Faschismus und Ideologie - uneingeholt

in (19.05.2009)

Berlin, April 1988 – Für ein Semester bin ich nach Berlin gezogen. Als Gasthörer
wollte ich unbedingt in die Kritische Psychologie eintauchen und soviel wie möglich
bei Klaus Holzkamp lernen. Heiner Keupp, der Holzkamp kannte, schrieb diesem
von meinem Plan und empfahl mich. Völlig enttäuscht sitze ich nun in einem Café
in der Kantstraße (schräg gegenüber dem Schlüterkino): Noch vor Vorlesungsbeginn
war ich an der FU, um dort in den verwinkelten Gängen die Aushänge zu finden, mit
deren Hilfe ich meinen Stundenplan basteln konnte. Kein Angebot von Holzkamp! Ich
zieh’ extra von München nach Berlin und Holzkamp hat ein Forschungssemester. Da
Ärger und Enttäuschung bei mir zu aggressiver Arbeits- und Leistungswut »ausarten«,
packte ich zwei Bände aus dem Argument Verlag in meinen Lederrucksack und suchte
besagtes Café auf. Um Faschismus und Ideologie zu lesen, musste man beide Bände
mitnehmen, weil die Texte der nicht unwichtigen Fußnoten des ersten Bandes am Ende
des zweiten zu finden sind. Mit diesem Zusatz-Ärger ausgerüstet fange ich an zu lesen.
Ich lese und lese und kann nicht mehr aufhören. Nach zwei Wochen sind die beiden
Bände ausgelesen, die Seiten übersät mit Anmerkungen und unzählige Zeilen sind
unterstrichen sowie mit Ausrufezeichen und Farben versehen.

Das Neue
Schon das Vorwort von Faschismus und Ideologie war unerhört: »Das Studium
der Bildungsweise der faschistischen Formationen verhilft zu einem besseren
Verständnis der Handlungsmöglichkeiten eines fortschrittlichen Blocks« (22; zitiert wird nach der Seitenzahl des 2007 neu herausgegeben Bands, PIT 2007), und:
»Tatsächlich stoßen wir im Faschismus auf eine enorme Intensivierung des Ideologischen
und tatsächlich gibt es kein Element faschistischer Ideologie, das spezifisch
faschistisch wäre« (23). Nicht nur, dass die Autoren für die Analyse dessen, was
»Drittes Reich«, »Nazizeit« oder »die braunen 12 Jahre« genannt wurde, den Standpunkt
einer eingreifenden Wissenschaft postulieren; sie schlagen auch all denen, die
sich sicher waren, den Faschismus identifizieren zu können (als extreme Form des
Monopolkapitalismus beispielsweise), mit dieser Sicherheit auch deren unzulängliches
Handwerkszeug aus den Händen. Doch was für eine bedachte Analyse der
ideologischen Formationen im Faschismus gelten soll, gilt auch für dieses Handwerkszeug:
Es soll nicht verworfen, sondern anders angesetzt, feiner justiert und
kooperativ-streitend eingesetzt werden. Dazu gehört vor allem, dass das PIT sich
auf das zu bearbeitende Material einlässt. Das beginnt bei den Texten marxistischer
sowie bürgerlicher Faschismusforscher und geht hin bis zur Wirkungsweise von
Kameraeinstellungen im Reichsparteitagsfilm Triumph des Willens (1934) von
Leni Riefenstahl. Man muss diese Detailstudien lesen, um verstehen zu können,
wie verstörend und gleichzeitig faszinierend Aufklärung sein kann. Ein Beispiel
mag das illustrieren: Die Rede Adolf Hitlers zum Ersten Mai 1933 kann man heute
von jeder Neonazi-Homepage herunterladen. Ich habe sie in einem Seminar zum
Thema »Faschismus und Erinnerung« den Teilnehmenden vorgespielt (jedes halbe Jahr besuchen ca. 30 Psychologiestudierende aus dem 3. Semester diese Sozialpsychologie-
Veranstaltung, die ich als Gastprofessor am dortigen PI anbiete). Bei einer
ersten Auswertung liest man: »Eklige Sprache, Hass, unverständliches Gebrülle,
Fantasien über das hochstehende deutsche Volk etc.« Fast jede intuitiv geschriebene
»Reaktion« auf das gesprochene Wort Hitlers beinhaltet zudem die Frage, wie die
Menschen damals auf eine solche Rede positiv reagieren, wie sie so was unterstützen
und bejahen konnten. Dann lesen wir als nächsten Schritt im Seminar aus Faschismus
und Ideologie
das Kapitel »Ideologische Transformationsarbeit in Hitlers Rede zum
Ersten Mai 1933«; zuerst jede/r für sich, dann in der Gruppe und dann im Plenum.
