Bildung zwischen Standortwettbewerb und Statussicherung

Zur Entwicklung von Qualifikationsrahmen in der Europäischen Union

in (20.11.2009)

Binnen weniger Jahre ist die Bildungspolitik in der Europäischen Union (EU) von einem „weichen" Politikfeld, welches fast vollständig den Mitgliedstaaten überlassen blieb, zu einem strategischen Politikfeld der Wirtschaftspolitik geworden. Mit dem Europäischen Qualifikationsrahmen versucht die EU ein Dach zu schaffen für die Reform der europäischen Bildungssysteme.

Im Jahr 2000 trafen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs in Lissabon und gaben der Europäischen Union eine neue Strategie - und damit auch der Bildungspolitik eine neue Rolle. Innerhalb von zehn Jahren, so ihr formuliertes Ziel, sollte die EU zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt" aufsteigen. Hierzu müsse sich Europa „auf ein ambitioniertes Programm für den Aufbau von Wissensinfrastrukturen, die Förderung von Innovation und Wirtschaftsreform und die Modernisierung der Sozialschutz- und Bildungssysteme einigen", so die Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Lissabon.[1] Damit hatte die EU die Bildungspolitik auf höchster Ebene auf die Agenda gesetzt. Im vergangenen Jahr wurde ein Europäischer Qualifikationsrahmen (EQR) beschlossen, unter dessen Dach aktuell um die Entwicklung eines Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) gerungen wird. Um diese Debatte näher zu beleuchten, lohnt sich zunächst ein Blick auf die Eckpfeiler und Entwicklungen der allgemeinen Bildungspolitik der EU.

Die Bildungspolitik der EU

Hinter der Bildungsoffensive steht offenbar vor allem eine Erkenntnis: Der technologische Fortschritt und der Boom der Dienstleistungsbranche sind mit der jetzigen Qualifizierungsstruktur der europäischen BürgerInnen kaum zu bewältigen.[2] Deshalb sollen mehr Menschen eine bessere Qualifizierung erfahren. Gleichzeitig ist mit dieser Herangehensweise aber auch eine klare politische Hierarchie formuliert: Zielmarke ist die herausgehobene Stellung der europäischen Wirtschaft auf dem Weltmarkt - die Bildungspolitik ist ein Instrument, welches sich an diesem Ziel ausrichten und sich an seiner Realisierung messen lassen muss.

Die Dominanz der ökonomischen Perspektive hat weit reichende Konsequenzen. 2006 verfasste die EU-Kommission das Strategiepapier „Effizienz und Gerechtigkeit in den europäischen Systemen der allgemeinen und beruflichen Bildung". Dabei deutet der Begriff „Effizienz" bereits darauf hin: Hier geht es um Investitionen, die sich rentieren müssen. Konsequenterweise spricht die Kommission in Bezug auf die Bildungspolitik auch von einer „langfristigen Investitionsplanung". Damit Bildungsinvestitionen nicht in den Sand gesetzt werden, müssen sie möglichst unmittelbar ökonomisch verwertbar sein. Darum müsse „die Berufsbildung genau auf die Qualifikationsbedürfnisse der Arbeitgeber ausgerichtet werden". Hierbei sollen die Arbeitskräfte ihre Kompetenzen laufend aktualisieren, um sich dem im Wandel befindlichen Arbeitsmarkt „anzupassen" und somit zu Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit beizutragen. Wer diese Anpassungsleistung nicht erbringen kann, läuft „immer stärker Gefahr, arbeitslos und sozial ausgegrenzt zu werden". Dieses Risiko der Nichtqualifizierung wird von der Europäischen Kommission nicht zuletzt als Kostenfaktor betrachtet. Wer eine geringe Qualifizierung habe, zahle im Allgemeinen weniger Steuern, nehme mehr öffentliche Mittel in Anspruch, werde sogar häufiger krank und liege damit dem Gesundheitssystem auf der Tasche.

