Populismus: Jenseits von Dämonisierung und Vergötterung [1]

Populismus und Demokratie stehen in einer ambivalenten Beziehung zueinander. Sie schließen einander jedoch nicht aus; vielmehr handelt es sich um ein konfliktreiches Verhältnis. Dieses Spannungsverhältnis lässt sich allerdings nur in seiner Besonderheit verstehen, wenn der Betrachtung eine Entnormativierung des Populismusbegriffs zugrunde gelegt wird. In diesem Zusammenhang wird im folgenden Beitrag eine idealtypische Definition des Populismus präsentiert und diskutiert, die zwei Aspekte ins Zentrum der Analyse rückt: erstens, inwiefern der Aufstieg des Populismus mit einem Eliteversagen in Verbindung steht, sowie zweitens, inwieweit dessen Dauerhaftigkeit von der Aufrechterhaltung von Leidenschaften abhängt.

 

Die Schwierigkeit, Populismus zu definieren

Wieder einmal scheint der Populismus aktuell zu sein. Osteuropäische und lateinamerikanische Regierungen werden gegenwärtig häufig als populistische Regime bezeichnet, paradigmatisch vor allem im Falle von Hugo Chávez in Venezuela. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass der gegenwärtige Populismus nicht nur in der Peripherie, sondern auch im Zentrum entsteht, wie es die Beispiele Haiders in Österreich oder Berlusconis in Italien bestätigen (Priester 2007: 8-9). Trotz der inflationären Verwendung des Populismusbegriffs gibt es mehrere Definitionen, sodass er zwar große rhetorische Kraft, aber wenig theoretische Präzision besitzt. Zwei aktuelle Beispiele sind besonders hilfreich, um diese Unschärfe des Populismusbegriffs zu verdeutlichen.

Das erste Beispiel betrifft die Öffentlichkeit und bezieht sich auf die häufig geübte Kritik an der Position des ehemaligen Bundeskanzlers Schröder bezüglich der Planung des dritten Golfkrieges von US-Präsident George W. Bush. Damals lehnte Schröder die deutsche Beteiligung an einem Angriff auf den Irak - auch im Falle eines möglichen Beschlusses der Vereinten Nationen - strikt ab. Angesichts des in diesen Zeitraum fallenden Wahlkampfes zur Bundestagswahl 2002 wurde Schröder diese Maßnahme von Kritikern als populistisches Wahlkampfmanöver vorgehalten.

Das zweite Beispiel kommt aus dem akademischen Bereich und bezieht sich auf das umfassend kommentierte Buch „Hitlers Volksstaat" von Götz Aly (2005)2, dessen Wirkung meines Erachtens zu großen Teilen auf einer falschen Konzeption des Populismus basiert. Die Hauptthese seiner Studie lautet, dass die Legitimität des NS-Regimes nur verstanden werden kann, wenn man das Augenmerk der Forschung auf die damals entstandenen materiellen Vorteile für Millionen einfacher Deutscher richtet. So werden Konzepte einer Gefälligkeitsdiktatur oder Zustimmungsdiktatur als quasi Synonyme des Populismusbegriffs behandelt.

Meiner Meinung nach greifen die Bezeichnung Schröders als Populist und die Rubrizierung der Nazidiktatur als populistisches Regime zu kurz, und es mangelt ihnen an theoretischem Fundament. Schröder war vielleicht ein Opportunist, aber kein Populist, und die Nazidiktatur zeigte klientelistische Züge, war aber kein populistisches Regime (Puhle 1986: 24). Insofern demonstrieren beide Beispiele, dass unter Populismus Phänomene unterschiedlicher Natur - etwa eine demagogische Rhetorik oder die Entwicklung von Gefälligkeitsstrukturen - verstanden werden und wir es hier mit einer theoretischen Unschärfe zu tun haben.

Um die Unschärfe des Populismusbegriffs zu problematisieren, muss eine genauere Definition entwickelt werden, die weder bei der Dämonisierung noch bei der Vergötterung dieses Phänomens stehenbleibt. Zunächst muss man veranschaulichen, worin die Schwierigkeit liegt, den Populismus zu definieren. Im Unterschied zu anderen politischen Phänomenen handelt es sich hier um ein besonders ambivalentes Forschungsobjekt, das sich ständig in Raum und Zeit verändert. Diese Problematik steht in direkter Verbindung mit dem Begriff des Volkes, weil dieser nicht nur eine gesellschaftliche Konstruktion, sondern auch historisch umkämpft ist (Canovan 2005).

