Sowjetmacht vs. Parteidiktatur

Veronika Duma und Stefan Probst zeichnen im dritten Teil unserer Serie zum politischen Erbe der Oktoberrevolution den Prozess der Bürokratisierung und Entdemokratisierung des „ArbeiterInnenstaats“ bis zur Etablierung eines staatskapitalistischen Regimes Ende der 1920er Jahre nach.

Die Oktoberrevolution 1917 war ein popularer Massenaufstand, der nicht nur die ökonomischen und politischen Verhältnisse grundlegend transformierte, sondern ebenso „ethnische Identitäten, Geschlechterverhältnisse, Moralvorstellungen, intellektuelle Kultur und letztlich das Weltsystem“ umzugestalten versuchte.1 Der am zweiten Sowjetkongress im Oktober gebildete Rat der Volkskommissare2 erließ bis Jänner 1918 nicht weniger als 116 Dekrete: neben den wichtigsten über Grund und Boden, einen sofortigen und bedingungslosen Frieden und über die ArbeiterInnenkontrolle der Fabriken gab es Erlässe zur Abschaffung der Todesstrafe, zum Selbstbestimmungsrecht der Minderheiten, zum Scheidungsrecht oder zur Entkriminalisierung der Homosexualität. Ende der 1920er Jahre war von diesen gesellschaftlichen Umwälzungen nicht mehr viel zu merken. In entscheidenden Fragen repräsentierte der Stalinismus der 1930er das genaue Gegenteil der Ambitionen von 1917. Im Laufe der 1920er hatte sich eine Schicht der Staats- und Parteibürokratie vom zentralen Ziel der Revolution entfernt: die Gesellschaft von unten neu aufzubauen. Die Macht dieser Schicht war in den 1920ern bei weitem noch nicht absolut. Sie wurde vom Widerstand der ArbeiterInnen genauso wie von innerparteilicher Opposition herausgefordert. Je mehr sich der Spalt zwischen Staat/Partei und Klasse entwickelte, desto stärker traten aber auch die materiellen Interessen dieser Schicht gegenüber dem Rest der Gesellschaft hervor. Ende der 1920er schließlich konnte sich ein neues Regime auf Basis erzwungener Akkumulation durchsetzen. Aus einer abgehobenen Schicht war eine neue, selbstbewusste herrschende Klasse geworden.
Wie konnte es dazu kommen, dass die wohl rebellischste ArbeiterInnenschaft jener Zeit sich etwas mehr als zehn Jahre nach der Revolution in einer solchen Lage befand? In der vom Kalten Krieg geprägten Geschichtsschreibung wurde diese Frage entweder mit der starken Repression seitens des Staates oder mit einer vermeintlich breiten Zustimmung der Bevölkerung zum Stalinismus beantwortet.3 Beide Ansätze, so diametral entgegengesetzt sie auch sein mögen, befördern die Vorstellung, dass der Stalinismus das „natürliche“ und unvermeidbare Resultat von 1917 gewesen wäre, ebenso wie die Bevölkerung in beiden Versionen als eine passive und leicht manipulierbare „Masse“ dargestellt wird. Tatsächlich stellte sich der Degenerationsprozess, wie vor allem neuere Forschungen zeigen konnten, weit komplexer dar.

