Perspektiven europäischer Umweltpolitik

Oder: Wenn keine, dann Fehler

Aus: Forum Wissenschaft 4/2008

 

Wie die Bundesrepublik innerhalb Europas, gilt Europa, auch die EU, im „Weltmaßstab“ gemeinhin als relativ vorwärts weisend in Sachen Umweltpolitik. Diese Bewertung lässt sich differenzieren. Sie differenziert sich besonders beim Herausarbeiten der Defizite europäischer Umweltpolitik – und bei der Benennung der Handlungsfelder, die zu eröffnen und auszuweiten wären. Udo E. Simonis skizziert notwendige Schritte.

 

 

Das Europa der 27 ist einerseits ein Subjekt und europäische Umweltpolitik insoweit die in diesen Ländern jeweils praktizierte Umweltpolitik. Und die ist, wie wir alle wissen oder ahnen, sehr heterogen: Es gibt unter ihnen Vorreiter, Sitzenbleiber und Nachzügler, es gibt höchst unterschiedliche Umweltbedingungen in Europa, und es gibt unterschiedliche Geschwindigkeiten der nationalen Politikformulierung und -implementierung. So wäre es denn ein Gutes, wenn in nächster Zeit die Sitzenbleiber in die Puschen kämen und die Nachzügler sich sputeten.

 

Das Europa der 27 ist andererseits aber auch Objekt – und europäische Umweltpolitik insofern die aus dem komplizierten Zusammenspiel der Nationalstaaten im Rat, des Europa-Parlamentes und der Europäischen Kommission entstehende gemeinsame Umweltpolitik. Diese europäische Umweltpolitik gilt im Allgemeinen als außerordentlich erfolgreich und hoch innovativ. Sie ist jedenfalls gegenüber der nationalen Umweltpolitik der Staaten immer bedeutender geworden. Rebecca Harms hat sie einmal gar als eine der tragenden Säulen der Europäischen Union bezeichnet.

 

Doch wie immer man die Qualität der europäischen Umweltpolitik bewerten mag: Sie hatte nicht nur progressive ins­titutionell-konstitutive Elemente, es gab auch situativ günstige Umstände, die sie formten. Dazu gehörten ein durchweg starker Umweltausschuss im Europäischen Parlament, meist günstige Mehrheitsverhältnisse im Umweltministerrat und schlicht einiges Glück mit der Vertretung der Umweltinteressen in der EU-Kommission.

 

Verändertes und Offenes

 

Situativ günstige Umstände können sich bekanntlich schnell ändern: zum Beispiel mit jeder neuen Wahl zum Europa-Parlament, der Neubesetzung der Kommission und der Bestellung des Umweltkommissars (bzw. einer -kommissarin). Institutionen sind hingegen eher langlebiger Natur, zumindest im Allgemeinen. Manche glauben, die entscheidende ins­titutionelle Innovation für die europäische Umweltpolitik eindeutig zeitlich bestimmen zu können. So wie in Deutschland das 1. Umweltprogramm der Bundesregierung von 1971 als Beginn der modernen deutschen Umweltpolitik gilt, so sieht man in der Verabschiedung des 1. Umweltaktionsprogramms der EG von 1973 die Geburtsstunde einer eigenständigen europäischen Umweltpolitik.

 

Obwohl die EG die ausdrückliche Kompetenz für Umweltbelange erst mit Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte im Jahr 1987 erhielt, erließ sie in der Zwischenzeit eine Vielzahl von Vorschriften, vor allem in den Bereichen Luft- und Wasserreinhaltung, Abfall und Lärmschutz. Mit dem Inkrafttreten der Verträge von Maastricht (1993) und Amsterdam (1999) waren dann die rechtlichen Grundlagen stark aufgewertet worden. Das Prinzip der Nachhaltigen Entwicklung fand Eingang in die Präambel und in die Grundsätze des EG-Vertrages. Die EU ist seither förmlich verpflichtet, ein hohes Schutzniveau der Umwelt einzuhalten, die Umweltqualität weiter zu verbessern und bei sämtlichen geplanten und getroffenen Maßnahmen die Umweltbelange zu berücksichtigen.