In der Tat repräsentiert der Begriff „Volk" eine Art intellektuelles Streitobjekt, das benutzt wird, um elitäre Stellungnahmen zu legitimieren oder zu kritisieren (Bourdieu 1992: 167). So wird z.B. die Popmusik von den meisten Teenagern zelebriert, während sie von einer Mehrheit der Bourgeoisie als vulgär etikettiert wird. Auf politischem Gebiet kann man eine ähnliche Situation beobachten, indem das Volk von bestimmten Parteien als herrschendes Subjekt idealisiert wird, von anderen hingegen als zu beherrschendes Objekt angesehen wird. Diese gängige und weit verbreitete ideologische Überladung des Volksbegriffs beleuchtet ein besonderes Charakteristikum der meisten Analysen zum Populismus: Sie tendieren zu einer Dämonisierung oder Vergötterung dieses Phänomens, liefern aber keine zugrunde liegende politische Theorie.

Was also ist der Populismus? Handelt es sich um eine Ideologie, eine soziale Bewegung, einen politischen Stil oder ein Legitimitätsregime? Eine Antwort kann man auf der Basis der Sozialwissenschaften entwickeln. Allerdings handelt es sich hier um keine exakte oder weitgehend akzeptierte Konzeption. Dennoch ist festzustellen, dass heute eine allmähliche Wende in der Theorieentwicklung stattfindet. Ein Anzeichen dafür sind etliche neuere Publikationen (Decker 2006b; Mény und Surel 2002; Panizza 2005), die eine Entnormativierung des Begriffs anstreben. Zugleich gewannen in letzter Zeit in Westeuropa rechtspopulistische Parteien und Politiker an Präsenz, sodass der Populismus nun ein Phänomen sowohl der Peripherie als auch des Zentrums zu sein scheint. Darüber hinaus wird zum ersten Mal ernsthaft darüber diskutiert, ob nicht vielleicht sogar eine gewisse Kompatibilität zwischen Demokratie und Populismus besteht (Taggart 2000).

Besonders bezeichnend in dieser neuen intellektuellen Atmosphäre scheint mir ein Beitrag von Benjamin Arditi (2005) zu sein, in dem er folgende Allegorie verwendet: Der Populismus ähnelt der Situation, wenn ein Freund zu einem Abendessen spät und betrunken ankommt. Er respektiert nicht die Tischmanieren, spricht zu laut und flirtet eventuell mit den Frauen der Anwesenden. Der Gastgeber ärgert sich über das Auftreten seines Gastes, kann ihn aber nicht loswerden, sodass er die Situation zu kontrollieren versucht, damit sich alle anderen wohlfühlen. Allerdings gehört der betrunkene Gast zu der Gruppe, und darüber hinaus sagt er manche unangenehme Wahrheiten.

Überträgt man diese Allegorie auf die politische Sphäre, könnte man sagen, dass der Populismus genau wie der betrunkene Gast handelt. Er tendiert dazu, rechtsstaatliche Regeln zu brechen, sodass bestimmte Akteure und Institutionen ihn angreifen, obwohl durch ihn zugleich das fordernde Gesicht der Demokratie in Erscheinung tritt. Anders gesagt: Der Populismus erweckt Kräfte, die eine gesellschaftliche Irritation hinsichtlich etlicher Dysfunktionen der demokratischen Ordnung symbolisieren. Sobald diese Kräfte aktiv werden, sind sie nur noch sehr schwer zu domestizieren und verwandeln sich in unangenehme Wahrheiten.

Auf der Grundlage dieser neuen Überlegungen möchte ich eine eigene idealtypische Definition vorstellen: Der Populismus ist ein politisches Laboratorium, dessen Aufkommen in direkter Verbindung mit einem Eliteversagen steht und durch Aktivierung von Emotionen und eine breitenwirksame Mobilisierung des Volkes gekennzeichnet ist. Dadurch wird versucht, ein besonderes Herrschaftsmodell ins Leben zu rufen, das jenseits der liberalen Demokratie und des Faschismus einzuordnen ist.

Anzumerken ist, dass sich hinter dieser idealtypischen Definition vier analytische Dimensionen verbergen, die ich nachfolgend kurz skizzieren werde.