Bürgerkrieg

Gemeinhin werden die Ursprünge des Stalinismus bereits in den ersten Jahren unmittelbar nach der Revolution, der Zeit des Bürgerkriegs zwischen 1917 und 1920, ausgemacht. Unumstritten ist, dass das stalinistische Regime der 1930er Jahre auf Maßnahmen aufbauen konnte, die während des Bürgerkriegs eingeführt worden waren. Dennoch gilt es, auch für die Zeit des sogenannten „Kriegskommunismus“, die strukturierenden Handlungskontexte in den Blick zu nehmen, die in nicht geringem Ausmaß den möglichen Politiken enge Grenzen zogen. Somit sind für diese erste Phase der Degeneration und Bürokratisierung der Revolution weniger ideologische Impulse des Bolschewismus als die Zwänge einer (international isolierten) Kriegswirtschaft in Anschlag zu bringen.
Russland war zwischen 1914 und 1920 ein Land im Krieg. Der erste Weltkrieg, der für Russland mit den Separatfrieden von Brest-Litowsk im März 1918 endete, glitt bruchlos in die Auseinandersetzungen des Bürgerkriegs über, dessen Beginn bereits mit dem Putschversuch Lavr Kornilovs im August 1917 angesetzt werden muss.4 Nach einem gescheiterten Aufstand der Kadetten5 wenige Tage nach der Machtübernahme der Sowjets in Petrograd, und dem Putschversuch des späteren Nazi-Kollaborateurs Petr Krasnov, sammelten sich um die Generäle Denikin, Kaledin, Kornilov und Alekseev die Kräfte der Reaktion. Was in der antikommunistischen Historiographie des Kalten Kriegs meist unterbelichtet blieb ist jedoch die Tatsache, dass trotz der anfänglichen Unorganisiertheit der „Roten Armee“ der Bürgerkrieg schon im Frühjahr 1918 im Wesentlichen entschieden schien. Optimistisch verkündete Lenin im April 1918: „Man kann zuversichtlich sagen, daß der Bürgerkrieg in der Hauptsache beendet ist. … es kann nicht daran gezweifelt werden, daß die Reaktion an der inneren Front … unwiderruflich vernichtet worden ist.“6
Die entscheidende Trendwende brachte erst die militärische, finanzielle und logistische Unterstützung der „Weißen Armee“ durch 14 alliierte Staaten: „hätte es keine Intervention gegeben, hätte die alliierte Hilfe für die Weißen nach Ende des Weltkriegs gestoppt, wäre der russische Bürgerkrieg weitaus schneller mit einem eindeutigen Sieg der Sowjets beendet worden.“7 In den Jahren zwischen 1918 und 1920 wurde Russland zum „ersten Versuchsfeld mittlerweile gängiger konterrevolutionärer Taktiken des Westens, die vielfach auf direkter militärischer Intervention basieren, in jedem Fall aber auf finanzieller Unterstützung der Contras und ökonomischer Kriegsführung ‚niedriger Intensität‘.“8
Verschärft wurde die Situation durch den Zusammenbruch der Wirtschaft und zentraler politischer Koordinations- und Autoritätsstrukturen sowie dem alliierten Wirtschaftsembargo. Die industrielle Produktion ging bis 1920 auf 31 Prozent des Vorkriegsniveaus zurück, der Gesamtoutput auf 38 Prozent.9 Mit der deutschen Annexion der Ukraine wurde zusätzlich eine Region abgeschnitten, die als ehemalige Kornkammer des Landes 35 Prozent des Getreides produziert hatte. Insgesamt gingen mit den besetzten Gebieten 80 Prozent der Eisenproduktion, 90 Prozent der Kohleproduktion und ungefähr die Hälfte aller russischen Industrieanlagen verloren. Zugleich bedeuteten die Zerstörungen im Schienensystem und Engpässe bei der Treibstoffversorgung, dass ein Gutteil des Getreides verschwand oder verrottete, bevor es in die urbanen Zentren gelangte, und die Auflösung der Großgrundherrschaften beförderte in den ruralen Gebieten die Beschränkung auf Subsistenzwirtschaft gegenüber der Produktion zum Verkauf.
Besonders in den Städten wurden die katastrophalen Auswirkungen des ökonomischen Zusammenbruchs spürbar. In Moskau und Petrograd etwa deckten die Nahrungsmittelrationen im Frühjahr 1918 gerade einmal zehn Prozent des Nötigen. Das Fehlen von Treibstoff und Rohstoffen erzwang Fabriksschließungen, sodass die Arbeitslosigkeit in den Städten in die Höhe schoss – auf bis zu 80 Prozent in Petrograd.
Die Bolschewiki konnten sich den politischen Konsequenzen dieser Situation nicht entziehen. Die in den ersten Dekreten der Sowjetregierung formulierten Ansprüche standen in unaufhebbarer Spannung zu den ökonomischen und sozialen Realitäten. Gegen utopistische Unterstellungen, die Bolschewiki hätten die Maßnahmen der Bürgerkriegszeit als „Sprung in den Kommunismus“ legitimiert, waren die wichtigsten Protagonisten der neuen Sowjetregierung sehr wohl von deren temporärem Charakter überzeugt.10 Letztlich orientierte die Strategie auf die berechtigte Hoffnung der Internationalisierung der Revolution in industriell entwickelten Ländern Europas, insbesondere Deutschlands.
Bis dahin diktierte der Bürgerkrieg die unausweichliche Alternative: Kapitulation oder Verteidigung. Das bedeutete auch, dass eine Armee von Grund auf neu aufgebaut werden musste, mit allen Problemen, die einer solchen Organisation notwendig anhaften. Niemand sollte sich idealisierenden Illusionen der Roten Armee hingeben. Als sich das anfängliche Räteprinzip in der Armee als unzureichend für größere und schnell koordinierte Aktionen erwies, wurden militärische Disziplin und Autorität wieder durchgesetzt; nachdem sich bis Ende Mai 1918 nur 360.000 Menschen freiwillig für die Rote Armee gemeldet hatten, setzte Trotzki die Wehrpflicht wieder ein.11 Zugleich wurde jedoch „eine konstante politische Kampagne aufrechterhalten, um Greueltaten zu vermeiden und das moralische und politische Bewusstsein zu heben. Es gelang nicht immer, aber das Ziel war, die Rote Armee zu einer Armee der Befreiung, nicht der Eroberung, zu machen, und Disziplinarstrafen sollten Soldaten von Vergewaltigung, Mord und Plünderung abhalten.“12
Der Krieg und die ökonomische wie soziale Katastrophe veränderten auch politische Prioritäten und die Form der Regierung. Oberste Priorität erhielt die Lebensmittelversorgung der Armee sowie der städtischen ArbeiterInnen. „In den ersten Monaten hoffte die Regierung verzweifelt, dass durch Ankurbelung der Produktion von Gütern wie Textilien, Salz, Zucker oder Kerosin die Bauern zum Verkauf des Getreides bewegt werden könnten. Aber der andauernde Engpass an Konsumgütern und die Inflationsspirale machten diese Politik zunichte.“13 Im Mai 1918 sah die Regierung daher keine Alternative als den Rückgriff auf eine „Versorgungsdiktatur“, die alle Getreideüberschüsse über einer fixierten Konsumnorm – wenn notwendig mit Gewalt – konfiszierte. Das war nun kein Spezifikum bolschewistischer Politik. Vielmehr war nicht nur die Kriegswirtschaft des Zarismus und der Provisorischen Regierung 1917 genauso verfahren, sondern auch die kriegswirtschaftliche Struktur Deutschlands beruhte auf einem staatlichen Getreidemonopol, so wie auch die Weiße Armee Getreide requirierte.
Schon im Herbst 1918 wurde diese Politik jedoch zugunsten des Systems der razverstka wieder zurückgenommen, das ähnlich einer direkten Besteuerung der BäuerInnen funktionieren sollte. Für jede Region und jedes Dorf wurden Getreidequota auf Basis geschätzter Ernteüberschüsse festgelegt. Im Gegenzug sollten die BäuerInnen Anspruch auf eine bestimmte Menge Güter haben, und zwar unabhängig von den abgelieferten Getreidemengen; der Warentausch sollte dabei als Sanktionsmechanismus für nicht erfüllte Quota fungieren.14 Freilich blieb auch hier das grundlegende Dilemma bestehen: „Ohne Wiederbelebung der Industrie war auch die Landwirtschaft verloren – und ohne drückende und unkompensierte Getreideabgaben konnte sich die Industrie nicht erholen. … Sowohl die Provisorische Regierung als auch die Bolschewiki hatten mit dem Erbe des [ökonomischen] Zusammenbruchs zu kämpfen, der zuerst zu fehlenden Anreizen zur Vermarktung des Getreides und später zum Schrumpfen bäuerlicher Produktionskapazitäten führte.“15 Letztlich, urteilt der Historiker Steve Smith, hatten die Bolschewiki in dieser Situation „keine andere Wahl als ‚von den Hungrigen zu nehmen und den noch Hungrigeren zu geben‘, da die Armen in den Städten und den Getreidedefizit-Regionen es sich ganz einfach nicht leisten konnten, bei Markt-Preisen Lebensmittel zu kaufen.“16
Der Wiederaufbau der Industrie musste schon allein aus diesem Grund weit oben auf der Prioritätenliste der Regierung rangieren, und es ist diese Dimension der bolschewistischen Politik der Bürgerkriegszeit, die am nachhaltigsten die Transformation des Regimes prägen sollte.
Unmittelbar nach der Oktoberrevolution war ein Gutteil der Betriebe von ArbeiterInnen selbst in „wilden“ Kollektivierungen angeeignet worden, bevor im Juni 1918 die gesamt Industrie nationalisiert wurde. Im Kontext staatlicher Desintegration und politischer Fragmentierung drohte die Wirtschaft nun allerdings in ein unkoordiniertes System autonomer Fabriken zu zersplittern. Verstärkt durch den Druck des Bürgerkriegs wurden deshalb Formen der Zentralisierung der Industrie erforderlich. Ansonsten wäre weder eine koordinierte Antwort auf die Bedürfnisse der Armee möglich, noch an die „Geschwindigkeit des Kriegs“ angepasste, schnelle Entscheidungen sicherzustellen gewesen. Die ersten postrevolutionären Monate können daher als Versuch der „Disziplinierung“ der „spontanen“ und „planlosen“ Zerschlagung der alten Ordnung interpretiert werden. In diesem Kontext ist die Etablierung des Obersten Volkswirtschaftsrats im Dezember 1917 zur zentralen Wirtschaftsplanung und die am ersten Gewerkschaftskongress im Jänner 1918 beschlossene Eingliederung der Fabrikskomitees als lokale Organe der Gewerkschaften (Produktionsverbände) zu verstehen. Auch hier waren die Maßnahmen weniger ideologisch motiviert als durch „praktische Notwendigkeiten“ vorgezeichnet.17
Freilich existierte zwischen Zentralismus und ArbeiterInnendemokratie eine offensichtliche Spannung. Schon im Frühjahr 1918 kritisierte deshalb der linke Bolschewik Ossinski, dass „die Verstaatlichung an sich, d.h. der Übergang eines Betriebs in Staatseigentum, noch keinen Sozialismus“ bedeute. Das Wichtigste sei, „in der inneren Organisation der Produktion … die Kommandogewalt des Proletariats … aufrechtzuerhalten“: „Die Organisierung der Arbeit muß der Entwicklung der Klassenselbständigkeit und der Aktivität Raum gewähren.“ Ansonsten drohe „die Entstehung des Staatskapitalismus in Rußland“.18
Im Licht der späteren Entwicklungen daraus ex post eine Theorie der zwangsläufigen autoritären Verkrustung der Revolution zu basteln ist dennoch unzulässig. In jedem Fall gestalteten sich die betrieblichen Realitäten weit chaotischer und komplexer, als es jene Lesarten nahelegen, die nur auf die politischen Entscheidungen der Sowjetregierung fokussieren. Das etatistische, produktivitätsorientierte Modell der Produktionsorganisation deckte sich kaum mit der tatsächlichen Situation in den Fabriken.
Während etwa de iure die kollegiale Leitung der Betriebe durch die Ein-Mann-Leitung eingesetzter Manager (die sich entweder aus der Belegschaft selbst oder aus „bürgerlichen Spezialisten“ rekrutierten) abgelöst wurde19, überschnitten sich de facto die Aufgabenbereiche von Management, lokaler Parteiorganisation und Fabrikskomitee weitgehend und bis Mitte der 1920er Jahre fungierten letztere als hauptsächliche betriebliche Verwaltungsorgane.
