005, 163 ff.
7 Dies hängt nicht zuletzt mit den innergesellschaftlichen Verhältnissen der Staaten der Region zusammen, weshalb beispielsweise auch freundschaftliche Beziehungen zu den Machteliten Saudi-Arabiens keine Garantie dafür darstellen, dass sich interne politische Machtverhältnisse nicht zu Ungunsten Washingtons verändern können. Zusätzlich spielte in den letzten Jahren die Wahrnehmung veränderter inter-gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse eine Rolle in der Geopolitik der Vereinigten Staaten: „Der Krieg ab 2003 ging um mehr als um Öl, so sehr Öl auch ein zentraler Punkt der Berechnungen war. Ebenso bedrohte eine Interessenkoalition im Mittleren Osten aus Irak, Saudi-Arabien und islamistischen Bewegungen die Hoffnung auf die Vision der US-zentrierten Globalisierung erheblich.“ Vgl. Smith, Neil: The Endgame of Globalization, London/New York 2005, 190
8 Donnelly, Jack: Sovereign Inequalities and Hierarchy in Anarchy: American Power and International Society, in: European Journal of International Relations, Vol. 12, 2/2006, 160
9 Der 1972 zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossene ABM-Vertrag begrenzt den Einsatz von Raketenabwehrsystemen („Anti-Ballistic Missiles“) (Anm. d. Red.).
10 Fukuyama, Francis: Scheitert Amerika? Supermacht am Scheideweg, Berlin 2006, 192
11 Vgl. Layne, Christopher: The Peace of Illusions: American Grand Strategy from 1940 to the Present, Ithaka/London 2006; Mearsheimer, John J.: The Tragedy of Great Power Politics, New York 2003; für eine Diskussion aus der Perspektive der Partei der Demokraten: Brzezinski, Zbigniew: Second Chance: Three Presidents and the Crisis of American Superpower, New York 2007
12 In der Disziplin der Internationalen Beziehungen firmiert dieser Ansatz unter dem Namen Realismus bzw. Neo-Realismus. Einer der bekanntesten Realisten, John J. Mearsheimer (2003), erwartet erhebliche Konflikte zwischen den Großmächten und hält sogar Kriege zwischen ihnen für möglich. Er sieht die ständige Suche nach Überlegenheit als einzige Garantie des Überlebens von Staaten an. Ihre „Sicherheit“ werden Staaten nur erreichen, wenn sie verstehen, dass sie am ehesten dann überleben, wenn sie der mächtigste Staat sind. Eine zentrale Konfliktlinie bis hin zum Krieg sieht Mearsheimer im Verhältnis zwischen den USA und China. Eine Konfrontation wird unvermeidlich werden, wenn das chinesische Wirtschaftswachstum anhält und China eine schlagkräftige Streitkraft aufbaut. Um dies abzuwenden, ist eine notfalls auch aggressive Eindämmung nötig. Auch in Europa erwartet er eine Rückkehr zur alten Großmächterivalität. Noch ist Deutschland abhängig von den USA. Dies kann sich ändern – wenn die BRD beispielsweise ein eigenes Nukleararsenal errichtet und auf diese Weise noch mehr Kontrolle über Mittel- und Osteuropa ausübt (was wiederum Russland auf den Plan rufen wird). Militärische Konflikte sind dann nicht mehr auszuschließen. Zur Begründung seiner Vorstellungen nimmt dieser Ansatz jedoch eine Vereinfachung der Wirklichkeit vor, weshalb er an dieser Stelle nicht weiter behandelt wird. Es wird i.d.R. mit nur einer Variablen, der Machtverteilung im internationalen Staatensystem, das Verhalten von Staaten bzw. Hegemonen erklärt. Die Perspektive tendiert dazu, sozio-ökonomische Prozesse genauso wie die Rolle von sozialen Akteuren außerhalb des Staatsapparats zu vernachlässigen. Der Blick wird lediglich auf die Staaten gerichtet, aber nicht in sie hinein. Vgl. für den deutschen bzw. europäischen Kontext: Münkler, Herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005
13 Hardt, Michael/ Negri, Antonio: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/M. 2003. In einem neuen Buch relativieren Hardt/Negri ihre Annahmen. Nachdem in Empire „Big Government is over“ erklärt wurde, rekurrieren sie nun wieder mehr auf den starken Staat – „Big Government is back“. Die Krise nach dem 11.9.2001 verdeutlicht, wie sehr „Nationalstaaten für die Weltordnung und die Sicherheit absolut unerlässlich“ sind. Das „Empire“ sei durch scharfe Widersprüche gekennzeichnet. Negri, Antonio / Hardt, Michael: Multitude – Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt/New York 2004, 39, 200
14 Panitch, Leo / Gindin, Sam: Globaler Kapitalismus und amerikanisches Imperium, Hamburg 2004
15 Harvey, David: Der neue Imperialismus, Hamburg 2005; Callinicos, Alex: Benötigt der Kapitalismus das Staatensystem?, in: Arrighi, Giovanni u.a.: Kapitalismus Reloaded. Kontroversen zu Imperialismus, Empire und Hegemonie, Hamburg 2007; Hirsch, Joachim: Materialistische Staatstheorie. Transformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems, Hamburg 2005
16 Folgende Ausführungen bleiben aufgrund des Platzmangels fragmentarisch. Vgl. für eine ausführliche Darstellung: ten Brink, Tobias: Geopolitik. Geschichte und Gegenwart kapitalistischer Staatenkonkurrenz, Münster 2008
17 Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/New York 1996, 12 f.
