Protektorat – "neue Protektorate"

PERIPHERIE-Stichwort

Seit dem Ende der Blockkonfrontation hat der Terminus „Protektorat" neue Aktualität gewonnen. Dem Anspruch nach sollen „neue Protektorate" oder „Treuhandschaften" helfen, Gebiete verfallender oder gänzlich fehlender Staatlichkeit zu stabilisieren (Menzel 1992: 209-212). Mittlerweile ist unverkennbar geworden, dass die Errichtung solcher Protektorate, von denen man besonders in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, im Irak und in Afghanistan, aber auch in Abchasien und Süd-Ossetien sprechen kann, selektiv und interessengeleitet erfolgt, sicher aber territoriale Kontrolle verändert und geopolitische Verschiebungen zur Folge hat.

Sinngemäß stellt die Rede vom „Protektorat" den „Schutz" in den Mittelpunkt, den eine überlegene Macht einem Gebiet und seinen Bewohnern angedeihen lässt. Die deutschen Kolonien wurden demgemäß im Kaiserreich in getreuer Übersetzung des lateinischen Terminus als „Schutzgebiete" bezeichnet, die Kolonialtruppen, die dort bis zum Völkermord gingen, als „Schutztruppe". Die Neubelebung dieses Terminus für die in Afghanistan eingesetzten Bundeswehr- und sonstigen NATO-Einheiten betrifft zwar einen rechtlich und verwaltungsmäßig anderen Sachverhalt, stellt aber zugleich (bestenfalls) einen neuen Gipfelpunkt der Geschichtsvergessenheit und Insensibilität dar. Dies unterstreicht zugleich die tiefe Fragwürdigkeit der zunehmenden Verschränkung zwischen Entwicklungs- und Sicherheitspolitik, die dort exerziert wird.

Zugleich bekräftigt dieser Sprachgebrauch den immer schon kaum verhüllt ideologischen Grundcharakter des Redens von Protektorat oder auch Schutztruppe. Es lohnt dennoch, sich des Kontextes ein wenig zu vergewissern. Streng begrifflich lassen sich im Kontext der kolonialen Expansion der westeuropäischen Staaten zu Ende des 19. Jahrhunderts ihrem staatsrechtlichen Status nach unterschiedliche Formen von „Kolonien" unterscheiden. Einige Territorien wie etwa Nord- und Südrhodesien, die heutigen Staaten Zambia und Zimbabwe, wurden unter der Ägide britischer Chartergesellschaften kolonisiert; bei diesem Modell, das auch Bismarck für die deutsche Kolonialexpansion ab 1884 zunächst verfolgte, beschränkte sich der metropolitane Staat auf eine allgemeine Garantie gegenüber der privatrechtlichen, doch mit hoheitsrechtlichen Kompetenzen ausgestatteten Gesellschaft. Der damit versprochene „Schutz" bezog sich also keineswegs auf die Einwohnerinnen und Einwohner des fraglichen Gebietes, sondern auf die Interessen der Chartergesellschaft und ihrer Investoren. Er betraf nicht zuletzt die Abgrenzung von territorialen Ansprüchen und Interessensphären gegenüber anderen Kolonialmächten. Zugleich aber bestand aufgrund der auf der Berliner Afrika-Konferenz 1884-5 verabschiedeten Prinzipien für die koloniale Aufteilung des Kontinents ein Interesse, durch Abschluss von meist als „Schutz- und Freundschaftsverträge" bezeichneten Abkommen mit einheimischen Königen oder Häuptlingen einen zumindest symbolischen Nachweis für die Kontrolle eines beanspruchten Territoriums zu erbringen. Auch wenn hier die Rechtssubjekte andere waren, wurde zumindest von den herumreisenden Pionieren, die sich um die Sammlung möglichst vieler solcher Verträge oftmals harte Konkurrenzkämpfe lieferten, der „Schutz" in erster Linie auf die Interessen des entsendenden Landes oder der Chartergesellschaft bezogen. Bezeichnenderweise wurde etwa im heutigen Namibia eine „Schutztruppe" in einer Situation aufgestellt, als wichtige Häuptlinge ihre Schutzverträge aufgekündigt und damit den Fortbestand der Kolonie sehr nachdrücklich in Frage gestellt hatten. Darauf folgte in den 1890er Jahren die militärische Durchsetzung des deutschen Herrschaftsanspruchs. Dennoch können derartige „Schutzverträge" heute als Ansatzpunkt für eine Argumentation gesehen werden, die vertragsschließenden Parteien hätten sich als Völkerrechtssubjekte gegenseitig anerkannt, was bedeutet, dass auch die späteren Kriegsverbrechen nach seinerzeit gültigem Kriegsvölkerrecht illegal waren (vgl. Jaguttis 2009).