Wie die Historikerin Diane Koenker betont widersprachen die „chaotischen lokalen Realitäten … dem Ideal einer rationalen zentralisierten Ordnung“.20 Vielmehr beförderte gerade die Krise der Bürgerkriegszeit (autonome) betriebszentrierte Loyalitäten und Solidaritäten, die im Kampf um knappe Ressourcen Abteilung gegen Abteilung, Fabrik gegen Fabrik, Stadt gegen Stadt stellte. Je mehr die Ausnahmesituation des Kriegs die Kollektivität der Revolutionszeit unterhöhlte und einer „Politik des persönlichen Überlebens“ (Murphy) wich, desto stärker wurde die Fabrik zum primären Ort der Identifikation und der Sicherung der materiellen Bedürfnisse. Koenker hat daher für die Bürgerkriegszeit von „entgegengesetzten Tendenzen zentraler Autorität und autonomer lokaler Kontrolle“ gesprochen.21
Überhaupt waren die gesellschaftlichen Verhältnisse im Fluss. Auf die Betriebe selbst bezogen drehten sich die Debatten um Fragen privaten und/oder gesellschaftlichen Eigentums; um Fragen lokal unabhängiger Verwaltungsautonomie oder zentraler wirtschaftlicher Direktion; um das Ausmaß der Involvierung der Belegschaften in Management- und Entscheidungsstrukturen. In der wirtschaftspolitischen Debatte diskutierten Regierung und Gewerkschaften, ob monetäre Anreize zur Produktivitätssteigerung moralische Appelle ergänzen sollten. Ebenso umstritten war, wie betriebliche Konflikte gelöst werden sollten. Streiks wurden vielfach als unangemessen betrachtet und zentrale staatliche und gewerkschaftliche Apparate bevorzugten Formen der Vermittlung und Streitschlichtung durch (innerbetriebliche) Kommissionen.22
Ebenso war die Rolle der Gewerkschaften zu definieren, sowohl im Verhältnis zum Staat als auch in ihrem Verhältnis zu den ArbeiterInnen in den Betrieben. Die Lösungsansätze waren auch innerhalb der bolschewistischen Partei umkämpft. In der „Gewerkschaftsdebatte“ 1920/21 kristallisierten sich drei Positionen heraus: während Trotzki die Eingliederung der Gewerkschaften in den staatlichen Wirtschaftsapparat favorisierte und deren Aufgabe in erster Linie in der Hebung der Produktivität sah, verteidigte die „Arbeiteropposition“ um Shliapnikov und Kollontai vehement die Autonomie der Gewerkschaften und forcierte deren Rolle als übergeordnete proletarische Leitungsorgane der Ökonomie, da die Volkswirtschaftsräte bereits bürokratisiert seien und die Regierung die widersprüchlichen Interessen von ArbeiterInnen, BäuerInnen und „bürgerlichen Spezialisten“ ausbalancieren müsse. Durchgesetzt hat sich letztlich die dritte Position Lenins, Zinovievs, Kamenevs, Stalins und prominenter Gewerkschaftsführungen. Die Gewerkschaften sollten als „Schule des Kommunismus“ fungieren, als (teilautonome) Klassenorganisationen des Proletariats „die Hauptarbeit zur Organisation der Produktion übernehmen“ und „im Laufe der sozialistischen Revolution zu Organen der sozialistischen Macht werden, die als solche anderen Organisationen [lies: dem Obersten Volkswirtschaftsrat] bei der Verwirklichung neuer Organisationsprinzipien des Wirtschaftslebens beigeordnet sind.“23 Was das praktisch bedeutete blieb jedoch ebenso unklar, wie die Formulierung offenließ, was passieren sollte, wenn die Interessen von Staat und ArbeiterInnen kollidierten.
Letztlich wurden die verschiedenen Konfliktachsen der Bürgerkriegszeit (zwischen Land und Stadt, BäuerInnen und ArbeiterInnen, Staat, Gewerkschaft und Betrieb etc.) dennoch von der grundlegenden Auseinandersetzung mit der Konterrevolution überspannt. Die Feindseligkeit der BäuerInnen „wurde im Endeffekt durch das Wissen in Schach gehalten, dass, wenn die Kommunisten das Getreide nahmen, die Weißen drohten, nicht nur das Getreide sondern auch das Land zu nehmen.“24 Und auch unter den städtischen ArbeiterInnen behielt die Sowjetregierung, bei aller Kritik, Massenunterstützung. Kevin Murphy konnte in seiner Studie des größten Moskauer Metallbetriebs, der „Hammer und Sichel“-Werke, zeigen, dass die ArbeiterInnen trotz der schwierigen materiellen Bedingungen nicht die Revolution oder die kommunistische Partei für ihre Probleme verantwortlich machten. In den Treffen des Fabrikskomitees und den betriebsweiten Versammlungen überwog die Diskussion praktischer Maßnahmen zur Lebensmittel- und Treibstoffversorgung und „Streiks“ waren meist nicht von politischen Forderungen begleitet. Der hauptsächliche Grund, warum die Bolschewiki den Bürgerkrieg gewinnen konnten war demnach nicht die Repression.25 So heißt es auch in einem Memorandum an das britische Kriegsministerium im Juli 1919: „Die Stabilität der bolschewistischen Regierung kann nicht allein durch Terror erklärt werden. … Wir müssen also zugeben, dass die derzeitige russische Regierung von der überwiegenden Mehrheit der russischen Bevölkerung anerkannt wird.“26
Die politischen Transformationen an der Spitze des Regimes während der Bürgerkriegszeit sollten sich dennoch als grundlegend für die spätere Entwicklung erweisen. Das Erbe des „Kriegskommunismus“ schrieb sich in den „ArbeiterInnenstaat“ ein: die militarisierte, zentralistische und maskulinistische politische Kultur der Bürgerkriegszeit „zog neue Hierarchien in das egalitäre sozialistische Projekt ein, die Bewaffnete gegenüber Unbewaffneten, Anführer gegenüber Mitläufern, ArbeiterInnen gegenüber BäuerInnen, Männer gegenüber Frauen privilegierten.“27 Die Rote Armee war mit Ende des Bürgerkriegs zur größten Institution des Staates geworden und genoss oberste Priorität in der Allokation der Ressourcen; zugleich wurde sie zur „Brutstätte der Kader des Staats- und Parteiapparats der 1920er Jahre.“28
Ebenso veränderte sich die soziale und politische Zusammensetzung der ArbeiterInnenklasse grundlegend. Die Bevölkerung Petrograds etwa war durch Krieg, Seuchen und Stadtflucht von 2,4 Millionen 1917 auf 574.000 1920 gefallen. Von ursprünglich 400.000 FabriksarbeiterInnen waren 1921 gerade einmal noch 50.000 in der Petrograder Industrie beschäftigt. Zudem waren die wichtigsten lokalen AktivistInnen der Revolutionszeit nun entweder an der Front oder in die Institutionen des Staats eingezogen. Der kollektive Egalitarismus und die Institutionen der ArbeiterInnenselbstverwaltung waren zusehends ausgehöhlt worden und die ökonomische Katastrophe förderte individualisierte Strategien zur Sicherung der materiellen Bedürfnisse. Die Regelmäßigkeit der Fabrikskomitee-Treffen und der betriebsweiten Vollversammlungen ging drastisch zurück und die ökonomische Krise der Bürgerkriegszeit atomisierte die Klassensolidarität in den Fabriken.
Gleichzeitig zerfiel mit Ende des Bürgerkriegs das Bündnis mit den BäuerInnen. Die Oktoberrevolution war, wie Tony Cliff argumentiert, „die Fusion zweier Revolutionen“29 gewesen: einer proletarischen gegen den Kapitalismus, und einer antifeudalen Revolution, die auf kleinkapitalistisches Privateigentum des Landes orientierte. Sobald mit der Weißen Armee der unmittelbare Gegner besiegt war, brachen daher drastische Konflikte zwischen Sowjetregierung und Bauernschaft auf.
Das alles konnte auch an der bolschewistischen Partei selbst nicht spurlos vorübergehen. Die Dezimierung und Rekomposition der ArbeiterInnenklasse im Zuge des Bürgerkriegs schnitt die Organisation zunehmend von ihrer organischen Verwurzelung in den Betrieben ab.30 Während 1917 ArbeiterInnen 60 Prozent der Partei ausmachten, war diese Zahl 1921 auf 41 Prozent gefallen – und der Großteil arbeitete für den Staat oder die Armee und nicht in der Industrie. Zugleich wurde die kommunistische Partei zum Attraktionspol für Karrieristen aller Art: zwischen März 1919 und Dezember 1920 wuchs die Mitgliedschaft von 313.000 auf 730.000.31
Die massiven Probleme der Versorgung und des Transportwesens, die „Trägheit“ lokaler Institutionen, die Notwendigkeit, schnelle Entscheidungen zu treffen und umzusetzen, verstärkten auch den Druck zur Konzentration der Entscheidungsprozesse an der Spitze von Staat und Partei, die zunehmend wie eine Armee operierte. Bis 1919 war das Zentralkomitee zur einflussreichsten politischen Struktur geworden, in der alle wichtigen Maßnahmen beschlossen wurden, noch bevor sie an den Rat der Volkskommissare und das Zentralexekutivkomitee des Sowjetkongresses zur Implementierung weitergeleitet wurden. In der Partei selbst betrachtete die Führung interne Debatte und Kritik immer mehr als hemmenden Ballast.32 Obrigkeitsdenken und Funktionärskult setzten sich ebenso durch wie die bürokratische Praxis der Ernennungen.
Die Tendenz zu „substitionistischer“ Politik – d.h. einer Politik, die (temporär) die Herrschaft der ArbeiterInnen durch die Herrschaft der Partei für und anstatt der ArbeiterInnen ersetzte, und dies mit Verweis auf die „Passivität“ und „Rückständigkeit“ der Basis rechtfertigte – war in diesem Kontext der Fragmentierung kollektiver Militanz in den Betrieben und der Entdemokratisierung der Partei überdeutlich. Eines der frühen krassen Beispiele ist sicherlich Trotzkis Versuch der „Militarisierung der Arbeit“, der auf die Errichtung eines Regimes staatlicher Zwangsarbeit hinauslief, „in der jeder Arbeiter sich als Soldat der Arbeit versteht, der nicht frei über sich verfügen kann; wenn der Befehl kommt, daß er versetzt werden soll, so muß er ihn ausführen“.33 Zurecht bemerkte daher die Arbeiteropposition im Frühjahr 1921, dass die Macht der proletarischen Assoziationen in der Bürgerkriegszeit durch die Herrschaft der Partei- und Staatsapparate ersetzt worden sei und die ArbeiterInnenklasse „eine immer geringere Rolle in der Sowjetrepublik spielt, daß sie den Maßnahmen ihrer eigenen Regierung immer weniger ihren eigenen Stempel aufdrückt, daß sie in immer geringerem Maße die Politik bestimmt und auf die Arbeit und die Denkweise der zentralen Machtorgane immer weniger Einfluß hat.“34
Letztlich hätte nur die Aktivität der ArbeiterInnenklasse selbst die Gefahr des Substitutionismus und die Verwandlung der Partei in eine konservative Kraft verhindern können.35 Selbst diejenigen Bolschewiki, die sich, wie Lenin, der Bürokratisierung der Revolution durchaus bewusst waren, lehnten eine solche Perspektive allerdings mit dem Argument der „Deklassierung“ der ArbeiterInnenklasse ab.36 In Lenins bekannter Formulierung konnte der Staat gegen Ende des Bürgerkriegs nicht mehr aufgrund seiner sozialen Basis, sondern nur mehr aufgrund der Ziele der Partei(führung) als ArbeiterInnenstaat bezeichnet werden.
Es sei dahingestellt, ob diese Einschätzung für 1920 zutrifft. In jedem Fall muss die auf dieser These aufbauende linke Historiographie relativiert werden, die deshalb in der Niederlage der „alten Garde“ der Partei gegen Stalin den Hauptgrund der Degeneration der Revolution ausmacht. Insbesondere neuere Forschungen haben ab 1921 einen Aufschwung kollektiver Militanz und im Selbstvertrauen der ArbeiterInnen, der Gewerkschaften und Fabrikskomitees nachweisen können.37 Zwar legten die Maßnahmen der Bürgerkriegszeit die Grundlage für die Eliminierung proletarischer Autonomie und Initiative,38 aber unabhängige politische Strukturen der ArbeiterInnen waren in der ersten Hälfte der 1920er Jahre immer noch lebendig. Von einer politischen Desintegration der ArbeiterInnenklasse kann vielleicht in der Bürgerkriegszeit gesprochen werden; die Argumentation, die diesen Prozess in die erste Hälfte der 1920er projiziert, und daraus ein Argument zu stricken versucht, das bestimmte bürokratische Entscheidungen, und die Aushöhlung der Institutionen proletarischer Demokratie, mit den „objektiven Umständen“ erklärt, ist nicht länger haltbar.