 

Populismus als politisches Laboratorium

Der Populismus soll als ein Laboratorium politischer Herrschaft begriffen werden, das von einem sozialen Akteur - sei es eine soziale Bewegung, eine politische Partei oder ein charismatischer Führer - geleitet wird, der durch legale oder rechtswidrige Mechanismen an die Macht zu kommen sucht, um implizit oder explizit ein neues und diffuses Modell „guter Gesellschaft" herauszubilden. Die Definition des Populismus eher als Laboratorium oder Experiment denn als Regime hebt hervor, dass es sich um einen kontinuierlichen Prozess handelt, der in keiner Phase seiner Implementierung als vollständig begriffen werden kann.

Eben deshalb kann Populismus a priori weder als „links" noch als „rechts" konzipiert werden. Er besitzt keinen klaren ideologischen Korpus, sondern formiert sich ständig neu und folgt fallweise ganz unterschiedlichen politischen Leitlinien. So lässt sich zum Beispiel heute ein „Linkspopulismus" in bestimmten Ländern Lateinamerikas beobachten, der sich insbesondere dadurch auszeichnet, eine Umverteilung zugunsten unterprivilegierter Gruppen einzufordern (etwa Chávez in Venezuela), während in einigen europäischen Ländern ein „Rechtspopulismus" entsteht, der unter anderem durch eine ausländerfeindliche Politik charakterisiert ist (etwa Berlusconi in Italien).

Für das Verständnis des Populismus als politisches Laboratorium leistet das Werk Ernesto Laclaus (2005) einen besonderen Beitrag. Auf der Basis der Diskurstheorie definiert er den Populismus als einen sprachlichen Artikulationsmodus, in dessen Folge sich eine gemeinsame Identität herausbilden lässt. Hierfür ist seine Unterscheidung zwischen „Logik der Differenz" und „Logik der Äquivalenz" von zentraler Bedeutung. Um diese Terminologie verständlich zu machen, möchte ich eine fiktive Situation als Beispiel anführen.

Eine Gruppe von Personen eines Viertels will, dass eine neue Buslinie eröffnet wird, damit sie ihre Arbeitsplätze schneller erreichen können. So organisieren sie sich und sprechen mit dem Bürgermeister, der ihre Forderungen als Auftrag annehmen kann oder nicht. Abgesehen davon handelt es sich in diesem Fall um eine „Logik der Differenz", weil eine punktuelle Forderung thematisiert wird, sich jedoch kein Platz für die Bildung einer gemeinsamen Identität zwischen den Mitgliedern der Gruppe der Antragsteller ergibt. Die politische Ordnung wird hier kaum in Frage gestellt, denn weder konkurrieren unterschiedliche Ansprüche miteinander, noch werden die Forderungen als Spitze eines Eisbergs angesehen.

Aber kehren wir zu dem Beispiel zurück und stellen uns vor, dass sich eine Reihe nicht erfüllter Ansprüche kumuliert. Angenommen, die genannte Personengruppe ist nicht nur wegen des Fehlens der Buslinie unzufrieden, sondern auch wegen mangelhafter Wasserversorgung, Schulpolitik und aufgrund der Sicherheitslage - dann ergibt sich die Möglichkeit der Entstehung einer „Logik der Äquivalenz": Die unterschiedlichen Forderungen aggregieren sich, und auf einmal tritt der Populismus auf, das heißt, es ist der Keim für die Entwicklung eines politischen Laboratoriums gegeben, das dank der ausgebliebenen Erfüllung zahlreicher Ansprüche ganz unterschiedliche Gruppen miteinander verbindet und Forderungen nach einem neuen Gesellschaftsmodell erhebt.

Wie sieht dieses Gesellschaftsmodell aus, und welche Ziele werden angestrebt? Die Antwort ist einfach. Es gibt weder ein klares Projekt noch einen allgemeingültigen Zweck, die generell in jeder Ausformung des Populismus verfolgt werden. Die Definition des Populismus als politisches Laboratorium versucht zu verdeutlichen, dass es sich um einen leeren Signifikanten handelt. Das Gemeinsame der Vielfalt von Populismen liegt insofern in ihrer Fähigkeit, unterschiedliche Forderungen unter einem extremen, vagen gemeinsamen Dach - das Volk - zu bündeln, sodass höchst heterogene und teilweise antagonistische Gruppen ein Projekt gegen das Establishment verfolgen. Dabei geht es um die Bildung einer Art von Gegenhegemonie, das heißt um den Versuch, das asymmetrische Begriffspaar Zivilisation und Barbarei - im Sinne Kosellecks (1989: 211-259) - auf den Kopf zu stellen.