Alle Fragen werden gesammelt und erste Antworten gesucht. Das theoretische
Vokabular des PIT, das anfangs als »unverständlich« und als »viel zu kompliziert«
abgewertet wird, geht durch die Art und Weise, wie Hitlers Textmaterial – heute
würde man sagen – »dekonstruiert« wird, den Studierenden in Fleisch und Blut über.
Nach zwei ganzen Tagen intensiver Sprach-, Geschichts- und Subjektanalyse hören
wir uns die Rede Adolf Hitlers erneut an. Bei all dem Entsetzen darüber, wie »klug«
Hitler seine Rede für diesen historisch bedeutsamen Anlass konzipierte, überwiegt
gleichzeitig die Freude darüber, etwas Bedeutsames und Entscheidendes verstanden
zu haben. Übertragen werden die Erkenntnisse dann auf die Wahrnehmung der
eigenen politischen Landschaft: Scheinbar plötzlich »verstehen« die österreichischen
Studierenden die Inhalte der Reden eines Jörg Haider und wie er in den letzten 25
Jahren damit erfolgreich sein konnte. Die Empörung über dessen neofaschistische
Politik und die »anderen«, die ihn wählen, weicht der aufmerksam-geduldigen Sichtung
des Materials, und seine »Auswertung« bezieht sich – mit Gramsci gedacht als
»besseres Verständnis der Handlungsmöglichkeiten eines fortschrittlichen Blocks«
– auf die Möglichkeiten studentisch-politischen Handelns in Bezug auf neofaschistische
Formations- und Diskursprozesse.
Am Ende des Vorworts ist zu lesen, das PIT und seine Faschismusanalyse stelle
»keinen Bruch dar«, sondern sei eine »ergänzende Hinwendung zu einem bisher
vernachlässigten, dabei zentralen Bereich« (27). Ich war im Jahr 1988 parteipolitisch
zu unerfahren, um zu verstehen, welche Brisanz das Projekt Ideologietheorie für die
fortschrittlichen Kräfte der BRD hatte. Der Bruch, von dem im Vorwort von 1980
die Rede war, betraf die DKP und die ihr verbundenen marxistischen Intellektuellen.
Viele von ihnen warfen dem PIT vor, von marxistischer Faschismustheorie abzuweichen.
Meine Leseweise dieses Bruchs ist eine andere: Der Vorgang des Brechens mit
etwas, den man als Bruch bezeichnen kann, ist ebenso zu denken als Herausbrechen
eines Materials oder eines Gegenstands aus einem erratischen Block (vgl. Kluge
1975, 103). Das Lesen von Faschismus und Ideologie kann beides bewirken: Einerseits
birgt es die Möglichkeit, mit den alten Vorstellungen, dem sicher Gedachten zu
brechen, es abzubrechen und Neues in Angriff zu nehmen. Andererseits gelingt das
Neue nur durch das Lösen des Materials aus seinem alten Zusammenhang und dem
behutsamen Versuch, es erst probeweise, tastend und vorläufi g zu einer Denk- und
Handlungsalternative zu bilden. In diesem Sinne war und bleibt Faschismus und
Ideologie
ein radikaler Bruch mit dem Alten.

Das Ideologische
Interessanterweise wird Faschismus und Ideologie in der Standardliteratur zum Thema
Faschismus selten – meist aber gar nicht – erwähnt. Das ist deshalb umso erstaunlicher,
weil viele Widersprüche, Fragestellungen und Problematiken, deren theoretische
Durchdringung als Zukunftsaufgabe von Historikern behauptet wird, in den Arbeiten des
Projekts Ideologietheorie – wenn auch nicht immer zu Ende gedacht – in einem Ausmaß
thematisiert werden, dass die Ignoranz gegenüber diesem Projekt andere Gründe
haben muss denn fachliche. Wenn man die Kontroverse zwischen Intentionalisten und
Funktionalisten – also die Auseinandersetzung darüber, ob die Ideenwelt Hitlers und
der Nazis oder die strukturellen Eigendynamiken des Systems den Holocaust besser
erklären kann – nachvollzieht (vgl. Browning 2001, 11ff); wenn man die Überlegungen
zum Primat von Ideologie oder Handeln, zu subjektiven Handlungsvoraussetzungen
oder objektiven Bedingungen (vgl. Welzer 2005) oder Ausführungen zum Verhältnis
von Ökonomie zu Politik und Ideologie in der aktuellen Literatur zu Faschismus liest,
so kann die theoretische Leistung des PIT als bislang uneingeholt bezeichnet werden.
