Randglossen zum Rätediskurs

Von der 'Kommune' zur 'generalisierten Selbstverwaltung'*

in (30.03.2010)

Im Jahre 1992 prophezeite Francis Fukuyama „the end of history" - den Untergang der Hegelschen Dialektik, das Ende jedweder fundamentaler, gesellschaftlicher Widersprüche - und untermauerte dadurch die neoliberale Doktrin der ökonomischen, wie politischen Alternativlosigkeit, die bereits in Margaret Thatchers Losung: „there is no alternative" (s. g. TINA-Prinzip) ihren Ausdruck fand. „Das Ringen um eine gesellschaftliche Utopie" (Negt 2009) schien damit in weite Ferne gerückt zu sein.

Anarchistische Strömungen sprachen diesbezüglich von einer logischen Konsequenz bzw. theoretischen Zwangläufigkeit autoritär-marxistischen Denkens. Nach ihrer Auffassung war die „revolutionäre Diktatur des Proletariats" (Marx 1875, zit. 2004: 199), wie es sich im russischen Sowjetsystem offenbarte, Sinnbild einer Klassenherrschaftsmaschinerie, die unter dem Vorwand der Befreiung, ein System der Unterdrückung schuf.

Mit Blick auf Entstehung und Verlauf der russischen Sowjets, keine abwegige Schlussfolgerung, doch bedarf es in diesem Zusammenhang einer genaueren historischen Betrachtung. Denn das Sowjetsystem der Bolschewiki (speziell ab 1921) sollte nicht als Sperrspitze der Rätebewegung verstanden werden, vielmehr als theoretische Etappe eines langwierigen, proletarischen Emanzipationsprozesses, beginnend im Jahre 1871.

Die Pariser Kommune (1871) war nicht nur für Karl Marx ein Ereignis von „welthistorische[r] Wichtigkeit" (Marx 1871, zit. 1959: 102), auch für die Jugend- und Studentenbewegung der 1960er Jahre stellte die womöglich erste Volksherrschaft im Interesse der arbeitenden Majorität einen essentiellen historischen Bezugspunkt dar (vgl. Allmendinger 2009). Eine umfassende Skizzierung der Rätebewegung, vor allem hinsichtlich der Vielzahl an theoretischen Strömungen, vermag dieser Beitrag nicht zu leisten. Vielmehr soll in exemplarischer Form versucht werden, Möglichkeiten, Chancen und Problemfelder des Rätegedankens aufzuzeigen, unabhängig von gängigen Vorurteilen und Missverständnissen - auch innerhalb der deutschen Linken.

 

Das Marxsche Kommunemodell: Ein theoretischer Abriss

Versuche in Marx` Werken Perspektiven und Ansatzpunkte einer befreiten Gesellschaft zu finden, enden meist in einer mühseligen Zusammenfassung seiner Abhandlung „Bürgerkrieg in Frankreich", einer Schrift, die als theoretischer Widerhall der Pariser Kommune zu werten ist - nicht mehr und nicht weniger. Zahlreiche Ausführungen des Verfassers sollten mit Vorsicht betrachtet werden, insbesondere die Marxsche Betonung der Kommune als „Werk der Arbeiterklasse" (Marx 1875, zit. 2004: 192) bzw. als vollendete „Regierung der Arbeiterklasse" (Marx 1871, zit. 1972a: 77). In diesem Zusammenhang wies bereits Oskar Anweiler in seiner Analyse über die russische Rätebewegung der Jahre 1905-1921 darauf hin, dass Marx durch seine glorifizierenden Ausführungen - „die größte Revolution unseres Jahrhunderts" (Marx 1871, zit. 1972b: 178) - nicht unerheblich die „Entstehung eines Kommune-Mythos" (Anweiler 1958: 17) begünstigte oder wie es Arthur Rosenberg ausdrückte „den kommenden Bewegungen des werktätigen Volkes eine bedeutende Tradition" (Rosenberg 1962: 173) modellierte.