Angesichts dieser Erklärung wird zunächst verständlich, warum die sogenannte Abstraktheit der Symbole des Populismus zugleich die Bedingung ihrer politischen Effizienz ist. Weil die zentrale Aufgabe darin besteht, die Zusammensetzung höchst heterodoxer Forderungen unter einem gemeinsamen Dach zu gewährleisten, kann der Populismus dies nur kraft Simplifizierung und Reduktion der partikularistischen Komponenten bis hin zu einem möglichen Minimum an verbindenden Elementen. Dieser Prozess erreicht seinen Höhepunkt, wenn die Homogenisierung bereits durch die einfache Benennung eines Namens gelingt: des Namens des Führers des politischen Laboratoriums.

Durch die theoretische Fassung des Popu-lismus als ein politisches Experiment, das wie ein leerer Signifikant fungiert, kann man eine Faustformel bezüglich der Wahrscheinlichkeit seines Aufkommens formulieren: Je mehr soziale Forderungen erfolgreich durch ein ausdifferenziertes institutionelles System erschlossen und behandelt werden können, desto geringer ist die Chance des Entstehens einer „Logik der Äquivalenz" und insofern des Aufstiegs des Populismus.

 

Populismus als Resultat von Eliteversagen

Das Auftreten populistischer Regierungsexperimente steht in direkter Verbindung mit der Unfähigkeit der Eliten, die Forderungen der Gesellschaft zu erfüllen. Deswegen zeichnet sich der Populismus unter anderem durch eine Radikalisierung der Schmitt'schen Unterscheidung zwischen Freund und Feind aus, weil die etablierten Machtträger in diesem Zusammenhang als korrupt und unfähig apostrophiert werden. Außerdem trägt die Schmitt'sche Unterscheidung zur Formierung eines Wir-Gefühls bei. So tendieren die populistischen Regierungsexperimente zur Negation existierender horizontaler Konfliktlinien (z.B. links und rechts); stattdessen befördern sie die Einführung vertikaler Konfliktlinien (z.B. Arme und Reiche). Von daher ist es kein Zufall, dass Neologismen wie Berlusconismus, Chavismus oder Peronismus aufkommen. Sie signalisieren die personalisierte Verankerung des populistischen Laboratoriums, da man sich entweder für oder gegen dessen Ziele entscheidet. Ein Mittelweg existiert nicht.

Wenn sich Eliteversagen als ein fruchtbarer Boden für die Entstehung populistischer Regierungsexperimente darstellt, kann die folgende These aufgestellt werden: Je heftiger die Enttäuschung der Bevölkerung gegenüber den existierenden Eliten ausfällt, desto kategorischer wird ihre Reaktion wie auch ihr Präferenzwandel sein. Etliche Studien (Decker 2006a; Taggart 2002; Werz 2003) liefern ein in diese Richtung weisendes Fundament und bestätigen, inwiefern die Formierung eines dauerhaften Elitenkartells zwischen den großen politischen Parteien als Auslöser des Populismus fungiert. In der Tat lassen sich solche Entwicklungen in ganz unterschiedlichen Fällen beobachten, wie etwa am Beispiel der Agrarbewegungen des 19. Jahrhunderts in den USA oder des Peronismus des 20. Jahrhunderts in Argentinien, ebenso wie am Exempel des zeitgenössischen Aufstiegs von Chávez in Venezuela oder seinerzeit von Haider in Österreich.

Nach dieser Ansicht stehen Massen und Eliten in einer kontingenten Beziehung zueinander, die sowohl auf der Hervorbringung bestimmter Leistungen als auch auf der Wirksamkeit der Autoritätsbildung beruht. Werden solche Leistungen nicht erbracht oder verlieren die Eliten ihre Prominenz, vergrößert sich die Chance des Auftretens eines populistischen Regierungslaboratoriums. Mit heutigem Bezug lassen sich vor allem zwei Katalysatoren für dessen (Wieder-)Erscheinen herauskristallisieren: einerseits die zunehmende soziale Ungleichheit, andererseits das Wachstum der Komplexität.