Eine eingehendere, vor dem Hintergrund der knapp 30 Jahre effektiver deutscher Kolonialherrschaft vor allem in Afrika erarbeitete begrifflich argumentierende Studie (Müller 1913) betont denn auch, dass im strengen Sinne ein „Protektorat" die über eine sehr lockere Kontrolle hinausgehende staatliche Durchdringung eher ausschließe; weitere begriffliche Differenzierungen wie „Kronkolonie", „self-governing colony/territory" oder auch „Dominion", die nicht zufällig die weit aufgefächerte Situation gerade im britischen Kolonialreich zum Ausdruck brachten, verwiesen eher auf den Status der weißen Bewohner der Kolonien, denen unter diesen Statuskategorien unterschiedliche Vertretungs- und Selbstverwaltungsrechte bis hin zur faktischen Selbstregierung, anfangs unter Ausschluss der Außenpolitik, zugestanden wurden. Indigene blieben in aller Regel von solchen Rechten ausgeschlossen. Die „indirekte Herrschaft", die oft als Form der Respektierung und zugleich Ausnutzung lokaler Herrschaftsformen dargestellt wurde, verschleierte im Grunde weitgehende Eingriffe und durch die Kolonialmacht verursachte soziopolitische Transformationen.

Aus dieser Perspektive erscheint historisch die Rede vom Protektorat selbst innerhalb eines kolonialistischen Bezugsrahmens als weitgehend fiktiv und ideologisch. Die Neuauflage mit dem „Protektorat Böhmen und Mähren" vor 70 Jahren sollte dabei nicht vergessen werden. Wenn sich das ideologische Moment in erster Linie aus der Konfrontation solcher Fiktionen mit den Interessen, denen der „Schutz" diente, und der Praxis ergibt, mit der dieser Schutz effektiv gemacht wurde, so ist dies auch ein wichtiger Hinweis für eine kritische Analyse der neuerlichen Einrichtung von Protektoraten heutzutage. Der regelmäßige Rekurs auf die Menschenrechte, der den Kriegen im Kosovo, in Afghanistan und in Irak als Legitimation diente, ist allermindestens mit einer politischen Realität zu konfrontieren, die in diesen Fällen bereits auf eine Geschichte von einem halben bis zu einem vollen Jahrzehnt zurückblicken kann. In Bosnien-Herzegowina bleibt die Beendigung des faktischen EU-Protektorats in Form der letztinstanzlichen Position des Hohen Repräsentanten weiterhin fragwürdig. Die Realität von Folter und Geheimlagern schlägt dem Anspruch, Menschenrechte zu schützen, ins Gesicht. So ergibt sich eine ideologische Konstellation, die jener der „alten" Protektorate vor 130 Jahren durchaus vergleichbar ist: Wurde damals mit Sklavenhandel und fortwährenden afrikanischen Kriegswirren argumentiert, so jetzt neben den Wirren mit der Verletzung der Menschenrechte, die heute ebenso wenig durch Militäraktionen und Besatzung beendet wird wie damals die Sklaverei. Es bleibt als Herausforderung die sorgfältige Analyse der Motivations- und Interessenlagen im Einzelnen, die neben leicht fasslichen geopolitisch motivierten Strategien auch das Interesse von Cliquen oder partikularen Kapitalgruppen wie Halliburton oder Blackwater betreffen können, oder auch um schlichte Fehleinschätzungen. Es gehört aber auch die Selektivität dazu, mit der nach der Schlappe von 1992 eine Intervention oder die Errichtung eines Protektorats etwa über Somalia sorgfältig vermieden wird, obwohl die Voraussetzungen sowohl im Hinblick der Brisanz des Staatsversagens als auch der Menschenrechtsproblematik wohl eher gegeben wären als in den genannten aktuellen Fällen.

Ungeachtet ihrer Belastung durch die Kolonialgeschichte scheint die Rede vom Protektorat eine gewisse Anziehungs- und Überzeugungskraft zu bewahren, auch wenn längst nicht mehr die Rede von der Ausdehnung einer einzelstaatlichen Kontrollsphäre ist, sondern vielmehr von der Errichtung multilateraler Protektorate. Der ideologische Gehalt solcher Argumentationen jedoch gleicht bei Austausch weniger Versatzstücke verblüffend den Rechtfertigungsstrategien der letzten Welle des europäischen Kolonialismus vor 130 Jahren. Dennoch bestehen entscheidende Unterschiede zwischen einer von Einzelstaaten ausgehenden Kolonisierung einerseits und der Errichtung multilateraler Protektorate. Ein solcher gleichsam kollektiver Imperialismus (vgl. Kößler 2003; Roth 2009: 191-194) nämlich impliziert wesentliche Modifikationen interimperialistischer Konkurrenz, die freilich nicht den ideologischen Charakter des Schutz-Diskurses betreffen.

Reinhart Kößler

 

Literatur

Jaguttis, Malte (2009): „Wege zu einer völkerrechtlichen Verhandlung der Herero-Klage jenseits der Maßstäbe kolonialer Selbstbeschreibung?" In: Dierk Schmidt (Hg.), Die Teilung der Erde, Tableaux zu rechtlichen Synopsen der Berliner Afrika-Konferenz. Köln (i.E.).

Kößler, Reinhart (2003): „Imperialismus und Globalisierung. Anmerkungen zu zwei Theoriekomplexen". In: Pokal 133, S. 521-544.

Menzel, Ulrich (1992): Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der großen Theorie. Frankfurt a.M.

Müller, Hans (1913): Begriff und Wesen der Kolonie und verwandte Begriffe unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Schutzgebiete. Berlin.

Roth, Karl Heinz (2000): Die globale Krise. Band 1 des Projekts „Globale Krise - Globale Proletarisierung - Gegenperspektiven". Hamburg.

 

Peripherie Nr. 116, 29. Jg. 2009, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, S. 469-472
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