Was ist Wahrheit, was ist Fiktion? Diese Fragen sind im Hinblick auf die 72 Tage währende Kommune schwer zu beantworten, vor allem wenn man bedenkt, dass die Marxsche Analyse keine Zusammenfassung eigener Erfahrungen und Erlebnisse darstellt; Marx lebte zu diesem Zeitpunkt im Londoner Exil, war somit auf zusätzliche Informationsquellen aus Paris angewiesen.

Trotz der eingebrachten Vorbehalte soll jedoch, mehr als theoretische Einführung, denn als historisch fundierte Analyse, versucht werden, die wesentlichen Grundelemente der Marxschen Kommuneverfassung darzulegen:

„Fusion der Staatsgewalt" (Schmidt 2000: 168): Legislative, Exekutive und Judikative lag in den Händen der „arbeitenden Körperschaft" (Marx 1871, zit. 1972b: 72), d. h. des Rats der Kommune. Das parlamentarische Prinzip der Gewaltenteilung wurde dementsprechend aufgehoben. Dadurch sollte, wie Lenin es in seinem Werk „Staat und Revolution" ausdrückte, dem „korrupten und verfaulten Parlamentarismus der bürgerlichen Gesellschaft" (Lenin 1917, zit. 1948: 51) ein Ende gesetzt werden.

Direktdemokratisches Organisationsgefüge: Die gewählten Volksvertreter besaßen ein imperatives Mandat, sie waren jederzeit absetzbar bzw. abrufbar und an die Weisungen der Wählerbasis gebunden, dem Wählerwillen unmittelbar unterworfen. Gleiches galt für die Besetzung (Direktwahl-Prinzip) von öffentlichen Ämtern, bspw. von richterlichen Beamten. Abgeordnete sollten, so die weiterführende Theorie der Kommunarden, aus den Landgemeinden, in die Bezirkshauptstädte, von dort in die jeweiligen Bezirksversammlungen (Bezirks- und Stadträte) und schlussendlich in die Nationaldelegation nach Paris entsandt werden. Versuche der Machterweiterung hätten durch den pyramidenartigen Aufbau und der dezentral-föderalistischen Gesamtstruktur verhindert werden können. 

Ämterrotation: Um einer Widererstarkung der Bürokratie und alter Führungsschichten entgegenzuwirken, wurde eine kontinuierliche Rotation der Ämter eingeführt. Amtsinhaber mussten periodisch ihre Posten räumen und waren darüber hinaus stets den Weisungen der s. g. „Stimmbürger und Stimmbürgerinnen" (Demirovic 2009) untergeordnet.

Enteignung: In Folge der „Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse" (Schmidt 2000: 166) kam es in Paris zur Aneignung von Produktionsmitteln. Die angestrebte „Enteignung der Enteigner" (Marx: 1871, zit. 1972a: 78), d. h. der Kapitaleigner/Bourgeoisie, blieb allerdings im Belagerungszustand marginal. Nur wenige Produktionsstätten, meist jene, deren Besitzer bereits geflüchtet oder verzogen waren, gingen in „Arbeiterhände" über.  

Religion: Die Kommune proklamierte eine strikte Trennung von Staat und Religion; kirchliche Wertgüter sollten enteignet, das Bildungswesen von den „auferlegten Fesseln" (Marx: 1871, zit. 1972a: 73) der Kirche befreit werden.

Militär/Polizei: Nach dem ersten Dekret des Rates der Kommune wurden Heer und Polizeiapparat entwaffnet und durch eine so genannte Volksmiliz bzw. eine Nationalgarde in den Händen des werktätigen Volkes ersetzt.

Besoldung: Beamte der Kommune erhielten eine Entlohnung gemessen an dem Durchschnitteinkommen eines Arbeiters.