Was die soziale Ungleichheit betrifft, ist ihr aktuelles Anwachsen ein empirisch bestätigter Befund, der nicht nur die Peripherie, sondern auch das Zentrum betrifft. Vor diesem Hintergrund wird die Formierung meritokratischer Eliten eine der größten Herausforderungen für die liberale Demokratie des 21. Jahrhunderts sein. Falls dies nicht geschieht, wird die Konstituierung von Gegeneliten weiter voranschreiten, indem diese anhand ihrer Denunziation der sozialen Schließung der etablierten Eliten zunehmend an Autorität und Macht gewinnen. So gesehen können Le Pens Parolen in Frankreich gegen die Ausländer und Morales' Attacken in Bolivien gegen die Weißen als ähnliche Phänomene betrachtet werden: Es handelt sich um populistische Diskurse, in denen die Empörung großer Teile der Bevölkerung aufgrund der sozialen Ungleichheit oder der Angst vor ihrer Zunahme zum Ausdruck kommt. Hier zeigt sich eine charakteristische Zwiespältigkeit des Populismus, indem er reale Probleme ebenso wie deren politische Theatralisierung markiert.

Der zweite Katalysator basiert auf einer gängigen These der Entwicklung moderner Gesellschaften. Denn die Diagnose einer wachsenden Komplexität ist in den Sozialwissenschaften weit verbreitet; sie pointiert, dass die gesellschaftliche Steuerung immer schwieriger wird, weil die Verselbstständigung unterschiedlicher Systeme (Ökonomie, Politik, Wissenschaft, usw.) die Möglichkeit funktionaler Koordination unterminiert. Diesbezüglich könnte eine mögliche Lösung sein, verstärkt die institutionellen und ideologischen Rahmenbedingungen zu unterstützen, die zu einer Intensivierung der Beziehungen zwischen den Eliten beitragen. 

Dennoch hat diese Lösung auch eine Kehr-seite. Eine zu enge Verbindung zwischen den Eliten kann zu ihrer Abschottung und Delegitimierung führen, sodass der Weg für einen Erfolg antielitärer Diskurse gebahnt wird. Es gibt dafür kein besseres Beispiel als das ständige Ringen mit dem Legitimitätsdefizit der Europäischen Union. Infolge ihrer Institutionalisierung formiert sich eine transnationale Technokratie, die von der nationalen Bevölkerung zunehmend abgekoppelt ist und sich nur auf prekäre Weise durch die Öffentlichkeit legitimieren kann (Bach 1999). Dementsprechend steigert sich das Potenzial für die Herausbildung populistischer Diskurse, die den elitären Charakter des europäischen Projekts denunzieren.

Allerdings muss das anti-elitäre Ressentiment des Populismus nicht gleich zu dessen Vergötterung führen. Die erfolgreiche Etablierung eines populistischen Regierungslaboratoriums hängt ab von der Formierung neuer Eliten, die eine Gegenhegemonie bilden und einem gemeinsamen Führer ihre Unterstützung zusichern. In diesem Sinne wäre es ein Fehler, den Populismus unter der Lupe einer „Große-Männer/Frauen-Theorie" zu analysieren. Wie die lateinamerikanischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts demonstrieren, beruht die Etablierung des Populismus auf der Formierung eines Elitenkartells, dessen größter Beitrag die Stabilitätsgenerierung für die Durchsetzung einer neuen Ordnung ist (Conniff 1999).

 

Populismus als Ausdruck leidenschaftlicher Politik

Eine wichtige Voraussetzung für das Aufkommen eines populistischen Laboratoriums ist die Bildung einer gemeinsamen politischen Identität, deren Grundlage vorwiegend auf Emotionen beruht. Diese Maxime steht in Verbindung mit neueren Forschungen im Feld der sozialen Bewegungen (Eder 2000; Goodwin et al. 2001), die bestätigen, dass die Mobilisierung der Gesellschaft sowohl von rationalen Interessen als auch von emotionalen Faktoren abhängt. Diese Perspektive hat den Vorteil, dass sie uns den Populismus nicht mehr als eine irrationale Kraft erklärt, sondern eher als eine Form politischer Artikulation, die dem Unbehagen der Bevölkerung gegenüber den Mankos der existierenden Demokratie entspringt.