Zwei Punkte dieser Leistung scheinen mir besonders erwähnenswert.
1. Da ist zum einen die Fähigkeit, die oben genannten scheinbar unvereinbaren
Widersprüche über die kluge Fassung des Ideologiebegriffs in einen komplexen
Rahmen zu integrieren, sodass diese Widersprüche der faschistischen Politik nicht
als sich ausschließende, sondern als sich geradezu bedingende und damit das faschistische
System stabilisierende Pole verstanden werden können. Das Ideologische
wird dabei nicht als ein irgendwie geartetes Ideengebäude verstanden, sondern als
die »Dimension einer Vergesellschaftung von oben, die sich durch unterschiedliche
gesellschaftliche Ebenen hindurchzieht [und als utopischen] Gegenbegriff ... die
Perspektive einer ›Selbstvergesellschaftung der Menschen im Sinne einer gemeinschaftlich-
konsensuellen Kontrolle der gesellschaftlichen Lebensbedingungen‹«
(Rehmann 2004, 750) erheischt. Im Mittelpunkt des Ideologiebegriffs steht also
der Zusammenhang von subjektiver Aneignung gesellschaftlicher Prozesse in der
herrschaftsförmigen Ausprägung dieser Prozesse selbst. In den Untersuchungen
des PIT zu diesen Vergesellschaftungsprozessen im Faschismus werden deshalb die
»ideologischen Dispositive, Praxen und Rituale« (753) des faschistischen Parteiund
Staatsapparats in den Mittelpunkt gestellt, weil sie die Bedingungen darstellen,
die den »Umbau [der] psychosozialen Verfassung« (Welzer 2005, 58) der Subjekte
ermöglichen und nahe legen.
2. Zum anderen gibt die ideologietheoretische Analyse des (deutschen)
Faschismus die sozialistische Zielvorstellung einer gemeinschaftlichen Aneignung
unserer Welt nicht preis zugunsten einer Propagierung des autonomen Individuums
als Bollwerk gegen faschistische Verführung. Harald Welzer, der m.E. eines der
fundiertesten Bücher zur Frage der Psychologie des Massenmords geschrieben hat,
tappt wie viele andere exakt in diese Falle, wenn er am Schluss seiner sozialpsychologischen
Täteranalyse schreibt:
"Unser etwas naives Vertrauen in die Aufklärung hat uns allzu leicht übersehen lassen,
dass Freiheit und Autonomie durchaus nicht als Entlastung empfunden werden können,
sondern im Gegenteil als Belastung, Entscheidungsstress, Angst vor Verantwortung.
Diese Belastung erzeugt bei nicht wenigen Menschen ein chronisches Bedürfnis nach
Aufgehobensein, danach, für das eigene Leben nicht verantwortlich zu sein. ... Das
Bedürfnis nach kollektivem Aufgehobensein und nach Verantwortungslosigkeit enthält
... das größte Potenzial zur Unmenschlichkeit. Ganz offensichtlich haben die zwei-,
dreihundert Jahre der aufklärerischen Erziehung des (westlichen) Menschengeschlechts
ziemlich wenig an jener psychischen Eigenschaft hervorgebracht, die an die Stelle der
fraglosen Einfügung in Gruppen treten sollte: Autonomie." (2005, 267f)
Welzers Schlussfolgerung, dass Autonomie (die wiederum als Folge einer
geglückten und bindungsorientierten Erziehung dargestellt wird) gegen faschistisches
und grundsätzlich gegen verbrecherisches Handeln immun mache, entspringt
zum einen seinem Kardinalfehler, den deutschen Faschismus ohne ökonomische
und gesellschaftstheoretische Zusammenhänge erklären zu wollen und zum anderen
seinem daraus resultierenden Glauben, die Nazis hätten die »Gemeinschaft« antiindividualistisch artikuliert. Weil aber – wie Welzer selbst betont – der Mensch ein
gesellschaftliches Wesen ist, muss die Frage doch danach gestellt werden, wie wir
Menschen uns vergesellschaften, ohne dass einem von uns ein Haar gekrümmt wird,
und nicht danach, wie wir vor jeder Gemeinschaft in die Autonomie fl iehen können.