Ökonomie: In diesem Bereich konnten nur wenige Beschlüsse umgesetzt werden; u. a. die Aufhebung des Geldstrafsystems am Arbeitsplatz, der Erlass fälliger Mieten und verpfändeter Gegenstände, die Einführung kostenfreier Schulbildung und das Verbot der Nachtarbeit in Pariser Bäckereibetrieben.

 

Rätedemokratie und ihre theoretischen Problemfelder

Bedingt durch den Belagerungszustand fanden nur wenige Ideen und Gesetzesentwürfe der Kommunarden ihre Umsetzung. Was blieb, war die „spontane Aktion der Volksmassen" (Gottschalch 1968: 23) als Musterbeispiel einer intuitiven Selbstorganisation des Proletariats. Ungeachtet der „bemerkenswerten" Leistung der Kommunarden, obliegt es jedoch einer kritischen Analyse sowohl Fehlerquellen als auch Konfliktbereiche zu benennen. Um es in den Worten Kurt Tucholskys zu sagen: „Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre schlecht machen".

Bereits Pjotr Lawrowitsch Lavrov kritisierte in seiner Abhandlung „Die Pariser Kommune vom 18. März 1871" (1880, zit. 1971) vor allem die mangelnde Organisationsstruktur und militärische Inkompetenz der Kommune. So notierte er einige Jahre nach den Pariser Ereignissen: „Paris war in den Händen des Proletariats, seine Führer jedoch, hilflos gegenüber ihrer plötzlich unerwartenden Macht, trafen nicht einmal die elementarsten Maßregeln" (Lavrov 1880, zit. 1971: 81). Michail Bakunin sah hingegen gerade im antiautoritären Charakter der Kommunarden ihre eigentliche Stärke. Seiner Meinung nach war die Pariser Kommune ein Sieg der anarchistischen Idee über die „verordnete Revolution" (Bakunin 1871, zit. 2002: 6) des Marxismus, dessen Anhängerschaft stets die „Praxis der Autorität" (ebd.: 9) bevorzugen würde.

Nur begrenzt lassen sich hier die weitreichenden Diskussionen bzw. Interpretationen über Erfolg und Misserfolg der Kommune wiedergeben. Daher möchte ich anhand dreier Fallbeispiele versuchen, die wesentlichen Problemfelder hervorzuheben und in den theoretischen Gesamtzusammenhang der Rätebewegung einzuordnen.  

 

Problemfeld: Stimmrecht

Wer wird in die Räte gewählt und darf über gesellschaftliche Belange mitentscheiden? Diese Frage zieht sich durch eine Vielzahl rätetheoretischer Überlegungen des 20. Jahrhunderts. Nach Marx sollte die Mehrheit der Räte „direkt aus dem Proletariat rekrutiert" (Schmidt: 2000: 171) werden, d h. den „anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse" (ebd.). Doch welche gesellschaftlichen Gefüge bildeten die Einheit der Arbeiterschaft? Wer ist Arbeiter; wer nicht?

Ernst Däumig beschrieb das revolutionäre Subjekt der Räte als Gemeinschaft der „Hand- und Kopfarbeiter" (Däumig 1920, zit. 1973: 80), führte hingegen nicht an, inwieweit Kleinbürger, Arbeitslose (ist bspw. die Mitbestimmung von Arbeitstätigkeit abhängig?), Rentner, Hausfrauen/Hausmänner, Selbstständige, Bauern, Beamte oder Angestellte ein Wahlrecht bekommen würden und wenn ja, ab welchem Alter? Max Adler zog einen etwas weiteren Rahmen und begriff alle „ökonomisch entscheidenden Schichten" (Adler zitiert nach Demirovic 2009) als stimmberechtigt. Damit involvierte er in gewisser Weise die Klasse der Kapitaleigner in den Räteprozess, obgleich er sich bewusst war, dass eine erneute Machtübernahme der Bourgeoisie verhindert werden müsse. Ein Ausschluss gesellschaftlicher Gruppen, seien es auch (bourgeoise) Minderheiten, wäre wider des offenen, direkt-demokratischen Räteprinzips; eine Beteiligung des „Klassenfeinds" an proletarischer Interessensartikulation, in Verbindung mit innerbetrieblichen Aufstiegsmöglichkeiten und einem Mitspracherecht in Produktionsfragen, wider der antikapitalistischen Zielsetzung.

