Straffreiheit für gleichgeschlechtliche Sexualität

Am 2. Juli 2009 gab der Delih High Court einer im öffentlichen Interesse erhobenen Klage (sog. Public Interest Litigation) statt, mit der die Naz Foundation einen Verstoß der Section 377 des Indian Penal Code (IPC) gegen die Indische Verfassung rügte (Az. WP 7455/2001). Bei der Klägerin handelt es sich um eine Nichtregierungsorganisation, die sich für HIV-infizierte Menschen einsetzt und über sexuell übertragbare Krankheiten informiert. Die mit „Unnatural Offences" überschriebene Section 377 IPC droht empfindliche Freiheitsstrafen für „widernatürlichen" Geschlechtsverkehr an. Als widernatürlich im Sinne der Norm gelten traditionell alle sexuellen Praktiken außer der vaginalen Penetration einer Frau durch einen Mann.

Die Strafnorm ist ein Lehrstück des leidvollen Fortwirkens der europäischen Kolonialisierung. Der IPC wurde 1860 von der Britischen Krone eingeführt. Die Kolonialherren übertrugen damit die in der christlichen Moral wurzelnde Sexualfeindlichkeit auf eine größten Teils hinduistische Gesellschaft, in der auch gleichgeschlechtliche Sexualität offen praktiziert werden konnte. Damit einher ging die Übernahme des in der abendländischen Moderne entstandenen Konzepts von „Homosexualität" als Krankheit. Dank der Pathologisierung und Kriminalisierung über einen Zeitraum von beinahe 150 Jahren sind „die Homosexuellen" heute außerhalb der indischen Metropolen eine marginalisierte Gruppe, gegen die erhebliche Vorbehalte bestehen.

Der Delih High Court entschied, dass die bisherige Auslegung von Section 377 IPC in doppelter Hinsicht gegen die Indische Verfassung verstößt. Zum einen bedeute sie eine Ungleichbehandlung der gleichgeschlechtlichen sexuellen Praktiken, die mit den Gleichheitsgrundsätzen in deren Art. 14 und 15 nicht zu vereinbaren sei. Zum anderen stelle sie einen Eingriff in die persönliche Freiheit dar, der nicht nach Art. 21 durch ein überzeugendes staatliches Interesse gerechtfertigt sei. Das Gericht verfügte daher eine neue Auslegung. Als widernatürlich seien nur noch sexuelle Praktiken zu betrachten, die nicht auf gegenseitigem Einverständnis beruhen.

An diese Präzedenz-Rechtsprechung sind alle Gerichte im Bundesstaat Delih unmittelbar gebunden, da der High Court diesen als Obergericht vorgesetzt ist. Als „persuasive precedent" kann das Urteil aber auch für alle anderen indischen Gerichte und den gesamten Rechtskreis des Common Law Bedeutung gewinnen. Bereits am 9. Juli 2009 wurde gegen das Urteil Revision beim Supreme Court beantragt, dessen Entscheidung dann für alle indischen Gerichte bindend ist.

Philip Rusche, Berlin