18 Neuere Tendenzen der Transnationalisierung ökonomischer Prozesse haben die Entstehung makro-regionaler Wirtschaftseinheiten mit partieller politischer Integration (EU) befördert.
19 Harvey, Der neue Imperialismus, a.a.O, 34
20 Bestimmte weltweit ausgerichtete Unternehmensgruppen sind aus diesem Grund von den weniger mobilen politischen Eliten zu unterscheiden. Im Raum der EU sowie im transatlantischen Raum hat dies zu einem höheren Grad der Homogenisierung der Interessenlagen geführt als dies außerhalb dieser Räume der Fall ist.
21 Harvey, Der neue Imperialismus, a.a.O., 108. Gegenwärtig agiert die Mehrheit der Unternehmen immer noch vorwiegend in nationalen und/oder makro-regionalen Räumen. Es ist voreilig, von den hohen Transnationalisierungsgraden der größten Konzerne auf die gesamte Struktur der Weltwirtschaft zu schließen. Auf der einzelstaatlichen Ebene kann dies zur Entstehung nationaler ökonomischer Interessen führen (und im makro-regionalen Raum dementsprechend zu „europäischen“ Interessen), wie an den nationalen Leistungsbilanzen und dem Interesse an einer Währungssouveränität abzulesen ist. In dieser Weise werden „nationale Volkswirtschaften“ immer wieder rekonstruiert und reproduziert, was zugleich der Überlagerung der inneren Sozialkonflikte dient (vgl. ten Brink, Geopolitik, a.a.O., S. 147-180).
22 Dabei gilt es zwischen der Stärke der Einzelstaaten zu differenzieren. Innerhalb der Gruppe der starken Staaten lassen sich vier Typen unterscheiden: erstens der global vorherrschende amerikanische Staat; zweitens makro-regional führende Staaten mit globalem Wirkungsradius wie Deutschland und Frankreich (zunehmend im Rahmen der EU), Japan, mehr und mehr auch China; drittens weitere makro-regionale Mächte mit weniger großer Wirkungsmacht wie Russland, Brasilien oder Indien; viertens starke Staaten mit geringerem Aktionsradius wie Südkorea, Türkei, Israel, Ägypten oder Südafrika. Letztere Staaten können, sofern sie sich imperialistischer Praktiken bedienen, als subimperialistische Mächte bezeichnet werden.
23 Hirsch, Materialistische Staatstheorie, a.a.O., 165
24 Im Aufstieg des Neokonservativismus bündelte sich schließlich eine Kritik der liberalen Lesart der Moderne mit dem Versuch der Re-Moralisierung der Politik.
25 Obama, Barack: Renewing American Leadership, in: Foreign Affairs, 7/8-2007, hier: http://www.foreignaffairs.org/20070701faessay86401/barack-obama/renewing-american-leadership.html
26 Smith, The Endgame of Globalization, a.a.O., 44-52
27 De facto basieren die Außenbeziehungen zwischen den stärksten Staaten jenseits der politisch-diplomatischen Konfrontation „Multilateralismus“ versus „Unilateralismus“ auf einem komplexen Ineinandergreifen uni- und multilateraler Politikformen. Auch die Clinton-Regierung überging die UNO und ergriff einseitig Maßnahmen, wenn sie es für notwendig hielt. Ihre Betonung multilateraler Weltpolitik war in Wirklichkeit ein instrumenteller Multilateralismus, der nach der Maßgabe erfolgte, mit der Zustimmung und Unterstützung anderer Länder zu handeln, wenn es als sinnvoll erachtet wurde – zugleich sich aber die Möglichkeit vorzubehalten, alleine zu handeln, wenn dies als zweckmäßig angesehen wurde. Uni- und Multilateralismus schließen einander nicht aus.