 

Richtlinien und Verordnungen waren und sind die beiden wichtigsten Formen der EU-Gesetzgebung. Anders als der deutsche Sprachgebrauch es vermuten lässt, ist eine Richtlinie aber kein allgemeiner Orientierungshinweis, sondern Gesetz. Eine EU-Richtlinie macht deshalb Entscheidungen der Parlamente der Mitgliedstaaten dringend erforderlich.

 

Gelegentlich hat man das Gefühl, es könnte an dieser Begrifflichkeit liegen, dass wir in Deutschland in Bezug auf verschiedene EU-Richtlinien – wie etwa die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie, die Wasserrahmenrichtlinie u.a. – so im Rückstand sind, dass Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof anstehen oder angedroht werden müssen. Überhaupt: Fehlende oder fehlerhafte Kommunikation ist ein wichtiges Problem im Zusammenhang mit unserem Thema. Spätestens an dieser Stelle entstehen erste wichtige Fragen zu den Perspektiven der europäischen Umweltpolitik. Wenn eine der zentralen Herausforderungen für die EU der 27 darin besteht, ohnehin schwer zu lösende Probleme mit noch mehr Teilnehmerstaaten und weiter auseinanderklaffenden Interessen und Ausgangsbedingungen anzugehen, dann ergibt sich daraus die Frage, mit Hilfe welcher rechtlichen Regelungen dies in Zukunft am besten geschehen sollte. Wird es mehr Ordnungsrecht oder mehr marktbasierte Lösungen geben müssen?

 

Doch es gibt schwergewichtigere und grundsätzlichere Fragen, insbesondere diese: Was ist das europäische Grundverständnis von Nachhaltigkeit, von sustainability, und nachhaltiger Entwicklung, also des sustainable development? Geht es dabei um das sog. „Drei-Säulen-Modell“, bei dem die Säulen Ökonomie, Gesellschaft und Ökologie nebeneinander stehen und irgendwie beachtet werden sollten? Oder aber geht es um das Modell der „Ökologie als Fundament“, auf dem sich Ökonomie und Gesellschaft irgendwie – und zwar möglichst optimal – einpassen müssen?

 

Im ersten Fall geht es um Äquivalenzen, um die Frage, was im konkreten Fall wie gewichtet werden soll: gleiches Gewicht, gleiche Größe für alle Dimensionen – oder aber trade-offs zwischen ihnen, je nach Lage der Dinge und politischer Priorität? Im zweiten Fall geht es um Ökologie als Primat, um den Erhalt des ökologischen Systems, zu dem das ökonomische und das soziale System nur Subsysteme sind. Dann entsteht allerdings die entscheidende Frage, ob und wie sich der Primat der Ökologie in einem von ökonomischen und gesellschaftlichen Interessen dominierten Europa jetzt und in Zukunft durchsetzen lässt.

 

Es gibt weitere Fragen, Fragen der Organisation und der Entscheidungsfindung im neuen Europa, vor allem die: Wird es Kompetenzverlagerungen horizontaler, vertikaler und regionaler Art geben müssen – und wie werden sie gehandhabt? Muss man das Einstimmigkeitsprinzip bei einem größeren Teil der zu treffenden EU-Entscheidungen aufgeben – und wie weit darf man dabei gehen? Wird man die nationale „ökologische Konjunktur“ akzeptieren müssen, die sich in gegenläufigen Entwicklungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten äußert? Muss man sich also nicht nur wirtschafts- und gesellschaftspolitisch, sondern auch umweltpolitisch auf ein „Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten“ einstellen?

 

Perspektiven in Thesen

 

All dies zeigt: Es gibt viele offene Fragen an Theorie und Praxis der zukünftigen Umweltpolitik. Wo vieles offen ist, bedarf es der Perspektiven, des Blicks für die relative Bedeutung der Dinge. Neben allem, was hierzu zu sagen wäre, wäre m.E. dreierlei bezüglich der zukünftigen europäischen Umweltpolitik besonders wichtig. Dazu im Folgenden drei Thesen.

 

      Die erste These: Mehr Partizipation!