Neue Ökonomische Politik

Die 1921 beschlossene „Neue Ökonomische Politik“ (NEP) war als temporärer Kompromiss konzipiert, der privaten Handel fördern sollte, insbesondere um die Tauschverhältnisse zwischen Stadt und Land wieder zu beleben. Nur ein Ausgleich mit der Bauernschaft könne, so das Kalkül, die Revolution bis zur Internationalisierung des Prozesses, retten. Begleitet waren diese Maßnahmen von einer partiellen Rücknahme hochzentralisierter staatlicher Kontrolle der Wirtschaft der Bürgerkriegszeit.
Vom Standpunkt des Proletariats aus erschien die NEP allerdings als grundsätzlich widersprüchlich. Einerseits sollten die Unternehmen verlustfrei arbeiten und die Löhne sollten sich an der Produktivität orientieren; die Vorgaben für das Fabriksmanagement bedeuteten somit, dass die staatlichen Betriebe nicht unähnlich zu privatkapitalistischen zu führen waren. Gleichzeitig war jedoch seit 1922 gesetzlich festgeschrieben, dass Löhne durch kollektive Verhandlungen mit den Gewerkschaften vereinbart und von der Belegschaft ratifiziert werden mussten; die tägliche Arbeitszeit war auf acht Stunden beschränkt, Überstunden wurden mit 150 Prozent abgegolten, und Mütter hatten Anspruch auf eine 16-wöchige Karenzzeit. Konflikte wurden in Kommissionen in wöchentlichen Sitzungen ausgehandelt, die paritätisch aus Management und ArbeiterInnen zusammengesetzt waren. Alleine 1924 und 1925 wurden in den Moskauer „Hammer und Sichel“-Werken 13.000 Beschwerden eingereicht, die in zwei Drittel der Fälle zum Vorteil der ArbeiterInnen gelöst wurden.
Die sich aus dieser Situation ergebende grundlegende Spannung zwischen der Steigerung der ökonomischen Effizienz und der Verteidigung der Rechte und Interessen der ArbeiterInnen sollte im Laufe der 1920er Jahre besonders deutlich werden und auch heftige Konflikte nach sich ziehen.39 Dass diese Konflikte – sei es im Arbeitskampf oder am Verhandlungstisch – auch ausgetragen wurden, zeigt aber gleichzeitig, dass die ältere These, nach der das NEP-Regime seine Ziele und Politiken repressiv durchsetzte,40 nicht mehr haltbar ist. In kürzlich veröffentlichten Berichten der Staatspolizei GPU wurden zwischen 1922 und 1928 bei mehr als 3.000 Streiks nur sechs Fälle angeführt, bei denen streikende ArbeiterInnen verhaftet wurden.41
Trotz der widersprüchlichen Situation der frühen NEP-Zeit kontrollierten die ArbeiterInnen über weite Strecken den Produktionsprozess. Diane Koenker hat in ihrer Studie über die Moskauer Druckindustrie erläutert, dass die ArbeiterInnen Mitte der 1920er Jahre noch die Kontrolle in vier Schlüsselbereichen ausübten: „gegenüber dem Management, in Fragen der Disziplin, Methoden der Entlohnung und der Organisation des Arbeitsprozesses.“42 Der Arbeitsprozess war hier also der kapitalistischen Verwertungslogik noch nicht untergeordnet. Auch Kevin Murphy konnte zeigen, dass „das politische Leben in den Fabriken in der NEP-Zeit immer noch sehr dynamisch, lautstark und durchsetzungsfähig war. … Trotz der vielen Schwächen war die Revolution noch lebendig und das System in den Fabriken unterschied sich grundlegend vom kapitalistischen.“43