Die EU hat sich auch auf die Fahnen geschrieben, die soziale Gerechtigkeit in den europäischen Bildungssystemen zu erhöhen. Bildungssysteme seien effizienter, wenn jede und jeder eine Chance bekommt. Hierzu gehören ein Ausbau der frühkindlichen Bildung sowie Schulsysteme, in denen Kinder und Jugendliche möglichst lange gemeinsam lernen - damit grenzt sich die bildungspolitische Linie der EU klar von traditionell konservativen Konzepten ab. Auch der Umkehrschluss scheint allerdings zu gelten: Die soziale Gerechtigkeit in den Bildungssystemen soll nur insoweit erhöht werden, wie dies zu ihrer Effizienz beiträgt. In der Lesart der EU bedeutet dies, dass nur die Erst- bzw. Grundbildung öffentlich gewährleistet werden muss. Im Anschluss soll sich jede und jeder an der Bildungsfinanzierung privat beteiligen - und für das Gelingen des individuellen Bildungsweges selbst die Verantwortung übernehmen. Die Chance einer und eines jeden Einzelnen ist damit zugleich Verpflichtung. Die Bildungssysteme sollen allen die Möglichkeit bieten, in die eigenen Qualifikationen zu „investieren" und sich „beschäftigbar" (employable) zu machen. Wer allerdings diese Chance nicht nutzt, wird auf seine Eigenverantwortung verwiesen.

Auf dem Weg zu einem europäischen Bildungsraum

Innerhalb der letzten zehn Jahre sind auf der europäischen Ebene verschiedene bildungspolitische Prozesse initiiert und vorangetrieben worden. Bereits im Sommer 1999 hatten die europäischen BildungsministerInnen mit dem Bologna-Prozess ein umfassendes Reformprogramm für die Hochschulen auf den Weg gebracht. Dieser Prozess ist nicht unmittelbar an die Institutionen der EU gekoppelt und geht mit seinen mittlerweile 45 Signatarstaaten weit über diese hinaus. Mit der Einleitung des Brügge-Prozesses zur Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung und der Kopenhagener Erklärung der EU-BildungsministerInnen im Winter 2002 hat auch die Diskussion um die berufliche Bildung in Europa neue Dimensionen erreicht.

Mit einer Empfehlung aus dem April 2008 haben das Europäische Parlament und der Rat einen Qualifikationsrahmen vorgegeben und die Mitgliedstaaten aufgefordert, ihre nationalen Qualifikationssysteme bis 2010 an diesen Rahmen zu koppeln.[3] Der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR) beschreibt acht Niveaus, denen alle im europäischen Bildungsraum erworbenen Qualifikationen zugeordnet werden sollen. Er bildet sozusagen ein Übersetzungsinstrument, das anerkannte Qualifikationen von einem Land ins andere übertragbar macht. Nationale Qualifikationsrahmen sollen in jedem Land spezifisch definieren, welche Bildungsabschlüsse und Qualifikationen als gleichwertig anzusehen sind und welchem EQR-Niveau sie jeweils entsprechen.

Der EQR fokussiert in der Beschreibung einzelner Kompetenzniveaus kognitive Fähigkeiten und ihre Anwendbarkeit im Sinne einer Erwerbsarbeit. Er kann damit als Abbild der Fixierung der EU-Bildungspolitik auf die „Employability" der AbsolventInnen gelesen werden. Die Gewerkschaften haben diese Ausrichtung immer wieder kritisiert und dazu aufgerufen, Bildung nicht auf den Nützlichkeitsaspekt zur Erfüllung vorgegebener Anforderungen zu beschränken. So wandte etwa Hermann Nehls vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) ein: „Berufsbildung darf nicht auf eine Teilstrategie der Sozial- und Wirtschaftspolitik reduziert werden. Humanisierung, Demokratisierung und Partizipation müssen Leitziele der Berufsbildung bleiben."[4] Der einseitigen utilitaristischen Ausrichtung stellen die Gewerkschaften einen Kompetenzbegriff gegenüber, der neben einer umfassenden beruflichen Handlungsfähigkeit auch die persönliche Entwicklung sowie die Fähigkeit zur aktiven gesellschaftlichen Teilhabe in den Blick nimmt.