Das PIT hat für die Bearbeitung dieser Problematik den Begriff der »entfremdeten
Gemeinschaftlichkeit« entwickelt. Wenn eine gerechte Gesellschaft nur in Gemeinschaft
mit anderen erkämpft und erstritten werden kann, dann hat es keinen Sinn,
die faschistischen Praxen der Gemeinschaftsbildung per se zu verurteilen. Die
Erforschung der spezifi schen Gemeinschaftsbildung bspw. in der HJ und in anderen
Nazi-Organisationen macht es möglich, die Form der Gemeinschafts-Bildung im
Faschismus verstehen und kritisieren zu können, ohne auf das Gemeinschaftsbildende
im politischen Kampf von links verzichten zu müssen. Im fünften Kapitel
von Faschismus und Ideologie (Die Erziehung des faschistischen Subjekts) wird
gezeigt, wie Kinder und Jugendliche die HJ und vor allem die HJ-Lager als Erweiterungen
ihrer Handlungsmöglichkeiten (gegen die spießige Familienidylle; gegen
den sonntäglichen Kirchgang etc.) erleben. Gemeinschaftliches Erleben und Lernen
unter fremdgesetzten Bedingungen, die jedoch als Befreiungs-Rahmen gegenüber
der bürgerlichen (und auch proletarischen) Alltagswelt erlebt werden, wird von den
Jugendlichen als Kompetenzzuwachs empfunden. Dass und wie dieser Kompetenz-
Zuwachs in einer Gesamtstruktur von »Inkompetenz« (keine Verfügung über die
eigene Zeit, über die Formen von Konkurrenz und Kooperation etc.) dazu beiträgt,
dass die jugendlichen Subjekte sich ideologisch in den Staatsapparat einordnen
– keine andere Studie zu Geschichte und Funktion der HJ hat den Prozess der
entfremdeten Vergemeinschaftung analytisch so klar durchdrungen wie die Arbeit
des PIT.

Das Subjektive
München, Januar 2009 – Als ich zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz
mit einer bayerischen DGB-Delegation im Stammlager von Auschwitz war, fragte
die stellvertretende DGB-Vorsitzende unseren »Guide« Janusz vorwurfsvoll, wieso
in den Ausstellungen denn nur von den polnischen, jüdischen und sowjetischen
Opfern zu lesen sei und nichts von den Tätern. Es sei doch für die Besucher eine
wichtige Frage, wieso das alles passiert sei und wer dahinterstecke. »Ja, das
stimmt«, erwiderte er. »Aber das ist eure Sache, sich um die Täter zu kümmern«,
schloss er trocken. Es fällt auf, dass fast alle Täter-Biographien nicht von Deutschen
geschrieben sind. Peter Longerich, ein englischer Historiker, dessen Geschichte
der SA, Die braunen Bataillone, ich ebenso verschlungen habe wie ein Buch zur
Frage des Wissen-Könnens der Judenvernichtung in Deutschland (Davon haben wir
nichts gewusst!
, 2006), hat kürzlich eine Himmler-Biographie vorgelegt (2008). An
einer Stelle kommt er auf Himmlers psychische Konstitution – insbesondere seine
»Bindungsschwäche« – zu sprechen und erklärt sie zum »biografi schen Schlüssel
für seine Begeisterung für das Militär und ... für sein späteres Engagement in der
paramilitärischen Bewegung« (46):
"Die Ursachen für das Phänomen der Bindungsschwäche, so sagen die Psychologen, liegen
in der frühen Kindheit, in mangelnder Zuwendung und Spiegelung durch die Mutter .
... Wo auch immer die Ursachen für seine Schwierigkeiten im Umgang mit anderen
lagen: Sie waren ein Problem, das ihn zeit seines Lebens begleiten sollte." (46f)
Später bezieht sich Longerich auf Klaus Theweleits Männerphantasien (1977/78),
wenn er Himmlers Vorliebe für die »weiße Krankenschwester« als »Inbegriff der
Vermeidung aller erotisch/bedrohlichen Weiblichkeit« (59) beschreibt. Selbstverständlich
spielen die Weiblichkeits- und Männlichkeitsmuster der Freikorpssoldaten
eine wichtige Rolle bei der Erklärung faschistischen Handelns. Doch weder triebnoch
bindungstheoretische Modelle – die zumeist absehen vom Zusammenhang
subjektiver Befi ndlichkeiten und gesellschaftlicher Verhältnisse – können zeigen,
wie die im Alltagsleben stattfi ndende, »selbsttätige Einordnung der Individuen in
die gesellschaftlichen Verhältnisse«, umrahmt von »repressiver Staatsgewalt«
(25), stattfi ndet. So reden Psychologen und Psychoanalytiker von verfehlten und
unglücklichen Kindheiten anstatt von beidem: Von diesen Kindheiten und den gesellschaftlich
Verhältnissen, in denen aus Kindern Massenmörder werden können.