Wie nun das Stimmrecht regulieren und die klassentheoretischen Konfliktbereiche lösen? Bei Marx´ Interpretation der Pariser Kommune galt noch das allgemeine Stimmrecht (vgl. Marx, Karl 1871, zit. 1972a), wenngleich er davon ausging, dass sich die Mehrheit der Rätedelegierten „aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse" (Marx 1871, zit. 1972a: 72) zusammensetzen würde - sinnbildlich für den Klassenkonflikt zwischen bourgeoiser Minorität und proletarischer Majorität. 

 

Problemfeld: Interessensvertretung

Wie bereits oben skizziert, waren die Räteabgeordneten der Kommune direkt, in Form eines imperativen Mandats, ihrer Wählerbasis unterstellt. Sie galten als ausführende Organe des Basiswillens, jederzeit abrufbar (recall) und ständiger Rechenschaft verpflichtet. Der Rat der Pariser Kommune sollte (nach Marx) ein Entscheidungsgremium der Arbeiterklasse sein, ohne Führungseliten und interne Machtkonstellationen, selbstorganisiert und weitestgehend hierarchiefrei. Die Unterbindung von „Wissens- und Kompetenzmonopol[en]" (Demirovic 2009) oblag der Selbstregulierung, d. h. der freiwilligen Unterordnung im Interesse der Gemeinschaft, und Informationsvermittlung von oben nach unten, von den Führungsgremien der Nationaldelegation zur Basis in den Betriebsräten und Landgemeinden. Der Gefahr betrieblicher Egoismen (bspw. bezüglich der Arbeitsbelastung, Rohstoffverteilung oder Produktentwicklung; vgl. Gottschalch 1968: 41), kommunaler Interessenskonflikte und wirtschaftlicher Kooperationsproblematiken (bspw. des Führungsanspruchs einzelner Wirtschaftsregionen) setzte man die „Bewegung einer allgemeinen Erneuerung der Menschheit" (Demirovic 2009) entgegen; koppelte somit den Erfolg des Rätesystem an die Leitidee eines „neuen Menschen", der Politik nicht mehr nur als Selbstzweck sehen würde.

Anspruch und Wirklichkeit der Räteidee lagen oft weit auseinander. Der Misserfolg der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung ist hierfür das beste Beispiel:

Probleme im Informationstransfer zwischen oberer und unterer Räteebene waren keine Seltenheit. Vielfach konnten Entscheidungen des Verwaltungsausschusses bzw. des Direktors, als direkt gewähltes Führungsorgan der Belegschaft, nicht auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden - die hiefür benötigten Kontrollapparaturen wurden der Arbeiterschaft stets verwehrt (vgl. u. a. Kevenhörster 1971: 34 f.). Das Fehlen einer alternativen Informationsquelle, abseits kaderspezifischer Informationssphären, schuf Misstrauen und politisches Desinteresse. Dadurch verschob sich die eigentliche Machtinstanz schrittweise zugunsten der „neuen Klasse der `roten Bourgeoisie´" (Kohl 1972: 15), die innerbetriebliche Planungs- und Verwaltungsstrukturen parteipolitischen Konzepten unterordnete und basisnahe Entscheidungsprozesse nachhaltig „delegitimierte". 

 

 

Problemfeld: Politik und Ökonomie

Gerade in der Phase der Konstituierung von Rätestrukturen besteht die besondere Schwierigkeit, ungelöster demokratischer Legitimations- und Machtfragen. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um ein kompliziertes Wechselspiel von politischen und ökonomischen Einflusssphären, auch als „System der Doppelherrschaft" bezeichnet.

