Neue Kriegsgefahren?

Der Nachrichtensprecher berichtete über den neuerlichen Atombombenversuch
Nordkoreas. Er redete von »kommunistischer Diktatur« und sprach
»kommunistisch« sehr nuanciert aus, so als seien alle, die jemals als Kommunisten
zu bezeichnen waren, in Haftung zu nehmen für das, was dort geschieht;
gleichsam die Fortsetzung der Anti-DDR-Kampagne dieses Jahre mit anderen Mitteln.

Dann die Mitteilung »der Diktator« habe die Atomexplosion
und die anschließenden Raketenstarts angeordnet. Zugleich wird allenthalben
betont, Nordkorea sei das am besten abgeschottete Land der Welt.
Niemand weiß, ob dieser Kim Jong-il überhaupt noch die Fäden in der Hand
hat. Das Land wird auch er nicht allein regieren können; um ein Land mit über
zwanzig Millionen Menschen regieren zu können, bedarf es der Staatsbürokratie,
einer Polizei und so weiter. Selbst Stalin hinterließ kein Vakuum der
Macht. Also erklärt die mediale Fokussierung auf diesen Menschen auch in
Bezug auf Nordkorea im Grunde nichts. Aber können wir von Europa aus
überhaupt wissen, was dort geschieht? Im Moment gibt es wahrscheinlich nur
einige Teile eines Puzzles. Einige sollten näher angeschaut werden.
Im Kontext des Kalten Krieges gab es drei geteilte Länder: Vietnam, Deutschland
und Korea. In Vietnam feierte die sozialistische Seite am 1. Mai 1975
ihren vollständigen Sieg; sie hatte im Gefolge des Vietnamkrieges die Einheit
des Landes zu ihren Bedingungen hergestellt. In Deutschland fiel am 9. November
1989 die Mauer, die Einheit fand schließlich zu den Bedingungen
statt, die die Bundesrepublik Deutschland und Kanzler Kohl wollten; die
DDR blieb eine »Fußnote«, von der viele im Nachgang nichts mehr wissen
wollten. In Korea blieb die Frage der Einheit offen.
In den USA wird gerade jetzt der Korea-Krieg neu in die öffentliche Debatte
gerückt. »Wann eigentlich hat es angefangen, daß Amerika, die im
Zweiten Weltkrieg geborene Weltmacht, ferne Kriege führt, die es nicht gewinnt,
die auf falschen Annahmen fußen und fatale Konsequenzen in sich tragen?
« (Der Spiegel, 21/2009) Die Frage zielt auf die Niederlage im Vietnamkrieg,
das Fiasko des Irakkrieges, Afghanistan. Aber angefangen hat es in
Korea. Nach der Kapitulation Japans 1945 wurde Korea, das seit 1910 japanische
Kolonie war, von US-amerikanischen und sowjetischen Truppen besetzt.
Die Siegermächte hatten willkürlich den 38. Breitengrad als Trennlinie
festgelegt; auch hier – wie in Deutschland oder Vietnam – versuchte jede
Seite, in ihrem Bereich ihr politisches und Wirtschaftssystem zu etablieren.
Der Krieg brach am 25. Juni 1950 mit dem Einmarsch der Truppen des Nordens
in den Süden aus, vorausgegangen war ein Grenzkrieg gegen den Norden.
Zuerst eroberten der Norden fast den gesamten Süden. Dann intervenierten
die USA und ihre Verbündeten und rückten fast bis an die chinesische
Grenze im Norden vor. Dann griff die chinesische Armee direkt in den Krieg
ein und schlug die westlichen Truppen weit zurück. Am Ende stabilisierte sich
die Front in der Nähe des Ausgangspunktes. Der Waffenstillstand von Panmunjon
am 27. Juli 1953 schrieb mit geringfügigen Veränderungen die Demarkationslinie
wieder am 38. Breitengrad fest. Und dabei blieb es. Die Sowjetunion hatte den Norden mit Waffen, Ausrüstungen und Ausbildern unterstützt,China direkt interveniert, um den USA nicht ganz Korea zu überlassen;diese blieben dort, um den Süden nicht »den Kommunisten« zu überantworten.
Im Krieg ließen unter der koreanischen Zivilbevölkerung über zwei Millionen
Menschen ihr Leben. Es starben etwa 1,5 Millionen chinesische und
nordkoreanische sowie 415 000 südkoreanische und 33 000 US-Soldaten.