Wenn also Emotionen in den Prozess involviert sind, in dem sich Individuen sozialen Bewegungen anschließen, können Emotionen auch als Auslöser für Partizipation konzipiert werden. Dies erklärt sich auf der Basis der „Logik der Äquivalenz" - ein kollektives Vergnügen und soziale Anerkennung werden hervorgerufen. Auf einmal stehen die Probleme eines Individuums in Verbindung mit jenen seines Nachbarn. Beide schließen sich mit mehreren Personen zusammen, die dasselbe Unbehagen teilen, und sie konstruieren in der Folge einen gemeinsamen Gegner. Zur Tat zu schreiten bedeutet nun für sie, ihre kollektive Würde zu behaupten. Durch den Protest werden sie zu einem kollektiven Akteur und favorisieren gemeinsame Identifikationsfiguren. In diesem Kontext lässt sich feststellen: Je reicher der Populismus an kulturellen Elementen ist (wie z.B. an Idolen, Ritualen, usw.), desto größer ist die Aktivierung von Emotionen, die zu einer breiten Solidaritätsgenerierung führen.

Dass die Formierung des Populismus mehr auf Leidenschaft als auf Rationalität basiert, signalisiert eine seiner politischen Schwächen: das Problem seiner Dauerhaftigkeit. Rationale Kriterien lassen sich viel besser stabilisieren als emotionale Faktoren. Insofern hängt die Permanenz des Populismus von seiner Fähigkeit ab, Leidenschaften auf Dauer zu stellen. Dafür durchleuchtet der Populismus Nischen emotionaler Aufmerksamkeit, also Bilder und Diskurse, die Emotionen wie Angst, Empörung oder Hass wecken, damit das Freund-Feind-Schema seine Gültigkeit nicht verliert. Beispiele dafür sind etwa die Stigmatisierung der Roma und Sinti als Mörder und Parasiten in der italienischen Gesellschaft oder die kontinuierliche Dämonisierung des amerikanischen Imperiums durch Hugo Chávez in Venezuela.

Allerdings sind Emotionen dazu verdammt, sich allmählich abzuschwächen. Wie Hirschman (1988) in seiner klassischen Studie demonstriert, ziehen sich die Menschen mit der Zeit von der öffentlichen in die Privatsphäre zurück, weil die Leidenschaften, die als Motor für kollektive Handlung dienen, nicht bis in alle Ewigkeit halten. Anders gesagt: Emotionen sind nicht nur ein knappes, sondern auch ein instabiles und vergängliches Gut. Populisten wissen dies ganz genau, und deswegen bemühen sie sich um die Aufrechterhaltung der Leidenschaften.

Ein empirischer Beweis der Wichtigkeit der Emotionen für den Populismus ist seine intime Beziehung zu den Massenmedien und vor allem zur Produktion einer bestimmten Art massenmedial wirksamen Diskurses. Beispielsweise kann man die klassischen lateinamerikanischen Populismen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht richtig verstehen, wenn man die damalige Expansion des Rundfunks außer Acht lässt. Staatsoberhäupter wie Perón in Argentinien und Vargas in Brasilien waren nicht nur brillante Redner, sondern sie hatten auch ein neues Medium zur Verfügung. In der Tat entstand die Popularität von Evita Perón vor allem in der Zeit, als sie als Radiomoderatorin tätig war.

Der Populismus arbeitet Hand in Hand mit den Massenmedien, um emotionale Beachtung erzeugen zu können. Dazu benutzt er mehrere Inszenierungsstrategien, wie zum Beispiel die Theatralisierung und die Produktion von Schein-Ereignissen. Solche Strategien gewinnen im heutigen Zeitalter zusehends eine wachsende Präsenz, weil sie als Vermarktungstaktiken einer (Welt-)Öffentlichkeit gelten, die weniger gemäß dem Habermas'schen Modell kommunikativen Handelns als vielmehr entsprechend den Regeln eines Marktes der Aufmerksamkeit funktioniert (Frank 1998). Wird dieser Diagnose eine gewisse Glaubwürdigkeit zugestanden, so kann man annehmen, dass die liberale Demokratie des 21. Jahrhunderts eine strukturelle Entwicklungstendenz hin zum Populismus haben wird. Sie benötigt immer häufiger die Medien, um in einer an Inputs übersättigen Gesellschaft Leidenschaften zu mobilisieren, und muss sich insofern den Spielregeln der Massenmedien anpassen (Meyer 2001).

 

Der Populismus: Weder liberale Demokratie noch Faschismus

Wie mehrfach angedeutet, führen die meisten Definitionen des Populismus entweder zu seiner Dämonisierung oder zu seiner Vergötterung. Um diese ideologische Überfrachtung des Begriffs zu umgehen, lohnt es sich, ihn von denen der liberalen Demokratie und des Faschismus abzugrenzen. Auf diese Wiese können zwei Pole herausgearbeitet werden, die nicht nur die Grenzen des Populismus markieren, sondern auch seinen verschwommenen Charakter für die politische Theorie hervorheben.