Des Öfteren wird dieser Prozess als Übergangsperiode wahrgenommen, in der die alten (Parlamente/Parteien) und neuen (Arbeiter-, Bauern und Soldatenräte) Institutionen um staatliche Einflussbereiche ringen. Die Annahme, es würde sich dabei um die Frage zwischen „Parlamentarismus und Rätedemokratie" handeln, verzerrt allerdings den eigentliche Kernbereich und verkennt die betriebliche Verankerung der proletarischen Basisbewegung; oder wie Marx es ausdrückte „die sich selbst verwaltende Assoziation [der Arbeiterschaft]" (Engels/Marx 1948, zit. 2003: 14).

Wie Alex Demirovic berechtigter Weise herausstellt, ist die Phase der Doppelherrschaft auch eine Phase „doppelter Souveränität, im Bereich Wirtschaft mit den funktional bestimmten Räten, in der Politik mit den territorial verankerten Parteien" (Demirovic 2009). Folgt man dem Marxschen Ideal einer „Totalpolitisierung" (Schmidt 2000: 171) gesellschaftlicher Verhältnisse, so lässt sich die Frage aufwerfen, inwieweit überhaupt eine Verschmelzung ökonomischer und politischer Entscheidungsebenen ermöglicht werden könnte. Bereiche wie Bildung (Erziehung), medizinische Versorgung, öffentliche Sicherheit oder Verkehr (Infrastruktur) könnten nur geringfügig im Rahmen von regionalen/lokalen Produktionsprozessen (Räten) bearbeitet werden.

Udo Bermbach, der bereits in vielfacher Weise auf Problematiken des Rätegedankens hingewiesen hat (vgl. u. a. 1973: 154 ff.), äußerte diesbezüglich vor allem globalisierungsspezifische Bedenken und betonte die „fast vollständige Vernachlässigung des Faktums, daß alle heutigen Gesellschaften in hohem Maße international verbunden und eingebunden" (Bermbach 1994: 131) seien. Die Schlussfolgerung wäre demnach die „endgültige", wohlgemerkt globale, politische und wirtschaftliche Befreiung, zusammengefasst in einer gesellschaftlichen Einheit von Produktion und Mitbestimmung. Der italienische Politikwissenschaftler Giovanni Sartori brachte, in seiner Skizzierung des Marxschen Leitbilds, diesen Prozess der politischen Homogenisierung gekonnt auf den Punkt. Danach sind Marx´ Gedanken fixiert auf „eine staatsfreie, spontane harmonisierte Gemeinschaft, die auf wirtschaftlichem Überfluß beruht. Politisch wird die totale Freiheit (...) durch das Verschwinden der Politik erreicht, wirtschaftlich als Befreiung von allen Zwängen - man könnte fast sagen, durch das Verschwinden der Ökonomie" (Sartori 1992: 439 f.).    

Konsumorientierung und Produktionsplanung wären auf die oberste Entscheidungsebene verlagert, unter ständiger Rückkopplung zur Wählerbasis. Ein interessanter Gedanke wäre in diesem Zusammenhang die Möglichkeit einer Konsum- bzw. Arbeitsverweigerung, in Paul Lafargues Worten: „Das Recht auf Faulheit" (Lafargue 1883, zit. 2003) oder besser gesagt, die individuelle Freiheit sich am Gemeinwesen beteiligen zu können, aber nicht zu müssen. Engels wie im späteren Nikolaj Bucharin schlossen eine Abkehr bzw. Rückzugsmöglichkeit grundsätzlich aus (vgl. u. a. Bucharin 1920, zit. 1990: 117 und Engels 1891, zit. 1972: 209). Die allgemeine bzw. gleiche Arbeitspflicht, soweit nicht durch Krankheit und Alter beschränkt, sollte zentrales Element betrieblicher Solidarität sein.

 

Räte-Rezeption innerhalb der 68er-Bewegung    

Wie nun mit theoretischen Problembereichen des Rätegedankens umgehen? Welche Rückschlüsse aus historischen Fehlerquellen ziehen?