Die europäische Umweltpolitik muss partizipativer werden. Wenn es in Zukunft um eine Umweltpolitik von und für Europäerinnen und Europäer gehen soll, muss das europäische Mehrebenensystem der Politik durchlässiger werden. Die Zivilgesellschaft und die ökologischen Basisbewegungen müssen sich stärker einbringen können, sich stärker „europäisieren“, um eine solche Europäisierung für stärkere Beteiligung nutzen zu können. Größere AkteurInnenvielfalt muss konstatiert und kommuniziert, neuartige Gouvernanzstrukturen müssen etabliert und akzeptiert werden. Immerhin sind sowohl im 6. Umweltaktionsprogramm als auch im kürzlich mit dem irischen Referendum abgelehnten EU-Verfassungsvertrag, dem Vertrag von Lissabon, neue Elemente bürgerInnennaher Politik vorhanden. So ist u.a. eine „Bürger-Initiative“ vorgesehen, wonach bei einer Beteiligung von mindestens einer Million EU-BürgerInnen die EU-Kommission zum Tätigwerden in einem bestimmten Themenfeld aufgefordert werden kann. Ein Klagerecht für Umweltverbände wurde im Lissabon-Vertrag hingegen nicht verankert – eines seiner Demokratiedefizite –, obwohl diese Verbände auf europäischer Ebene recht gut aufgestellt und auch zunehmend besser vernetzt sind.

 

    Zweite These: Mehr Welt-Umweltpolitik!

Die europäische Umweltpolitik muss kosmopolitischer, sie muss treibende Kraft einer Weltumweltpolitik werden. Die EU der 27 ist keine Insel, sie ist ein wichtiges, konstitutives Element des Weltganzen. Die europäische Umweltpolitik müsste daher perspektivisch das Ziel verfolgen, die erfolgte EU-Erweiterung stärker an das Prinzip der europäischen Eigenständigkeit zu knüpfen, und sich auf diese Weise gleichermaßen basisdemokratisch und kosmopolitisch stärker ausrichten.

Europa spielt bereits in Bezug auf einzelne globale Umweltprobleme eine wichtige Rolle, insbesondere beim Klimaschutz. Ziele zur Emissionsminderung wurden quantifiziert, die EU-Richtlinie zum Emissionshandel ist seit Oktober 2003 geltendes Recht, eine Ergänzungsrichtlinie in der Umsetzung. Diese Mechanismen können für die EU der 27 verstärkt angewendet und weiter „exportiert“ werden, selbst wenn das ­Kyoto-(Nachfolge-)Protokoll wegen der anhaltenden Verweigerung einiger Länder nicht erfolgreich sein sollte.

Die internationale Konferenz in Bonn 2004 zu Erneuerbaren Energien war ein erster Erfolg, dem der Rat, das Europäische Parlament und die Kommission mit fortschrittlichen Beschlüssen folgten. Wenn jetzt ganz Europa bei der Umsetzung der gesetzten Ziele „20-20-20“ mitzieht, dann wird es neue, starke wirtschaftliche und technische Allianzen geben, die den Ressourcenwechsel von den fossilen zu den erneuerbaren Ressourcen beschleunigen. Er könnte das fossile Zeitalter schneller zu Ende gehen lassen, als es die USA und die OPEC bisher zulassen möchten.

Das neue Europa müsste sich aber auch in anderen Bereichen der globalen Umweltpolitik stärker einbringen. Die biologische Vielfalt ist weltweit in hohem Maße gefährdet, das Wasser wird zunehmend knapp. Beim Thema biologische Vielfalt könnte Westeuropa viel von Osteuropa lernen. Und beim Thema Wasser geht es um konfliktreiche Lösungen wie öffentliches vs. privates Gut oder public private partnership. Hier gibt es in Europa Traditionen, die gepflegt werden könnten, die aber in Gefahr sind, abhanden zu kommen.

Dann ist da noch die globale Gouvernanzstruktur, die global environmental governance. Präsident Mitterand und Kanzler Kohl hatten, um einen Weltumweltfonds zu verhindern, einen eher bescheidenen, aber sehr nützlichen Umweltfinanzfonds an die Weltbank angebunden – die Global Environment Facility (GEF). Präsident Chirac hatte sich massiv für die Aufwertung des UN-Umweltprogramms (UNEP) hin zu einer funktionsfähigen Weltumweltorganisation, einer World Environment Organisation (WEO), eingesetzt. Kanzler Schröder und Kanzlerin Merkel, aber auch der EU-Präsident, haben ihn dabei nicht hinreichend unterstützt. Beim derzeitigen französischen Staatspräsidenten habe ich zum Thema einer Weltumweltpolitik noch keine Positionierung beobachten können.