Bekanntermaßen verkörpert die liberale Demokratie einen Typ repräsentativer Demokratie, welcher einem Rechtsstaat unterliegt und auf einer Verfassung basiert, die die Menschenrechte und Grundfreiheiten sichert. Kennzeichnend für eine liberale Demokratie ist der Versuch, die Omnipotenz des Staates zu begrenzen, sodass eine Reihe von checks and balances existiert, damit unterschiedliche gesellschaftliche Ansprüche Gehör finden können und eine Machtkonzentration in der Person des Staatsoberhauptes beschränkt wird. Pointiert formuliert und eine etwas kriegerische Formulierung entleihend, könnte man sagen, dass die liberale Demokratie nach dem Prinzip divide et impera (teile und herrsche) funktioniert: Sie bemüht sich um die Aufrechterhaltung der Unterschiede zwischen den diversen Ansprüchen der Bevölkerung, sodass kaum gesamtgesellschaftliche Konflikte auftreten können. Dadurch wird das Regieren im Grenzfall auf bloße Administration bzw. Technik reduziert.

Im Unterschied zur liberalen Demokratie artikuliert der Populismus unterschiedliche Forderungen, durch die er gesamtgesellschaftliche Konflikte hervorruft und Demarkationslinien gegenüber einer klaren Gegnerschaft postuliert. Auf diese Weise wird nicht nur die Geltung eines rationalen Konsenses à la Habermas infrage gestellt, sondern es wird auch die affek-tive Dimension des Politischen mobilisiert. So treten die für viele vermeintlich archaischen Leidenschaften wieder in die Geschichte ein, und die Pluralität von Sichtweisen und Werten kann keineswegs mehr als harmonisches und konfliktfreies Ensemble verstanden werden. Ganz im Gegenteil: Der gesellschaftliche Antagonismus nimmt zu, und ein Führer wird zur Inkarnation des Volkes.

Gewiss assoziiert man diesen letzten Satz mit dem Faschismus, obwohl dieser durchaus nicht als Synonym des Populismus betrachtet werden soll. Ausschlaggebend für die Grenzziehung ist die Rücksichtnahme des Populismus auf grundlegende demokratische Spielregeln bzw. seine Nähe zum Modell der Polyarchie (Dahl 1972). Zweifelsohne respektieren die populistischen Regierungsexperimente einen relativ hohen Grad an Meinungsfreiheit und politischer Konkurrenz. Nicht zuletzt unterstützen sie die periodische Realisierung fairer und freier Wahlen. Undiplomatisch ausgedrückt, tragen zwar Populisten wie Berlusconi oder Chávez durchaus totalitäre Züge, doch unterwerfen sie sich den Entscheidungen des Volkes, wie es der knappe Wahlausgang zugunsten Prodis in Italien 2006 oder die zwischenzeitliche Ablehnung der Reformverfassung in Venezuela 2007 demonstrieren.

Im Unterschied dazu erhebt der Faschismus einen totalitären Anspruch auf die gesellschaftliche Führung, sodass Grundelemente einer demokratischen Ordnung - wie zum Beispiel faire und freie Wahlen oder die Existenz einer Gegnerschaft - nicht toleriert werden. Deshalb definiert Gentile (2006) zu Recht den Faschismus als eine politische Religion, die eine anthropologische Revolution mit dem Ziel der Etablierung einer neuen Zivilisation beansprucht. Aus dieser Sicht lässt sich die These vertreten, dass der Faschismus als die Radikalisierung eines populistischen Regierungsexperimentes begriffen werden kann, sodass die charakteristische demokratische Ambivalenz des Populismus verloren geht und stattdessen klare totalitäre Züge auf den Plan treten. Anders gesagt: Der Faschismus ist der große Bruder oder auch das schwarze Schaf des Populismus (Puhle 2003: 32).

 

Plädoyer für eine Entnormativierung des Populismusbegriffs

Der Populismus ist ein hoch ambivalentes Phänomen, das charakteristisch für die Demokratisierungskonflikte ist. In diesem Sinne ist der Populismus nicht per se gut oder schlecht für die Demokratie, da er den Weg für die Entstehung politischer Experimente mit zwei innewohnenden Kräften bahnt: eine Kraft, die Legitimität für das politische System über die Wahrnehmung von Dysfunktionen einer demokratischen Ordnung generiert; und eine andere Kraft, die zur Radikalisierung der politischen Identitäten und zur Negation der Pluralität führen kann. Die Kunst des Populismus liegt in der Strategie, sich zwischen beiden Kräften zu bewegen, und von daher muss man die Dämonisierung oder die Vergötterung dieses Phänomens fallen lassen.