Ein Rückblick auf die im SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) geführten Organisationsdiskurse der Jahre 1966-69 ist hier sehr lohnenswert, denn er bietet, bei genauerer Betrachtung, vor allem Ansatzpunkte für rätetheoretische Überlegungen der Gegenwart. Oftmals wird diese „Renaissance des Rätegedankens" (Bock 1976: 242), d. h. die umfassende historische Aufarbeitung der Räte-Idee, seitens der 68er-Forschung mit Missachtung und Desinteresse bestraft (Ausnahmen bilden u. a. Kraushaar 2008: 141-149 und Bock 1976: 205-257). Dabei waren die zahlreichen Versuche einer theoretischen Aktualisierung vergangener, proletarischer Organisationsmodelle keine außerparlamentarische Randerscheinung. Ausgehend von der Münchner „Aktion der Rätesozialisten", dem „Arbeitskreis Bürokratie und Rätesystem im Republikanischen Club", der Berliner „Projektgruppe Räte", der „Aktionsgruppe der Rätekommunisten" und dem ebenfalls in Berlin operierenden „Institut für Praxis und Theorie des Rätekommunismus", formierten sich, speziell innerhalb des SDS, zahlreiche rätetheoretische Schaltstellen.

Entgegen der eigenen Erwartungshaltung (vgl. u. a. Albers 1968: 46) blieben jedoch Rätekonzeptionen innerhalb APO (Außerparlamentarischen Opposition) eine Seltenheit; erwähnenswerte Ausnahmen sind hier lediglich das „Modell der drei Ebenen und zwei Räte" des Hamburger SDS-Delegiertenkollektivs (vgl. SDS-Hamburg 1968), die Idee einer „generalisierten Selbstverwaltung" der SI (Situationistischen Internationalen; vgl. SI 1970) und das von Dutschke, Semler und Rabehl skizzierte „Modell einer Räterepublik in Westberlin" (vgl. Dutschke et al. 1968). Als sozialistische, radikaldemokratische Gegenentwürfe zur parlamentarischen Interessensartikulation blieben die „68er-Modelle", aufgrund ihres oberflächlichen, leicht angreifbaren Theoriegerüsts, weitestgehend ungeeignet. Ihre eigentliche theoretische „Stärke" oblag vielmehr in ihrem kreativen Umgang mit konzeptionellen Problemlagen des Rätesystems. Auf einige der interessantesten Lösungsansätze sei folgend hingewiesen:

Stimmrecht: Schließt man bourgeoise Elemente aus proletarischen Entscheidungsprozessen aus oder offeriert man ihnen Beteiligungsmöglichkeiten in entstehenden Rätestrukturen?

In den theoretischen Überlegungen der SI wurde ein Teilhabeverbot bestimmter „Tendenzen" nicht in Erwägung gezogen (vgl. SI 1970: 35). Das bereits von den Kommunarden 1871 formulierte, „allgemeine Stimmrecht" galt den Situationisten als demokratischer Richtwert; ganz im Gegenteil zu Bernd Rabehls Forderung Besitzbürger in kapitalistische Reservate auszuweisen (vgl. Rabehl 1968: 42). An diesen Gedanken knüpfte in gewisser Weise auch die spätere Betriebsbasisgruppenbewegung an, die eine direkte und betrieblich fokussierte Kooperation von kleinbürgerlicher, studentischer Intelligenz und Arbeiterklasse herzustellen versuchte. Die proletarische Majorität, so die überwiegende Auffassung der situationistischen Rätetheoretiker, verhindere letztlich die erneute Einflussnahme des Kapitals. Eine Einschränkung des Wahlrechts, auch im Zusammenhang einer offenen, basisdemokratischen Leitlinie, wäre daher nicht weiter erforderlich.