Der Krieg und sein Ausgang verfestigten die Teilung. Im Norden gab es
seit 1947 eine Regierung unter Kim Il-sung, dem Vater von Kim Jong-il, die
aus der Kommunistischen Partei hervorgegangen war; 1948 war die Koreanische
Demokratische Volksrepublik gegründet worden. Nach dem Krieg wurde
ein rascher Wiederaufbau erreicht. Kim Il-sung festigte seine Herrschaft, ging
nach dem Bruch zwischen Moskau und Peking auf mehr oder weniger gleiche
Distanz zu beiden und machte die Ideologie des »Chuche« zur Grundlage
der Politik, was meinte, auf Selbständigkeit, ja Autarkie zu setzen. 1967
wurde festgelegt, »den Anteil der Mittel für die Entwicklung der Verteidigung
gleich hoch festzulegen wie den Anteil für den Aufbau der Wirtschaft und auf
beiden Gebieten fast die gleiche Kraft zu konzentrieren«.
Die eigene Atombombe ist eine offensichtliche Konsequenz dessen. Und
die Ungleichbehandlung Israels, Pakistans und Iraks durch den Westen zeigt,
daß ein Staat nur dann »ernst genommen« wird, wenn er über Atomwaffen
verfügt. Die Armee Nordkoreas hat nach Schätzungen etwa 1,2 Millionen aktive
Soldaten; das ist eine von fünf Armeen der Welt, die über ein Million
Mann unter Waffen haben – ständig und einsatzbereit.
Anfang der neunziger Jahre befaßten sich südkoreanische Analytiker sehr
intensiv mit den Vereinigungsproblemen in Deutschland. Sie interessierte vor
allem, wie die Einheit innenpolitisch umgesetzt wurde und was sie kostete.
Die hochgerechneten Summen ließen den Eifer für eine koreanische Vereinigung
erlahmen. Aber auch die Machthaber in Nordkorea haben genau verfolgt,
was in Europa geschah. Ihre Folgerung war offenbar, die Abschottung
zum Süden – bei zeitweiligen kleinen politischen Bewegungen – aufrecht zu
erhalten und innenpolitische Probleme mit staatlicher Gewalt, nicht mit Öffnung
anzugehen. Chinas machtpolitische Reaktion auf dem Tienanmen-Platz
1989 sprach dafür, seine wirtschaftliche Öffnung dagegen wurde nicht nachvollzogen.
Die Führung Nordkoreas rezipiert die »Bedrohung« durch den Süden
bzw. die westlichen Staaten augenscheinlich als militärische Bedrohung.
Zur Zeit des Korea-Krieges war Korea ein armes, isoliertes Agrarland auf
dem Niveau der armen Staaten Afrikas und Asiens. Bis Ende der 1960er Jahre
war der Norden dem Süden auch wirtschaftlich überlegen. Dann begann im
Norden die Wirtschaft zu stagnieren und setzte im Süden – nicht ohne Investitionen aus den USA und Japan – der Boom ein, der Südkorea zu einem dervier »ostasiatischen Tiger« machte. Das Bruttoinlandsprodukt lag 2005 bei über 916 Milliarden Euro. Das ist weltweit der 12. oder 13. Platz; pro Kopf sind das 18.785 Euro, also eine Größenordnung, die auf dem Niveau der EULänder liegt.
Nordkorea hat den ökonomischen Wettbewerb verloren. Das Herrschaftssystem
ist für niemand Außenstehenden attraktiv. Was also tun, wenn man
nicht abtreten will? Da bleiben nur die Spannungen nach außen, und wenn
man die selbst erhöht, werden die anderen antworten, und es erhöhen sich die
Spannungen weiter, die wiederum als Argument für das eigene Herrschaftssystem
und neuerliche Rüstungen herhalten können. Das ergibt eine Spiralbewegung,
die sich selbst beschleunigt. China und Rußland sind an einer solchen
Entwicklung nicht interessiert, aber auch nicht an einer Instabilität auf
der koreanischen Halbinsel. Japan und Südkorea werden der Atomrüstung
Nordkoreas nicht dauerhaft tatenlos zuschauen – daß sie die Bombe technisch
in kurzer Frist bauen können, steht außer Zweifel. In ihrer Atomrüstung werden
sie sich dann aber nicht nur auf Nordkorea, sondern auch auf China beziehen
– die Atomrüstung, einmal in Gang gesetzt, tendiert zum »Gleichgewicht
des Schreckens«. Das würde den ostasiatischen Raum zu einem eigenen
Raum zunehmender Spannungen machen.
Manche Historiker haben die Lage in der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts
mit der am Anfang des 20. verglichen und dabei auf den ersten Weltkrieg
und den Balkan verwiesen. Dabei haben sie übersehen, daß die ersten Kriege
des 20. Jahrhunderts in Asien stattfanden: 1898 eroberten die USA die Philippinen,
1899-1901 der »Boxer-Aufstand« in China und die Intervention des
Westens, 1904-05 der russisch-japanische Krieg, 1910 die vollständige Annexion
Koreas durch Japan. Vielleicht gerät das Spannungspotential im Fernen
Osten auch heute wieder zu einer realen Gefahr. Die Aussage, die Nordkoreaner
bauten die Bombe nur, damit die USA mit ihnen reden, ist da nur eine
Verniedlichung.