Inwiefern kann also der Populismus als eine Funktionsstörung der Demokratie verstanden werden? Dies kann nur geschehen, wenn man bestimmte normative und/oder prozessuale Maßstäbe einer idealen Ordnung - etwa der liberalen Demokratie - voraussetzt. Das Problem besteht allerdings darin, dass solche Kriterien nach Raum und Zeit variieren (Tilly 2007). So hat zum Beispiel die aktuelle nordamerikanische Demokratie keine großen Probleme mit der Todesstrafe, während die schweizerische Musterdemokratie erst im Jahre 1971 das Frauenwahlrecht einführte.

Aus meiner Sicht sollte man den Populismus nicht als Funktionsstörung der Demokratie konzipieren. Abgesehen von seinen schlechten Manieren, impliziert der Populismus ein Warnsignal, dass die Demokratie nicht ein passiver Zustand, sondern eher eine dauerhafte Justierung der sich verändernden Forderungen und Werte der Gesellschaft bedeutet. Dafür ist es wichtig, den historischen Wandel des Demokratieverständnisses zu pointieren. Herrschte in der Antike und bis zum 18. Jahrhundert ein Demokratieverständnis vor, das darunter die Herrschaft der Armen verstand, so hat sich in Kämpfen im 19. und 20. Jahrhundert eine Konzeption durchgesetzt, welche Demokratie in einem liberalen Sinne als „negative Freiheit" begreift, wozu dann wesentlich die Garantie der Meinungsfreiheit und eben auch des Rechts auf Eigentum gehört, nicht jedoch die soziale wie politische Inklusion aller Bevölkerungsgruppen.

Vor dem Hintergrund eines solchen Begriffsverständnisses erscheint dann der Populismus als antidemokratisch. Versteht man unter Demokratie hingegen ein Regime, das die Herrschaft der Vielen zum Ziel hat, mag man zu einer anderen Einschätzung des Populismus gelangen. Will man diese Ambivalenz des Populismus im Auge behalten, muss man konsequenterweise für dessen Entnormativierung plädieren.

 

Anmerkungen

1           Für hilfreiche Anregungen und Kommentare danke ich Matthias Bohlender, Matías Dewey, Raimundo Frei, John Keane, Herfried Münkler und Hauke Rolf.

2           Hierfür ist die folgende Passage besonders charakteristisch: „Im Gegensatz zum Kommunismus forderte der Nationalsozialismus nie die absolute Gefolgschaft, wohl aber die anti-elitäre, für die europäischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts vielfach verlockende Volksnähe. Dies führte zu der eigentümlichen Verbindung von populistischer Stimmungspolitik, intelligenter Intervention und kalkulierten Morden" (Aly 2005: 22; eig. Hervorh.).

 

Literatur

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Arditi, Benjamin (2005): Populism as an Internal Periphery of Democratic Politics. In: Panizza (Ed.)

Bach, Maurizio (1999): Die Bürokratisierung Europas. Verwaltungseliten, Experten und politische Legitimation in Europa. Frankfurt a.M./New York: Campus

Bourdieu, Pierre (1992): Der Begriff „Volk" und sein Gebrauch. In: Ders., Rede und Antwort. Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Canovan, Margaret (2005): The People. Cambridge/Malden: Polity

Conniff, Michael (Ed.) (1999): Populism in Latin America. Tuscaloosa: University of Alabama Press

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Decker, Frank (2006a): Die populistische Herausforderung. Theoretische und ländervergleichende Perspektive. In: Ders. (Hg.)

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Hirschman, Albert Otto (1988): Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Koselleck, Reinhart (1989): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp

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Puhle, Hans Jürgen (2003): Zwischen Protest und Politikstil. Populismus, Neo-Populismus und Demokratie. In: Werz, Nikolaus (Hg.): Populismus. Populisten in Übersee und Europa. Wiesbaden: VS Verlag

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Dr. des. Cristóbal Rovira Kaltwasser, Soziologe, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

 

aus: Berliner Debatte INITIAL 20 (2009) 1, S. 69-77