Verschiebung der Kräfteverhältnisse

Etwa Mitte der 20er Jahre lässt sich eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zuungunsten der ArbeiterInnen feststellen, als sich Partei- und Gewerkschaftsstrukturen zunehmend in Institutionen zur Durchsetzung produktivitätsorientierter Politik und zur Disziplinierung der ArbeiterInnen transformierten. Damit einher ging die Implementierung einer härteren Linie des Managements in den Fabriken gegenüber der ArbeiterInnenschaft. Ein bezeichnendes Beispiel für diese Verschiebung ist die abnehmende Intensität der ArbeiterInnenkämpfe – waren militante Streiks zu Beginn der genannten Epoche charakteristisch für die Artikulation von Interessen sowie für die Austragung von Konflikten, zählten sie in der späten NEP Zeit zumeist nur noch zu Ereignissen der Vergangenheit.44 Am Beispiel der Belegschaft der „Hammer und Sichel“-Werke zeigt Murphy, dass die Militanz der ArbeiterInnen bis Frühjahr 1924 deutlich anstieg. Danach sind jedoch keine weiteren Berichte über Streikaktivitäten für dieses Jahr und nur einer für 1925 bekannt. Weitgehend in die Defensive gerückt, verstummten im Laufe der zweiten Hälfte der 20er Jahre offensive Forderungen der ArbeiterInnen, etwa nach Lohnerhöhungen. Stattdessen wurde in den Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz versucht, gegen die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen anzukämpfen.
Wie ist diese Verschiebung zu erklären, wenn es keine Anzeichen verstärkter staatlicher Repression gab? Kevin Murphy hat überzeugend ausgeführt, dass die Gewerkschaften eine wichtige Rolle bei dieser Entwicklung gespielt haben. Sie wurden häufig bei Konflikten herangezogen und von staatlicher Seite erfolgreich zur Befriedung von Streiks eingesetzt.45 Als sich ab 1925 die ökonomische Situation verschärfte, konnte der Staat seine Position gegenüber der ArbeiterInnenklasse stärken. Dieser Prozess, die damit verbundene zunehmende Bürokratisierung sowie der Aufstieg des stalinistischen Flügels sind an eine Reihe von Faktoren, soziale Prozesse und Kämpfe geknüpft. Das Ausbleiben der von den Bolschewiki erhofften internationalen Revolution, die damit einhergehende Frage nach militärischer Verteidigung, die Isolierung Sowjetrusslands sowie der globale Wettbewerb spielten ebenso eine Rolle wie interne Widersprüche und Konflikte.46 Schon im Bürgerkrieg bildete sich in der Sowjetunion eine gesellschaftliche Schicht heraus, die sich in ihrer Einstellung und polischen Stoßrichtung von den Idealen des Jahres 1917 entfernte. Zu Beginn der 1920er Jahre befand sich dieser Prozess der Entstehung einer neuen herrschenden Klasse noch in seinem Anfangsstadium. Im Laufe der NEP-Zeit traten jedoch die widersprüchlichen Beziehungen zu den ArbeiterInnen immer stärker zu Tage. In den ersten Jahren der Neuen Ökonomischen Politik sicherten sich jene Gruppen, die später der herrschenden Klasse angehören sollten, ihre Positionen in Staat und Gesellschaft. Im Zentrum dieses Prozesses standen Teile der Parteielite, die sich vor allem durch ihre politische Macht und durch die Kontrolle über den Staatsapparat auszeichnete. Doch die zukünftige herrschende Klasse setzte sich noch aus weiteren Fragmenten zusammen: „technische Spezialisten“, „kommunistische Manager“ oder Parteibeamte, die während der NEP oft auch in äußerst konflikthaften Beziehungen zueinander standen, reklamierten materielle Privilegien für sich und bemühten sich darum, ihre Vorrechte zu legitimieren.47 Zu diesen Privilegien zählten z.B. höhere Löhne, Wohnmöglichkeiten, medizinische Versorgung oder Kinderbetreuung. Auch wenn diese Vorrechte im ersten Moment bescheiden anmuten, so bedeutete ihre Existenz dennoch einen wesentlichen Bruch mit den Zielen der Revolution. Die Tatsache, dass höhere Löhne und sonstige Begünstigungen auf einmal an einen bestimmten Posten gebunden waren, signalisierte eine Unterlaufung der Prinzipien des Egalitarismus.48 Eine weitere Veränderung, die den Abgrenzungsprozess der sich formierenden Gruppe verstärkte, war die Etablierung einer strengeren Kontrolle über die Verteilung von Informationen, die die politische und ökonomische Situation betrafen, sowie die den Mitgliedern zugesprochene Immunität.49 Parteimitglieder die versuchten, die Privilegienstruktur der Elite mit Hilfe des Klassenbegriffs zu analysieren, wurden in den Untergrund getrieben.50 Trotz all dem war diese Schicht während der NEP weit davon entfernt, eine einheitliche Fraktion mit klar definierten Zielen zu sein.51
Die Verschiebungen der Kräfteverhältnisse in der zweiten Hälfte der NEP zeigen sich auch darin, dass das Gebot der Produktivität stärker an Gewicht gewann.52 Die ArbeiterInnenschaft bekam die Auswirkungen der intensivierten Produktivität deutlich zu spüren – sie war es, die unter schlechten Lebensverhältnissen und zu niedrigen Löhnen entscheidend zur raschen Industrialisierung beitrug. Zudem nahm in der zweiten Hälfte der NEP-Zeit die Arbeitslosigkeit zu. Die drohende Arbeitslosigkeit wiederum verstärkte das Aufbrechen der Solidarität innerhalb der ArbeiterInnenschaft. Brüche zwischen männlichen und weiblichen, jungen und alten ArbeiterInnen sowie zwischen neu in der Stadt angesiedelten BäuerInnen, die in den Städten Arbeit suchten, und der urbanen ArbeiterInnenschaft entwickelten und verschärften sich,53 aber auch antisemitische Stereotype gewannen an Boden.54 Fabrikmanager versuchten mittels einer „Teile-und-herrsche-Politik“ ihre eigene Position zu stärken, indem bewusst darauf abgezielt wurde, Spaltungen innerhalb der ArbeiterInnenschaft voranzutreiben: mittels Disziplinierung der ArbeiterInnen durch Lohnpolitik, durch die Androhung von Arbeitslosigkeit oder durch Bestrafung einzelner ArbeiterInnen.55
Die Konflikte reflektieren deutlich die Entwicklung der staatlichen Politik unter dem Banner der Produktivität und den damit einhergehenden Untergang egalitaristischer Tendenzen. Die Intensivierung des Arbeitsprozesses, die Senkung der Reallöhne sowie die sich verschlechternden Lebensverhältnisse wurden zu einem integralen Bestandteil des Industrialisierungsplans.56 Der Widerspruch der NEP-Zeit zwischen Effizienzprinzipien und ArbeiterInnendemokratie spiegelt sich auch im wankelmütigen Verhalten der Gewerkschaften. Die große Mehrheit der ArbeiterInnen war gewerkschaftlich organisiert. Der Beitritt zu einer Gewerkschaft war freiwillig und mit einer Reihe an (Sozial-)Leistungen verbunden.57 Obwohl die Gewerkschaften in der späten NEP-Zeit immer stärker von den ArbeiterInnen für ihre Politik kritisiert wurden, und sich letztere der mittlerweile höchstens nur noch defensiven Haltung ihrer gewählten Vertretung durchaus bewusst waren, wandten sich die ArbeiterInnen mit ihren Forderungen dennoch weiterhin an die Gewerkschaften. Im Allgemeinen überwog in der ArbeiterInnenschaft die Hoffnung auf Reformen innerhalb der bestehenden Institutionen – eine Tatsache, der für den weiteren Transformationsprozess eine wesentliche Bedeutung zukommt: dem Staat gelang es, „den Unmut der ArbeiterInnen durch offizielle Gewerkschaftsstrukturen erfolgreich zu kanalisieren.“58 Die Erwartungshaltung der ArbeiterInnen und die damit verbundenen wiederholten Versuche, sich mit Forderungen und Beschwerden an bestehende Einrichtungen zu wenden, erklärt auch, warum keine unabhängigen Organisationsstrukturen entstanden, die der arbeiterInnenfeindlichen Politik etwas entgegenzusetzen hatten. Dieses Verhalten knüpfte jedoch an durchaus positive Erfahrungen der ArbeiterInnen in den Betrieben an: lange Zeit hatten ihre Interessen Gewicht gehabt und ihre Forderungen waren umgesetzt worden.

