GESCHAFFT: MARXISMUSKORYPHÄE IN VERGESSENHEIT

Zum Tod von Adam Schaff

In der Ära nach Stalin war Adam Schaff international bekannt, er wurde Ehrendoktor der Pariser Sorbonne und der University of Michigan Ann Arbor – seinen Tod am 12. November 2006 in Warschau meldeten nicht einmal die linken Zeitungen.

Schaff galt einst als Chefideologe der polnischen Kommunisten, aber sogar seine Schriften, in denen er die marxistische Orthodoxie vertrat, las man als interessante Grenzüberschreitungen, die den Anschluß an aktuelle Debatten wahrten. Der Marxist in katholischen Gefilden mied die übliche, nur auf „Entlarvung“ setzende Auseinandersetzung mit der „bürgerlichen Ideologie“. In einer Aufsatzreihe, die 1961 als Buch erschien, widmete er sich mit Jean-Paul Sartre und konzedierte die Attraktivität des Existentialismus wegen der Leerstellen im Marxismus, der kollektivistisch das Individuum und die Balance zwischen Gleichheit und Freiheit vernachlässige: „Die Freiheit ist eine nicht minder wichtige Vorbedingung für die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit als die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Menschen“, hieß es in „Marx oder Sartre?“. In seinem Buch „Marxismus und das menschliche Individuum“ riskierte Schaff 1965 Anleihen bei Erich Fromm. Gegen diese Freiheits- und Humanismusdebatte im Nachbarland wappnete sich die DDR 1969 mit einem Sammelband „Das Menschenbild der marxistisch-leninistischen Philosophie“. SED-Chef Walter Ulbricht fürchtete, das bezeugen Stasiunterlagen, Schaff hätte schon Wolfgang Harichs Opposition 1956 inspiriert. Jorge Semprun schilderte in „Was für ein schöner Sonntag!“ Feriengespräche mit Schaff 1960 auf der Krim, und wie sowjetische Genossen ihm rieten, den Kontakt wegen dessen antisowjetischer Haltung abzubrechen. Nach der Antisemitismuskampagne gegen reformkommunistische Bestrebungen (F.A.Z. vom 9. März 1998) verließ Schaff, 1913 im galizischen Lemberg in einer jüdischen Juristenfamilie geboren, Polen; nach seiner Geißelung des „Kommunofaschismus“ schloß die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei 1984 ihn aus – Mitglied der Kommunisten war er seit 1935 gewesen, Gomulka hatte ihn 1956 sogar ins Zentralkomitee geholt. Über Österreich wirkte Schaff auf den deutschen Sprachraum ein. Ab 1963 leitete er in Wien ein UNESCO-Institut, im Club of Rome analysierte er globale Trends. In seiner „Einführung in die Semantik“, die in Ost- und Westdeutschland erschien, mokierte Schaff sich über ein Buch von Alfred Korzybski, der mit Sprachkritik „die Gesundheit der Gesellschaft im Gesamtergebnis erhöhen“ wolle, und es reizt, Schaffs Kritik des damaligen 800-Seiten-Wälzers heute auf die Sprachkritik-Bestseller Bastian Sicks zu beziehen.

Nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus erschienen Schaffs Bücher, in denen er neue Pfade nach Utopia suchte, in Spanisch: „Noticias de un hombre con problemas“ (1997), „Meditaciones sobre el socialismo“ (1999) und „El nuevo socialismo“ (2001). Das bewahrte deutsche Linke vor Schaffs Ansichten, daß der Stalinismus schon in Lenins Machtergreifung 1917 wurzele, daß die Märtyrerverehrung für „Che“ Guevara weltfremd und gefährlich sei, daß die Abschaffung der sowjetkommunistischen Parteien eine Befreiung darstelle und daß Helmut Kohl das Verdienst habe, Europa vor der US-Übermacht gerettet zu haben. Deutsch lieferbar ist noch Schaffs 1997 erschienene Autobiographie „Mein Jahrhundert – Glaubensbekenntnisse eines Marxisten“.

(Nachruf vom 26.11.2006 für "update")