Mit der Ausrichtung auf die ökonomische Verwertbarkeit von Bildung geht eine Fixierung auf Zertifikate einher. Felix Rauner und Philipp Grollmann machen darauf aufmerksam, dass noch bis Mitte der 1990er Jahre die berufliche Praxis im Mittelpunkt der europäischen Debatten stand, und von dieser ausgehend Ausbildungsanforderungen formuliert wurden. Diese Herangehensweise sei im Folgenden allerdings durch die - weniger aufwändige - Orientierung an zertifizierten Qualifikationen in den Hintergrund gedrängt worden. Im Verhältnis zwischen beruflicher Tätigkeit, Kompetenz und formalem Bildungsabschluss habe somit eine Umkehrung stattgefunden, indem die formale Bildung zum Leitkriterium wurde.[5]

Entwicklung des Deutschen Qualifikationsrahmens

Diese Ausklammerung beruflicher Arbeitserfahrungen und praktischen Wissens aus dem individuellen „Kompetenzprofil" begegnet uns auch in der Auseinandersetzung um die Gestaltung des DQR. In der Beschreibung der einzelnen Kompetenzniveaus zeichnet sich auch hier eine starke Orientierung an formalen Bildungsabschlüssen ab. Professionalität ist aber auch ein Produkt des reflektierten Umgangs mit situativen Herausforderungen der beruflichen Praxis und des Hineinwachsens in eine berufliche Praxisgemeinschaft. Mit wesentlich in der schulischen und hochschulischen Bildung geprägten Kriterien für die erworbenen Qualifikationen lässt sich diesem Umstand kaum angemessen Rechnung tragen. Der DGB hatte außerdem vorgeschlagen, neben Wissen, Fertigkeiten und Sozialkompetenzen auch eine lernprozessbezogene Komponente in die Niveaubeschreibungen des DQR einzufügen, denn die Qualität von Lernergebnissen hängt nicht unerheblich davon ab, wie die vorhergehenden Lernprozesse gestaltet wurden. Dieser Vorschlag fand in dem von Bund und Ländern eingesetzten „Arbeitskreis DQR" allerdings keine Mehrheit, die Outcome-Orientierung der Niveau-Beschreibungen wurde beibehalten. Hinzugefügt wurde immerhin die Kategorie „Selbstkompetenz", welche die Fähigkeit und Bereitschaft beschreibt, selbständig und verantwortlich zu handeln, eigenes und das Handeln anderer zu reflektieren und die eigene Handlungsfähigkeit weiterzuentwickeln.[6]

Die Anerkennung beruflicher Erfahrungen könnte über eine deutlich verbesserte Anerkennung informellen Lernens erfolgen. Diesem Ziel haben sich grundsätzlich auch Bund und Länder angeschlossen, für die Erarbeitung des DQR haben sie sich allerdings entschieden, den Rahmen zunächst anhand der formalen Bildungsabschlüsse fertig zu stellen und erst in einem zweiten Schritt die Einbeziehung informell erworbener Kompetenzen zu diskutieren. Demgegenüber vertritt Michael Young die Auffassung, dass bereits die Annahme, dass formell und informell erworbene Kompetenzen anhand der gleichen Kriterien bewertet werden können, einige Probleme bereitet.[7] Umso mehr ist davon auszugehen, dass es erhebliche Probleme bereiten wird, informell erworbene Kompetenzen im Nachhinein anhand der Kriterien zu bewerten, die allein anhand der formalen Bildung entwickelt wurden.

In unserem Bildungs- und Erwerbssystem, das hohen Wert auf formale Bildungsabschlüsse legt, erlangen diese ihre Bedeutung erst in zweiter Linie durch die substantiell-materielle Befähigung für bestimmte Arbeitsprozesse. In erster Linie sind formale Bildungsabschlüsse wichtig, weil sie die Berechtigung bilden, weitere Stufen des Bildungssystems zu erklimmen, und weil sie den sozialen Status definieren. Wenn der Qualifikationsrahmen diese Statusfixierung nicht offensiv aufbricht, läuft er Gefahr, sie stattdessen zu zementieren. Dabei geht es nicht nur um eine Abwertung von Arbeitserfahrung und informellem Lernen gegenüber dem formalen Bildungssystem, sondern auch um eine geringere Wertschätzung der beruflichen gegenüber der akademischen Bildung insgesamt. Wenn in diesem Jahr die Zuordnung einzelner Qualifikationen zu den Stufen des DQR in Angriff genommen wird, sind viele offene Fragen zum Verhältnis beruflicher und akademischer Bildung zu klären: Werden etwa Meister- und Technikerabschlüsse hochschulischen Abschlüssen gleichgestellt? Entspricht der Abschluss einer dualen Berufsausbildung dem Abiturniveau, liegt er drunter - oder drüber? In der Entwicklung des DQR steckt durchaus die Chance, die Versäulung unseres Bildungssystems in berufliche und akademische Bildungswege aufzubrechen und mehr Durchlässigkeit zu schaffen - aber auch die Gefahr, die Versäulung umso dauerhafter festzuschreiben. Wenn keine entscheidenden Schritte hin zu einer echten Gleichwertigkeit unterschiedlich erworbener Qualifikationen gemacht werden, ist allerdings die Sinnhaftigkeit der Entwicklung von Qualifikationsrahmen insgesamt in Frage zu stellen.