Interessensvertretung: Um Kommunalen Interessenskonflikten, betrieblichen Egoismen und kaderähnlichen Führungsapparaten vorzubeugen, entwickelte das SDS-Delegiertenkollektiv Hamburg ein Konzept der Streuung von organisatorischen Befugnissen und Einflussbereichen. In einem stetigen Wechselspiel von „Projekt-, Regional- und Verbandsebene" und „Projekt- und Zentralrat" (Modell der drei Ebenen und zwei Räte), bei ständiger Kontrolle und Abwählbarkeit der jeweiligen Rätedelegierten, sollten Zentralisierungstendenzen grundlegend vereitelt werden. Der Gefahr einer Herausbildung lokaler Machtsstrukturen begegnete man - dies sie als eine rätetheoretische Besonderheit hervorgehoben - mit einer permanenter Rotation des Tagungsorts (vgl. SDS-Hamburg 1968: 68).

Politik und Ökonomie: Die Aneignung der Produktionsmittel, die Abschaffung der bürokratischen Verwaltung und die Stärkung des Arbeitsbereichs sollten nicht nur als Kernelemente der SI betrachtet werden. Ideen einer Aktivierung betriebsinterner Konflikte sowie einer Selbstorganisation betrieblicher Interessensvertretungen (bspw. in Form autonomer Betriebsräte) ziehen sich quer durch die rätetheoretischen Überlegungen der APO; seien es traditionalistisch oder antiautoritär geprägte Organisationsdiskurse. Speziell der ökonomische Charakter vergangener Rätemodelle lag dabei im Zentrum der strategischen Auseinandersetzungen. In einer Phase der Doppelherrschaft von Wirtschaftsrätesystem und Parlamentarismus sollten sich aus den betrieblichen Basisgruppen spezielle Branchenräte (vgl. Rabehl 1968: 42) oder Wirtschaftssektionen (vgl. SI 1970: 35) entwickeln, die in letzter Konsequenz die politische Institution Bundestag zu ersetzen hätten.

Für Dutschke konnte, in Anlehnung an die Pariser Ereignisse von 1871, eine derartige „Produzenten-Demokratie" (Dutschke 1968: 21) nur in Form einer Berliner Kommune vollzogen werden. Eine „Freie Stadt West-Berlin" (Karl 2003: 21) war nach seiner Auffassung der ideale revolutionäre Orientierungspunkt; sowohl aus nationaler wie internationaler Perspektive.  

 

 

Literaturangaben

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Negt, Oskar (2005): Lafontaine ist eine tragische Figur, Interview. In: Die Zeit, 23. Juni 2005/Nr.26.

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Weiterführende Materialhinweise

 

1) Allmendinger, Björn (2009): „Brecht dem Schütz die Gräten, alle Macht den Räten". Die Rätebewegung - historische Inspiration und theoretische Bürde der 68er-Bewegung. Marburg.

 

2) Bock, Hans Manfred (1976): Geschichte des `linken Radikalismus´ in Deutschland. Frankfurt/Main: 205-257.

 

3) Demirovic, Alex (2009): Rätedemokratie und das Ende der Politik. In: Prokla Nr. 155/Jahrgang 39. Online unter: http://www.prokla.de/wp/wp-content/uploads/2009/07/demirovic.pdf [Stand: 25.03.2010].

 

4) Hans Magnus Enzensberger (1968): Konkrete Utopie. Zweiundsiebenzig Gedanken für die Zukunft. In: Kursbuch 14/1968: Kritik der Zukunft. Frankfurt/Main: 110 - 145.

 

5) Pannekoek, Anton (2008): Arbeiterräte. Texte zur Sozialen Revolution. Fernwald.

 

6) Von Oertzen, Peter (1963): Betriebsräte in der Novemberrevolution. Düsseldorf.

 

*Eine kürzere Version dieses Beitrags erschien bereits in: Marcel Bois/Bernd Hüttner: Beiträge zur Geschichte einer pluralen Linken, Band I (kostenloser Download unter www.rosalux.de; Rubrik: Texte und Publikationen, Unterrubrik `rls-papers´).