Konterrevolution von oben

Die Jahre 1927-28 bedeuteten einen eindeutigen Bruch in der Geschichte der Sowjetunion. Gegen Ende der NEP-Zeit verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage maßgeblich. Maschinenanlagen, die nicht erneuert werden konnten, verursachten immer häufiger Betriebsausfälle in der Industrie. Nach mehreren aufeinanderfolgenden schwachen Ernten kam es zu Hungersnöten und Revolten auf dem Land. Die Krise hallte in den Städten wider, da die Nahrungsmittelengpässe Auswirkungen auf die Versorgung der StadtbewohnerInnen hatten.59 Das Regime griff erneut auf das Mittel der Getreiderequirierungen zurück. Zu den obersten Zielvorgaben der staatlichen Wirtschaftspolitik gehörte die Steigerung der Produktion, der Vorsatz, die Sowjetunion von einem Agrar- in einen Industriestaat zu verwandeln sowie wirtschaftliche Unabhängigkeit vom kapitalistischen Ausland sicherzustellen. Verwirklicht werden sollte dieses Programm mit Hilfe eines fünfjährigen Entwicklungsplans. Die Umsetzung dieses Fünfjahresplans brachte jedoch Umstrukturierungen und substantielle gesellschaftliche Veränderungen mit sich. Jene Überreste an demokratischen Strukturen und ArbeiterInnenkontrolle, die von der Revolution noch übrig geblieben waren, fanden ein jähes Ende.60 Formelle sowie informelle Organisationsstrukturen am Arbeitsplatz wie außerhalb, die 1917 eine wesentlich Rolle gespielt hatten, waren entweder zerstört oder transformiert.61 Mit dem ersten Fünfjahresplan setzte die stalinistische Führung ihr Programm der forcierten Industrialisierung durch, dessen Realisierung auf Kosten der ArbeiterInnen und der Landbevölkerung ging.62 Der Aufbau der Schwerindustrie wurde auf Kosten der Konsumgüterindustrie vorangetrieben.
Die vorrangige politökonomische Funktion dieser „stalinistischen Konterrevolution“ lag in der Produktion der Bedingungen für die Akkumulation von Kapital. Tony Cliff argumentiert in Staatskapitalismus in Russland, dass zu Beginn des Fünfjahresplans die wesentlichen Elemente eines kapitalistischen Systems präsent gewesen wären: verstärkte Kapitalakkumulation, eine die Produktionsmittel kontrollierende, herrschende Klasse und die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse, deren Mehrarbeit die Industrialisierung ermöglichte.63 Die mit dem Fünfjahresplan einhergehenden Veränderungen in den Fabriken waren mindestens ebenso grundlegend wie jene im Jahr 1917. Die von staatlicher Seite angestrebten Umstrukturierungen zielten gerade auf jene Institutionen der Revolution ab, die um 1917 und während der NEP-Zeit die Rechte der ArbeiterInnen verteidigten.64 Wie Murphy am Beispiel der Moskauer „Hammer und Sichel“-Werke zeigt, markiert der Zeitpunkt der Durchsetzung der forcierten Industrialisierung eine elementare Transformation proletarischer Organisationsstrukturen, wie etwa des Fabrikkomitees. Ursprünglich zur Vertretung der Interessen der ArbeiterInnen gegründet, war das Komitee Ende der 20er Jahre in sein Gegenteil verkehrt worden: in ein Werkzeug/Ausführungsorgan des Managements, um die Produktivität zu steigern, die Arbeitszeit zu verlängern und die Kosten zu senken.65
Auch die Gewerkschaften waren von den Umstrukturierungen nicht ausgeschlossen. Obwohl sie in den letzten Jahren der NEP-Zeit nicht in jedem Fall im Interesse der ArbeiterInnen gehandelt hatten, regte sich in den Reihen der Gewerkschaftsführungen Unzufriedenheit über das neue Industrialisierungsprogramm, das einer „Bestrafung der ArbeiterInnenklasse“ gleichkäme.66 Von Seiten des stalinistischen Flügels wurde in der Folge eine Kampagne gegen die Gewerkschaften gestartet, die diesen vorhielt, der „Produktivität im Wege zu stehen“.67 Paradoxerweise wurde zudem ausgerechnet den Gewerkschaften „gewerkschaftliches Verhalten“ vorgeworfen. Sämtliche Opponenten innerhalb der Gewerkschaft, die nicht mit den Zielsetzungen der Regierung übereinstimmten, wurden aus ihren Positionen gedrängt. Die Aufgabe der Gewerkschaften beschränkte sich, ähnlich wie die der Fabrikkomitees, anschließend nur mehr darauf, unter staatlicher Aufsicht die Ausbeutungsrate zu erhöhen und den Arbeitsprozess zu kontrollieren. Geheimpolizei und Gefängnislager unterstützten diesen Prozess der „Revolution von oben“.68 Die Herausbildung des neuen Regimes war – im Unterschied zu den Entwicklungen der 20er Jahre – mit starker staatlicher Repression verbunden.69 Öffentliche Kritik verstummte und politischer Protest wanderte in den Untergrund, Streiks waren nicht länger Teil des Klassenkonflikts und politische Verhaftungen häuften sich. Trotzdem regte sich Widerstand – am stärksten an jenen Orten, an denen gewerkschaftliche Strukturen entweder nicht vorhanden oder sehr schwach waren (und sich in der NEP-Zeit unabhängige Oppositionsnetzwerke entwickelt hatten).70 Nicht zuletzt weisen die zahlreichen, immer häufiger durchgeführten Verhaftungen darauf hin, dass die stalinistische Konterrevolution nicht gänzlich ohne Auflehnung und Protest vonstatten gegangen ist.