Vom Grundrecht auf Bildung zur Pflicht zum lebenslangen Lernen?

Die Anerkennung von Qualifikationen ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil hiermit Berechtigungen und Zugänge zu weiterführenden Bildungswegen und zu Berufsfeldern verbunden sind. Doch auf der harten juristischen Ebene ist von EQR und DQR nichts zu erwarten: Rechtliche Konsequenzen sind mit der Anerkennung von Qualifikationen auf einem bestimmten Niveau nicht verbunden. Wer also beispielsweise auf demselben Niveau eingeordnet wird wie die AbiturientInnen, hat damit noch lange nicht das Recht, sich auch um einen Studienplatz zu bewerben - denn eine Hochschulzugangsberechtigung geht mit der Anerkennung des Qualifikationsniveaus nicht einher.

Zum Recht auf Bildung - verankert in der Grundrechte-Charta der EU sowie in der Europäischen Sozialcharta - gehört auch ein offener Zugang zu Bildungsinstitutionen. Doch in den Strategiepapieren der EU ist hierzu kaum etwas zu finden. Bildung erscheint hier weniger als Grundrecht, denn als neue Bürgerpflicht: Wer seine Qualifikationen nicht durch regelmäßige Updates dem gesellschaftlichen Wandel anpasst, so die Drohung, wird mit Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung bestraft.

Damit die europäische Bildungspolitik ihren Namen verdient und nicht als Arm der Wirtschaftspolitik verkümmert, sollte der ökonomischen Perspektive endlich die Perspektive der Lernenden gegenüber gestellt werden. Eine eigenständige Bildungspolitik, der es darum geht, Durchlässigkeit zu schaffen und neue Bildungswege zu ermöglichen, die Persönlichkeitsentwicklung, Emanzipation und gesellschaftlichen Fortschritt als Ziele in den Mittelpunkt stellt und die Statusdenken aufbricht, muss sich allerdings zu allererst selbst von der europäischen Wirtschaftspolitik emanzipieren.

Sonja Staack ist Mitglied im Vorstand des Bundes demokratischer WissenschaftlerInnen (BdWi) sowie im Vorstand von ver.di Berlin.

[1] Europäischer Rat, Lissabon: Schlussfolgerungen des Vorsitzes, März 2000.

[2] Mitteilung der Europäischen Kommission an den Europäischen Rat und das Europäische Parlament: Effizienz und Gerechtigkeit in den europäischen Systemen der allgemeinen und beruflichen Bildung, September 2006.

[3] Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 zur Einrichtung des Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen, Amtsblatt der Europäischen Union vom 06.05.08 (2008/C 111/01).

[4] Vgl. hierzu: Nehls, Hermann: Noch kein Konsens bei der Konkretisierung eines Deutschen Qualifikationsrahmens, Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis (BWP), Nr. 2 / 2008.

[5] Rauner, Felix; Grollmann, Philipp: Einheitlicher Qualifikationsrahmen im Brügge/Kopenhagen-Prozess zwischen Schulabschluss und Kompetenz, in: Philipp Grollmann, Georg Spöttl, Felix Rauner: Europäisierung Beruflicher Bildung - eine Gestaltungsaufgabe, LIT Verlag, 2006.

[6] Der Entwurf für eine DQR-Matrix und grundlegende Informationen zum Stand der Einführung finden sich unter http://www.deutscherqualifikationsrahmen.de (abgerufen am 11.03.2009).

[7] Young, Michael: Auf dem Weg zu einem Europäischen Qualifikationsrahmen: Einige kritische Bemerkungen, in: Grollmann / Spöttl / Rauner 2006.