Der Standpunkt
Wie aber kann das Studium faschistischer Politiken und Formierungen dazu
beitragen, die »Handlungsmöglichkeiten eines fortschrittlichen Blocks« erweitern
zu helfen? Am Beispiel der österreichischen Studierenden ist es bereits angesprochen
worden. Erstens: Auch wenn Martin Walser und das Feuilleton der FAZ glauben,
dass zum Deutschen Faschismus bereits alles gesagt sei, so reicht nach wie vor
die einfache Frage, »War dein Opa ein Nazi?«, oder »Was haben deine Großeltern
›damals‹ gemacht?«, um das geschichtliche Material aus den Tiefen der Subjektivität
und der Familiengedächtnisse in den aktuellen Diskussionszusammenhang zu holen.
Zweitens: Die Beschäftigung mit dem wirklichen »Material« (Bücher, Archivalien,
Oral History etc.) macht deutlich, dass das scheinbar Irrationale der faschistischen
Vernichtungspolitik, die nicht selten für den Faschismus selbst genommen wird,
erklärt werden kann; die Einzigartigkeit des Holocaust darf nicht darüber hinwegtäuschen,
dass die Handelnden Menschen waren und ihr Handeln deshalb mit
subjektwissenschaftlichen Kategorien aufzuschlüsseln ist. Jede Mystifizierung,
jedes Beharren auf der Unerklärbarkeit des Faschismus setzt der Aufklärung über
historische Entwicklungen ein Ende und verstellt die Frage nach den Tätern, den
Opfern und den Zuschauern (Raul Hilberg). Drittens: Das von allen Parteipolitikern
in Gedenkreden gedankenlos dahingesagte »Nie wieder!« und »Wir müssen aus der
Geschichte lernen!« erfährt in der aktiven Auseinandersetzung mit dem historischen
Material die Möglichkeit, danach zu fragen, was diese Appelle konkret für heute
bedeuten können. Weil Faschismus eine Geschichte hat, birgt er Geschichten, die
heute und morgen ähnlich gemacht werden oder geschehen können. Der Pfarrer
Hellmut Traub, der zwischen 1904 und 1994 lebte, war mehrfach in KZs eingesperrt
– 1936 auch für einige Monate in Dachau –, weil er Pässe, Lebensmittelmarken
und Visa für Juden fälschte. 1985 entspann sich zwischen ihm und dem Publikum
folgender Dialog in der Versöhnungskirche, die auf dem KZ-Gelände in Dachau
steht:
Traub: Was Ihnen vielleicht unverständlich ist: Man kann die Geschichte nicht aufarbeiten.
Was heute so Mode ist bei euch Jungen: die Geschichte aufarbeiten – das ist doch
Blech. Die Geschichte kann man nicht aufarbeiten. Die Geschichte sitzt in uns, wir sind
selber ein Produkt der Geschichte.
Frage aus dem Publikum: Aber was sind die Lehren aus der Geschichte?
Traub: Lehren? Entschuldigen Sie, wenn Sie Geschichte ein bisschen lernen, dann lernen
Sie hoffentlich das eine: dass man aus der Geschichte nichts lernen kann. Nichts! ...
Heute hab ich die Ohren aufzumachen, heute muss ich leben! Heute muss ich entscheiden
– nicht danach, wie es 33 war.
Frage: Aber kann ich das mit Hilfe der Geschichte nicht besser?
Traub: Ja, das weiß ich auch nicht so ganz genau. Sehen Sie mal, ich unterrichte seit
dreißig Jahren Kirchengeschichte, als Wissenschaftler gewissermaßen. ... Ich glaube, das
einzige, was einem die Geschichte beibringen kann, ist, dass man so wach wird, wie man
kann. ... Die Geschichte – gibt’s die überhaupt? Das ist doch das, was auf uns zukommt,
was zufällig von dem und jenem gesehen wird. Irgendeiner ist plötzlich hochgespült
worden. ... Oft erst nachträglich – nachträglich! – merken wir: Die Geschichte gibt es gar
nicht; das ist ein Irrtum. Wir sind seit zweihundert Jahren alle krank daran, dass wir meinen,
es gäbe die Geschichte. Es gibt aber das, was wir und die Menschen neben uns getan
haben, und es gibt jetzt den Augenblick, einen neuen Augenblick. ... Und da wiederholt
sich auch nichts! ... Die gefährlichsten Sachen kommen in den schönsten Gestalten auf
uns zu. Das isses ja gewesen! Die herrlichen Gestalten, die verführerisch schön sind. Da
muss man die Witterung haben, die Nase aufmachen: Das stinkt ja da drin! Die herrlichen
Worte, die auf einen einströmen – da ist der Teufel drin, der macht die schönsten Sachen.