Schwächen der Opposition

Zweifelsohne begünstigten die „objektiven“ gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse in der Sowjetunion den Aufstieg der Bürokratie. Doch, so betont John Eric Marot, trugen auch die politischen und theoretischen Fehler der Linksopposition um Trotzki, der stärksten Oppositionsströmung in den 1920ern,71 nicht unwesentlich zur Niederlage der Revolution bei.72
Nach dem Bürgerkrieg gab es Bestrebungen, die volle innerparteiliche Demokratie in der bolschewistischen Partei wieder auszubauen. Tatsächlich brach mit der NEP-Zeit auch eine Ära heißer politischer Debatten und Kontroversen an. Doch der zuvor beschriebene Degenerationsprozess und die Entdemokratisierung auf Fabriksebene fanden ihre Entsprechung in einem eng damit verknüpften Bürokratisierungsprozess innerhalb der Partei, der sich nach dem Tod Lenins weiter verschärfte.
Zwischen den mächtigsten Persönlichkeiten und potentiellen Nachfolgern Lenins traten Spannungen auf, die zu heftigen Flügelkämpfen führten. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand vor allem die Frage nach der optimalen Strategie der Industrialisierung des Landes, dessen Ökonomie nach wie vor angeschlagen und das international isoliert war. 1924 wurde Trotzki von der so genannten Troika, bestehend aus Kamenev, Zinoviev und Stalin aus seiner Position in der Regierung gedrängt. Zuvor hatte er die Bürokratisierung der Partei scharf kritisiert und war für eine beschleunigte Industrialisierung, die das Proletariat stärken sollte, eingetreten. Im Jahr darauf wandten sich Zinoviev und Kamenev gegen Bucharin, ein heftiger Verteidiger der NEP, mit dem Vorwurf, Bucharin würde eine „übermäßig-bauernfreunliche Politik“73 betreiben. Doch Stalin, der zu dieser Zeit voll hinter Bucharin stand, verdrängte beide aus ihren Positionen und bildete mit Bucharin und dem Gewerkschaftsführer Tomski vorübergehend die Parteispitze. Gemeinsam trat die neue Troika für die Weiterführung der NEP und für die Doktrin des „Sozialismus in einem Land“ ein. Schließlich, 1926, bildete Trotzki gemeinsam mit Zinoviev und Kamenev die Vereinigte Opposition. Daraufhin wurden Vertreter dieser Opposition zuerst aus dem Politbüro und anschließend aus der Partei ausgeschlossen. Als sich die Krise der Getreideversorgung verschärfte, machte die stalinistische Politik noch einen entscheidenden Schwenk und rief 1928 zu einer offensiveren Agrarpolitik und dem „entscheidenden Kampf“ gegen „rechten Opportunismus“ auf. Die „rechte Opposition“, an deren Spitze Bucharin stehen sollte und die kaum als organisierte Kraft bezeichnet werden konnte, wurde ebenfalls zerschlagen und Bucharin aus dem Politbüro vertrieben. Mit diesem „Rundumschlag“ sowie dem konsequenten Vorgehen gegen die Vereinigte Opposition wurden die letzten Reste innerparteilicher Demokratie endgültig ausgelöscht.74
Die Rolle Trotzkis und der Opposition in diesen Auseinandersetzungen kann veranschaulicht werden, wenn ein Blick auf Trotzkis Analyse der politischen Situation in den 20er Jahren geworfen wird. Seiner Auffassung zufolge würden die objektiven Interessen der ArbeiterInnen von jener Fraktion der Partei vertreten, die nach der Entwicklung der Industrie und der Kollektivierung der Landwirtschaft strebt. Diese Fraktion stelle den „Linken Flügel“ der Partei dar – zu dem Trotzki sich selbst zählte. Der „Rechte Flügel“ bezeichne jene Strömung, die für die volle Entfaltung der Marktmechanismen der NEP eintrete und an deren Spitze Bucharin stünde. Das stalinistische „Zentrum“ schließlich würde zwischen diesen beiden Positionen schwanken. Doch genau jenes Programm, das von Trotzki dem „Linken Flügel“ zugeordnet wurde, das Programm der forcierten Industrialisierung und der Kollektivierung der Landwirtschaft, wurde Ende der 20er Jahre vom stalinistischen Flügel umgesetzt.
Trotzki und die Linke Opposition hatten dementsprechend keine programmatische Basis mehr, die der stalinistischen Strömung entgegenzuhalten gewesen wäre. Die Opposition stellte sich nicht gegen die Politik der forcierten Industrialisierung und Kollektivierung, sondern war im Gegenteil der Meinung, die stalinistische Politik der Kollektivierung und Industrialisierung sei sozialistische Politik, zu der es keine Alternative gebe. Folglich fanden die Proteste und der Widerstand der ArbeiterInnen und BäuerInnen gegen diese Politik keine Unterstützung durch die Vereinigte Opposition.75 Marot rückt an dieser Stelle die Kritik an Trotzkis Substitutionismus in den Mittelpunkt. Trotzki hätte die historischen Interessen der ArbeiterInnenklasse, die seiner Ansicht nach von der Partei verkörpert würden, der tatsächlich existierenden ArbeiterInnenklasse mit ihren alltäglichen Bedürfnissen und materiellen Interessen gegenüber gestellt.76 Da er die russische kommunistische Partei weiterhin für die Vertreterin der Interessen der ArbeiterInnenklasse hielt, trat Trotzki für einen Einparteienstaat ein und stimmte 1921 auch dem (vorübergehenden) Fraktionsverbot zu.77 Marot verweist auf die schweren Konsequenzen von Trotzkis Versäumnis, ArbeiterInnendemokratie bedingungslos zu einem integralen Bestandteil seiner Konzeption des Übergangs zum Sozialismus gemacht zu haben.78 ArbeiterInnen und BäuerInnen wären der Politik der Kollektivierung und Industrialisierung – wären sie gefragt worden – wohl eher kritisch gegenüber gestanden. Für sie bedeutete ökonomische Entwicklung in erster Linie intensivierte Ausbeutung. Zudem hätte Trotzki, so Marot, die Sowjetunion problematischer Weise nach wie vor als einen Arbeiterstaat betrachtet – wenn auch als einen degenerierten. Er hätte hingegen nicht erkannt, dass die Bürokratie eine „Klasse im Werden“ darstellte, die mit eigenen Interessen ausgestattet war – welche wiederum in einem grundsätzlichen Gegensatz zu jenen der ArbeiterInnen und der Landbevölkerung stehen würden.79 Da die Bürokratie nicht als eine eigene soziale Kraft verstanden wurde, die bereits eine Eigendynamik entwickelt hatte, wurde auch übersehen, dass die Partei, bzw. die immer dominanter werdende stalinistische Fraktion selbst zur Repräsentantin dieser Bürokratie mutierte. Trotzki bewertete die Proteste der ArbeiterInnen gegen die Bürokratie nicht als Manifestation eines Interessenkonflikts, sondern als ein Zeichen politischer Unreife und „Kulturlosigkeit“.80 Die Opposition um Trotzki unterstützte zwar durchaus ökonomische Forderungen der ArbeiterInnen in den Fabriken, aber keine politische Kritik an Stalin.81 Die Linke Opposition lehnte die Bildung einer eigenen Partei kategorisch ab. Wie Murphy zeigt, existierte während des ersten Fünfjahresplans weitgehend Unzufriedenheit unter den ArbeiterInnen. Die Opposition versuchte allerdings nicht, als organisierte Kraft an diese Proteste anzuknüpfen. Als Trotzki um 1933 seine Ansichten änderte und für eine politische Revolution gegen die stalinistische Bürokratie aufrief, was es bereits zu spät: der Stalinismus und mit ihm die neue herrschende Klasse war bereits vollständig konsolidiert.

Zusammenfassung

Die von den subalternen Klassen in der Oktoberrevolution erkämpften demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen deuteten für kurze Zeit die Möglichkeit einer postkapitalistischen Vergesellschaftungsform an. Der soziale, politische und ökonomische Zusammenbruch der Bürgerkriegszeit jedoch, zusammen mit der Isolation der Revolution, schuf nicht nur einen Bruch zwischen ArbeiterInnen und Staat, sondern formte auch die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen sich der Stalinismus entwickeln konnte.
In der frühen NEP-Zeit konnten die Brüche – trotz der vielen Entbehrungen – tendenziell wieder gekittet werden. ArbeiterInnen wandten sich an ihre VertreterInnen in den Fabrikskomitees und die gewerkschaftlichen Institutionen; sie beteiligten sich an den Massenversammlungen; sie streikten und erwarteten dabei (realistischerweise) die Unterstützung von Partei und Staat. Mitte der 1920er konnte ein Kompromisszustand durchgesetzt werden, in dem in (gewerkschaftlichen) Vermittlungsinstanzen die Anliegen der ArbeiterInnen ausverhandelt wurden. Der „Waffenstillstand“ zwischen Staat und Klasse konnte die Militanz der ArbeiterInnen abschwächen und die Beteiligung an und das Vertrauen in die Sowjet-Institutionen verlieh dem Fabriksregime einen entscheidenden Grad an Legitimität.
Dieser ausgehandelte Kompromiss wurde in der späten NEP-Zeit durch das Projekt nationaler ökonomischer Entwicklung – kombiniert mit der tiefen sozialen Krise – ausgehöhlt. Durch die Angst vor Arbeitslosigkeit und das schwindende Vertrauen in kollektive Aktion gerieten die ArbeiterInnen in die Defensive. Spaltungen innerhalb der Klasse nahmen zu und die Gewerkschaftsführer traten den „organisierten Rückzug“ an. Zunehmend wurden die betrieblichen Strukturen von Partei und Gewerkschaft in Instrumente der produktivistischen Industrialisierungsstrategie überführt. Dennoch blieben die meisten ArbeiterInnen gegenüber „ihren“ Organisationen loyal. Es war diese Loyalität und das Vertrauen in die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht, und nicht staatliche Repression, die zum Abklingen der Militanz der ArbeiterInnen führte. Die widersprüchliche Rolle der Gewerkschaften – einerseits als Institutionen zur Verteidigung der ArbeiterInneninteressen, andererseits als staatlich geführte Institutionen – brach mit der Offensive des Regimes gegen die ArbeiterInnenklasse gegen Ende der NEP voll auf. Die Rhetorik des Regimes konnte keine aktive Zustimmung mehr organisieren; der Staat verließ sich mehr und mehr auf den sozialen Druck loyaler Parteikader zur Einschüchterung ihrer KollegInnen, den gezielten Einsatz der staatlichen Kontrolle über die Lebensmittel als Disziplinierungswaffe, und die Repression gegen Oppositionsströmungen.
Im Zuge des ersten Fünf-Jahres-Plans schließlich wurden die letzten Reste von ArbeiterInnenkontrolle beseitigt. Der Sieg des Stalinismus war deshalb weder logische Folge noch Kulminationspunkt von 1917, sondern Endpunkt einer Konterrevolution, in der sich die kapitalistische Akkumulationsdynamik gegen eine Form gesellschaftlicher Organisierung basierend auf den Bedürfnissen der Menschen durchsetzte.
Dieser Degenerationsprozess kann nicht allein auf „objektive“ Umstände zurückgeführt werden. Die gängige Argumentation der sozialistischen Linken im Gefolge Trotzkis und Lenins, die behauptet, die Desintegration der ArbeiterInnenklasse im Bürgerkrieg habe zur paradoxen Situation geführt, in der die bolschewistische Partei einen ArbeiterInnenstaat kontrollierte, dem seine soziale Basis abhanden gekommen war, ist nicht länger haltbar. Viel eher ginge es darum, die politischen Fehler der Oppositionsströmungen der 1920er zu benennen und sich nicht auf linke Glaubensbekenntnisse zurückzuziehen, die mehr der eigenen Identitätsstiftung als der historischen Aufarbeitung dienen.