 

     Dritte These: Thematische Erweiterung!

Die europäische Umweltpolitik muss sich auf neue Felder begeben. Die Entkoppelung von quantitativem Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch, die De-Karbonisierung (bzw.die low carbon economy), ist zu einer strategischen Kategorie der europäischen Umweltpolitik geworden. Dagegen ist trotz erheblicher wissenschaftlicher Vorleistungen De-Materialisierung (bzw. low material economy) bisher kein ­eigenständiges europäisches Projekt geworden, wenn man einmal von den ­Vorhaben zur EU-Chemikalienpolitik (REACH) absieht. Folglich müsste in Zukunft der überhöhte Stoffwechsel der Industriegesellschaft, der „industrielle Metabolismus“, verstärkt in den Blick genommen werden.

Der gesamte Materialaufwand (GMA) pro Durchschnitts-EuropäerIn liegt derzeit bei rund 52 Tonnen pro Jahr, der einzelnen Deutschen bei etwa 80 Tonnen, also anderthalb mal so viel; der Anteil der nicht-erneuerbaren Ressourcen an diesem Materialaufwand liegt sehr hoch: zwischen 79 und 97 Prozent, und das Transportvolumen ist enorm. Die Europäer haben also einen großen „ökologischen Fußabdruck“ und tragen einen schweren „ökologischen Rucksack“. Dieser Fußabdruck muss kleiner, der Rucksack muss leichter werden, und das nicht nur aus Gründen des Umweltschutzes, sondern auch aus Gründen der internationalen Gerechtigkeit.

Anders gefasst: Zur Wahrung der ökosystemaren Stabilität dürfen die Stoff- und Energieflüsse auch in Europa nicht weiter wachsen, sie müssen vielmehr sinken, und zwar unter fairer Beachtung der Lebens- und Konsuminteressen der zukünftigen Generationen und der bisher materiell zu kurz Gekommenen.

Eine thematische Erweiterung der europäischen Umweltpolitik ist aber auch angesagt jenseits aller technisch-ökonomischen Optionen. Es gibt auch natürliche Optionen im Umweltschutz, insbesondere Änderungen in der Landnutzung. Europa hat nicht nur erheblichen Bedarf an ökologischer Landwirtschaft, sondern auch an aktiver Waldpolitik und restriktivem Flächenmanagement.

 

… und was alles fehlt

 

Nachhaltige Entwicklung ist bei weitem noch nicht zu einem neuen Imperativ für Europa, zum Thema und Anliegen einer neuen Aufklärung geworden. Es fehlt ferner und weiterhin an Verständnis und Engagement für das Konzept bei der politischen Elite. Es fehlt auch an Partizipation der Basis bei seiner Umsetzung. Es mangelt an globaler Verantwortung für das Konzept wie an Verständigung über die Rolle, die Europa dabei in der Welt spielen sollte. Das Konzept wird weiterhin mehr als technisch, wirtschaftlich oder politisch einengend verstanden denn als Neudefinition und Erweiterung des „Entwick­lungsmodells Europa“.

 

Wer sich in diesem Europa eigener lebenwerter Zukunftsvorstellungen und einer vorstellungswürdigen Zukunft auf diesem Kontinent vergewissern will, sei an Nietzsches Satz erinnert: „Ein Leben ohne Musik ist ein Fehler“. Eine Analogie zu Nietzsches Satz dürfte dann sein: Ein Europa ohne Ökologiepolitik ist ein Fehler.

 

 

Udo E. Simonis ist Professor Emeritus für Umweltpolitikforschung am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Herausgeber des Jahrbuch Ökologie. Sein Beitrag für Forum Wissenschaft entstand aus der Bearbeitung seines Vortrags beim 10. Deutsch-Französischen Dialog über „Nachhaltige Entwicklung – Ein neuer Imperativ für Europa?“ vom Juni 2008 an der Europäischen Akademie Otzenhausen.