Deshalb muss man so wach werden ...


Traub setzt darauf, dass die neuen Formen und Formationen von Verhältnissen, die
Menschen demütigen, kränken und verletzen, sie zu Sklaven machen und schließlich
der Vernichtung preisgeben, in solidarischen Diskussionen, Streitgesprächen und
Auseinandersetzungen erkannt und bekämpft werden können. Nicht das zufriedene:
Wir Deutschen sind »jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche
Gesellschaft« (Walser 1998) und »Wir haben aus der Geschichte gelernt«, ist ihm
Leitschnur, sondern eine zukünftige, gerechte Gesellschaft. In der Sprache des PIT:
»Historischer Ausgangspunkt wie Fluchtpunkt der Analyse ist die Selbstvergesellschaftung
der Menschen im Sinne einer gemeinschaftlich-konsensuellen Kontrolle
der gesellschaftlichen Lebensbedingungen.« (24) Die Autor/innen von Faschismus
und Ideologie
setzen nicht darauf, dass wir als Lesende zufriedengestellt werden
mit und in unseren Arbeits- und Lebensweisen in der bürgerlichen Gesellschaft;
sie konfrontieren uns vielmehr mit dem Problem, dass die Verhältnisse, in denen
wir uns auch wohlfühlen wollen, die Voraussetzung für eine erneute Faschisierung
des Gesamten sind. Gleichzeitig ist diesen vor mehr als 20 Jahren geschriebenen
Analysen anzumerken, wie sehr die utopische Perspektive einer »besseren« – also
sozialistischen – Gesellschaft präsent ist. Die theoretischen Zuspitzungen kreisen
immer auch um die Frage, wie die Subjekte sich so organisieren können, dass sie
– sich befreiend aus Knechtschaftsverhältnissen und Fremdbestimmung – in die
Lage versetzt werden, sich ihr Leben so anzueignen, dass Herrschaft verwandelt
wird in gemeinschaftliche Verfügung über die Lebensbedingungen. W.F. Haug fasste
diese utopische Zielsetzung in die Worte:
"Links ist kein Spaß, der keine Mühe macht, sondern die Mühe um die Entwicklung und
Hegemoniegewinnung eines Projekts solidarisch-ökologischer Vergesellschaftung; eine
Mühe, die auch Spaß machen kann, aber zunächst wirklich Mühe ist: Links ist alles Handeln,
das Welt aus dem Reich des Privateigentums zurückgewinnt, ohne sie dem Reich
des Staatsapparats auszuliefern." (1997, 20)
Ausgangs- und Zielpunkt jeglicher Untersuchung von Herrschaftsverhältnissen
(nicht nur der immer wieder notwendigen Faschismusanalyse) ist »eine Gesellschaft
der individuellen Freiheit, in der jede und jeder in sozial gleicher Weise an den
Bedingungen eines selbstbestimmten Lebens in sozialer Sicherheit und Solidarität
teilhaben kann« (Klein 2008, 49).

Literatur
Browning, Christopher, Judenmord. NS-Politik, Zwangsarbeit und das Verhalten der Täter,
Frankfurt/M 2001
Haug, Wolfgang Fritz, »Was ist heute noch links?«, in: Konkret 10, 1997, 20
Klein, Dieter, Krisenkapitalismus. Wohin es geht, wenn es so weitergeht, Berlin 2008
Kluge, Friedrich, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (Stichwort: Bruch),
Berlin/New York 1975
Longerich, Peter, Heinrich Himmler. Biographie, München 2008
PIT = Projekt Ideologietheorie, Faschismus und Ideologie (1980), neu hgg. v. K.Weber,
Hamburg 2007
Rehmann, Jan, »Ideologietheorie«, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus Bd. 6/I, 17-60
Walser, Martin, »Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. Dankesrede von Martin
Walser zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter
Paulskirche am 11.Oktober 1998« (http://www.uni-tuebingen.de)
Welzer, Harald, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt/M
2005