Anmerkungen

1 Koenker, Diane P.: Republic of Labor. Russian Printers and Soviet Socialism, 1918-1930, Ithaca/London 2005, 2
2 Zur Regierungsbildung vgl. detailliert Rabinowitch, Alexander: The Bolsheviks in Power. The First Year of Soviet Rule in Petrograd, Bloomington/Indianapolis 2007, Kap. 1
3 Murphy, Kevin: Revolution and Counterrevolution. Class Struggle in a Moscow Metal Factory, New York/Oxford 2005, 82
4 Smith, Steve: The Russian Revolution. A very short introduction, Oxford 2002, 48
5 Kadetten, Abkürzung für „Konstitutionelle Demokraten“; bürgerlich-liberale Strömung.
6 Lenin, Wladimir I.: Rede im Moskauer Sowjet der Arbeiter-, Bauern- und Rotarmistendeputierten (23. 4. 1918), in: Werke Bd. 27, Berlin 1974, 219-224, hier 220f
7 Chamberlin, W. H.: The Russian Revolution, Princeton 1987, Bd. 2, 171; vgl. Lincoln, Bruce W.: Red Victory. A History of the Russian Civil War 1918-1921, New York 1999; Foglesong, David S.: America’s Secret War against Bolshevism. US Intervention in the Russian Civil War, 1917-1920, Chapel Hill 1995.
8 Read, Christopher: From Tsar to Soviets. The Russian people and their revolution, 1917-21, London 1996, 292
9 Haynes, Mike: Russia. Class and Power, 1917-2000, London 2002, 50
10 Lenin urteilte im Rückblick: „Der ‘Kriegskommunismus’ war durch Krieg und Ruin erzwungen. Es war keine Politik, die den wirtschaftlichen Aufgaben des Proletariats entsprach, und konnte es auch nicht sein. Er war eine zeitweilige Maßnahme.“ (Über die Naturalsteuer. Die Bedeutung der neuen Politik und ihre Bedingungen, in: Werke Bd. 32, Berlin 1972, 341-380, hier 355)
11 Smith, a.a.O., 49
12 Haynes, a.a.O., 49
13 Smith, a.a.O., 76f
14 Lars Lih sieht darin mehr Kontinuität als Bruch im Vergleich zur späteren Neuen Ökonomischen Politik und hinterfragt daher auch die Sinnhaftigkeit des Begriffs „Kriegskommunismus“. (Bread and Authority in Russia, 1914-1921, Berkeley 1990)
15 Lih, a.a.O., 260
16 Smith, a.a.O., 80
17 Koenker, a.a.O., 33
18 Osinskij, N.: Über den Aufbau des Sozialismus (1918), in: Kool, Frits/ Oberländer, Erwin (Hg.): Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Freiburg i. Br. 1967, 92-126, hier 101, 103, 106, 107
19 Vgl. dazu die Debatte am 9. Parteitag 1920, insbesondere die Beiträge der Linkskommunisten gegen „bürgerliche Spezialisten“, und die Kritik der Arbeiteropposition an der Aushöhlung der ArbeiterInnendemokratie.
20 Koenker, a.a.O., 30
21 Ebd., 29
22 Ebd., 35
23 Diese Formulierungen sind wörtlich übernommen aus den Beschlüssen des ersten Allrussischen Gewerkschaftskongresses vom Jänner 1918. Die Aufgabe der Gewerkschaften sollte sich nach Lenin und Co. nicht auf die Leitung der Wirtschaft konzentrieren sondern auf die pädagogische Aufgabe der (moralischen, politischen) „Erziehung“ der Massen beschränken (allerdings nicht im Sinn der Opposition durch praktische Erfahrungen in der Schaffung neuer Wirtschafts- und Produktionsformen).
24 Haynes, a.a.O., 51
25 Neben der Verwurzelung in der Bevölkerung waren noch zwei weitere Faktoren wichtig: das Bekenntnis zum „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ und die Meutereien in der kriegsmüden alliierten Armee.
26 Zit. n. Pipes, Richard: The Russian Revolution, London 1992-93, 97.
27 Koenker, a.a.O., 18
28 Smith, a.a.O., 54
29 Cliff, Tony: Revolution und revolutionäre Organisation. Das Verhältnis von Partei und Klasse bei Trotzki (1960/1974), http://www.sozialismus-von-unten.de/is/archiv/cliff/substitutionismus.html
30 Rabinowitch, a.a.O., 60
31 Smith, a.a.O., 69
32 Ebd., 67
33 Zit. n. Cliff, a.a.O.
34 Kollontaj, Alexandra: Die Arbeiteropposition (1921), in: Kool/Oberländer, a.a.O., 182-240, hier 184
35 Vgl. Cliff, a.a.O.
36 „Wir fürchten die Eigeninitiative der Massen, wir fürchten, der schöpferischen Tätigkeit der Klasse Spielraum zu geben, wir fürchten die Kritik, wir haben aufgehört, den Massen zu vertrauen – von da her kommt unser ganzer Bürokratismus.“ (Kollontaj, a.a.O., 229f)
37 Vgl. Murphy, a.a.O.
38 Vgl. Koenker, a.a.O., am Beispiel der MetallarbeiterInnengewerkschaft und der Moskauer Druckindustrie.
39 Murphy, a.a.O., 83
40 Koenker, Diane: Labor relations in Socialist Russia. Class values and production values in the Printers’ Union, 1917-1921, in: Siegelbaum, Lewis H. et al. (Hg.): Making Workers Soviet. Power, Class, and Identity, Ithaca 1994, 159-193, hier 192
41 Murphy, Kevin: Can we write the history of the Russian Revolution?, in: Historical Materialism 15:2 (2007), 3-19, hier 15. Im Kontrast dazu wurden in den USA unter Präsident Wilson allein während der acht Wochen dauernden antikommunistischen Razzien 1919-1920 mehr als 5.000 ArbeiterInnen arretiert – mehr als in Russland während den acht Jahren der NEP-Zeit.
42 Koenker, Republic of Labor, a.a.O., 141
43 Murphy, Kevin: The light that hasn’t failed. An interview with Kevin Murphy, in: International Socialism 110 (2006), 153-166, hier 157f
44 Murphy, Revolution and Counterrevolution, a.a.O., 82
45 Ebd., 99
46 Haynes, a.a.O., 60ff
47 Pirani, Simon: The Party Elite, the Industrial Managers and the Cells. Early Stages in the Formation of the Soviet Ruling Class in Moscow, 1922-23, in: Revolutionary Russia 19:2 (2006), 197-228, hier 199, 214
48 Ebd., 202
49 Ebd., 200
50 Ebd., 203
51 Murphy, a.a.O., 114
52 Ebd., 87
53 Ebd., 226
54 Ebd., 133
55 Ebd., 102f
56 Ebd., 104
57 Ebd., 95
58 Ebd., 99
59 Ebd., 106
60 Ebd., 227, 193; Haynes, a.a.O., 88
61 Haynes, a.a.O., 73
62 Murphy, a.a.O., 187
63 Cliff, Tony: Staatskapitalismus in Russland. Eine marxistische Analyse, Frankfurt 1975
64 Murphy, a.a.O., 186
65 Ebd., 194
66 Ebd., 178
67 Ebd., 178
68 Haynes, a.a.O., 88f
69 Ebd., 109
70 Vgl. Rossman, Jeffrey J.: Worker Resistance Under Stalin. Class and Revolution on the Shop Floor, Cambridge 2005
71 Es existierten mehrere kleine oppositionelle Gruppierungen – diese waren jedoch meist kurzlebig oder gingen, gar nicht selten, in der Linken Opposition auf.
72 Marot, John Eric: Trotsky, the Left Opposition, and the Rise of Stalinism, in: Historical Materialism 14:3 (2006), 175-206
73 Smith, a.a.O., 111
74 Marot, a.a.O., 179
75 Ebd., 175
76 Ebd., 182
77 Ebd., 181. Wenn Trotzki in Bausch und Bogen behauptete, „daß jeder ernsthafte Fraktionskampf in einer Partei letztlich immer eine Widerspiegelung des Klassenkampfes ist“, so grenzt das an vulgär-materialistische Interpretationen, die politische Positionen als geradliniges Produkt der jeweiligen materiellen Bedingungen verstehen. (Cliff, a.a.O.)
78 Marot, a.a.O., 178
79 Ebd., 181
80 Ebd., 182
81 Ebd., 195