Aus der Perspektive der Migration: Die Kosmopolitisierung Europas

Europa ist ein Projekt der Migration, hervorgerufen und fortgeschrieben durch die ständige Herausforderung ihrer grenzüberschreitenden Bewegungen.[1] Das zeigt sich in der Geschichte Europas, die erst mit der kolonialen Expansion über den Atlantik, den vielen dadurch hervorgerufenen - und erzwungenen - Mobilitäten ihre heutige hegemoniale Gestalt angenommen hat (Abu-Lughod 1989). Und es zeigt sich in der Gegenwart, in der diese Hegemonie (West-)Europas durch die Präsenz der postkolonialen, der post-sozialistischen und der mediterranen Migration längst in Frage gestellt und transformiert wird. So erweist sich Migration gerade heute als treibende Kraft der (Um-)Gestaltung Europas: Sie betreibt die innere Globalisierung, und damit die »Kosmopolitisierung« (Beck/Sznaider 2006, 7ff), der national verfassten europäischen Gesellschaften.

Im herrschenden Blick bleiben diese kosmopolitischen Kräfte allerdings weitgehend unsichtbar. Denn hier gilt Migration als eine Erscheinung an den Rändern der Gesellschaft, die es mit den Mitteln nationalstaatlicher und jetzt auch EU-Macht zu kontrollieren, zu regulieren, abzuwehren oder aber auch selektiv zu fördern, kulturell einzupassen und in den gesellschaftlichen Status Quo zu integrieren gilt. Erst aus einem veränderten Blickwinkel, der die mobile Peripherie selbst in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt und von hier aus das (scheinbare) Zentrum nationaler, europäischer Kontrollmacht anvisiert, wird deutlich, dass Migration den staatlichen Disziplinierungsstrategien immer schon mit eigenen Taktiken begegnete, sie unterwanderte und überlistete und so ein Stück Autonomie behauptete gegenüber allen Versuchen, sie effektiv zu beherrschen (Mezzadra 2005). Aus der Perspektive der Migration, wie ich sie hier zugrunde lege, erweist sich darin ihre subversive Macht: in der Kontingenz ihrer - letztlich unkontrollierbaren - Beweglichkeit, die sich aus einer Vielzahl subjektiver, unkoordinierter und dennoch konzertierter Mobilitätsprojekte speist.

Das wird zurzeit nirgends so deutlich wie an den Grenzen der Europäischen Union, wo die globalen Bewegungen der Migration trotz Lebensgefahr und Illegalisierung die in den Medien kolportierte »Festung Europa« zur Dauerbaustelle machen: eine fragile Konstruktion, an der in Folge der flexiblen, kundigen Taktiken migrantischer Grenzüberschreitung immerfort nachgerüstet, nachgebessert werden muss, ohne doch jemals das scheinbare Ziel dieser Bemühungen - die funktionierende Grenze - tatsächlich zu erreichen. Dass selbst im EU-Diskurs heute nicht mehr von »Grenzsicherung« und Abschottung, sondern von Regulierung und »Migrationsmanagement « die Rede ist, kann als ein erster Hinweis auf das politische Eingeständnis dieser Realität gedeutet werden (Hess/Tsianos 2007, 32f).

Bereits in der Nachkriegsgeschichte der »Gastarbeit« führte die Migration der nationalstaatlichen Kontrollmacht ihre Begrenztheit vor: Was als politisch gesteuerte, temporäre Anwerbung von Arbeitskräften gedacht war, wurde zu einem sich im Interesse der Angeworbenen verstetigenden Projekt, das die westeuropäischen »Anwerbestaaten« zu Einwanderungsländern machte und sie in neuer Weise mit den mediterranen Herkunftsregionen verknüpfte. Lange bevor die EU sich an der Transnationalisierung ihrer inneren, nationalen Grenzen versuchte, haben die transnationalen Pfade und Netze der Migration bereits ein eigenes, weit über die heutigen Konturen der EU hinaus reichendes Europa entworfen und praktiziert (Römhild 2008, 84-190).

Diese gesellschaftsgestaltenden Kräfte der Migration sind in der Forschung kaum ins Blickfeld gekommen. Die Perspektive der Migration fehlt in einer Europaforschung, die sich weitgehend auf die Strategien einer Europäisierung »von oben«, auf ein von den Schaltstellen der EU gesteuertes politisches Projekt Europa, konzentriert. Sie fehlt aber auch weitgehend in einer Migrationsforschung, die inzwischen das neue Paradigma der Transnationalisierung (u.a. Basch u.a. 1994; Pries 1997) in ihr theoretisches und empirisches Repertoire aufgenommen hat. So treten zunehmend die transnationalen Mobilitäten und Lebenswelten der Migranten in den Mittelpunkt der Betrachtung: als Alternative zu der bislang forschungsleitenden Vorstellung einer »Einbahnstraße« der Einwanderung und der Integration in den nationalen Kontext der »Aufnahmegesellschaften«. Welche kosmopolitisierenden Wirkungen dies aber über die Welten der Migranten hinaus auf die beteiligten Gesellschaften zeigt, steht als nächster Schritt einer von Migration ausgehenden, aber sich nicht auf sie beschränkenden Transnationalisierungsforschung noch aus. Die Perspektive der Migration kann hier einen neuen Blick auf die innere Verfassung der Gesellschaften in der Mitte und an den Rändern Europas eröffnen: Das Bild wird dann nicht mehr von der Denkkultur der Sesshaftigkeit mit der Nation im Zentrum bestimmt, sondern vom Normalfall der Mobilitäten (von Menschen, Dingen, Ideen), die das Lokale in eine turbulente, kosmopolitische Topographie sich kreuzender Bewegungen verwandeln

Blok 70, Novi Beograd: Ein kosmopolitischer Ort an den Grenzen Europas

Blok 70 ist ein Einkaufszentrum am Rande von Belgrad und einer der Hot Spots der Migration entlang der neuen europäischen Außengrenzen, die wir im Projekt Transit Migration[2] mit den Mitteln der Sozial-, Politik- und Kulturwissenschaft, der Ethnographie und der künstlerischen Praxis untersucht haben (Bojadzijev 2007; Ultra-red 2007). Die etwa 300 kleinen Läden werden überwiegend von chinesischen Migranten betrieben, die sich hier seit einigen Jahren in der prekären Ökonomie des ehemaligen Jugoslawiens eingerichtet haben. Die Händler pendeln zwischen Serbien als Arbeitsort und China als Lebensmittelpunkt der Familie. Die (Wieder-) Einreise ist ihnen nur mit einem Touristenvisum möglich, ein anschließendes Bleiberecht vom Good Will der Grenzbehörden und von der eigenen Geschäftstüchtigkeit abhängig: Alle 6 Monate ist eine Verlängerung fällig, und nur wer einen hohen Umsatz nachweist, kann auf eine Bewilligung hoffen. Offiziell dürfen die Läden in Blok 70 nicht den Chinesen, sondern nur serbischen Strohmännern gehören. Trotz dieser existenziellen Unwägbarkeiten hat sich in Blok 70 eine florierende transnationale Ökonomie entwickelt: Die billigen chinesischen Produkte aller Art können sich auch die Belgrader leisten, die unter ähnlich prekären Bedingungen leben wie die Migranten. Das chinesische Einkaufszentrum ist einer der wenigen Orte Belgrads, die Migranten und Einheimischen Jobs bieten: Junge Frauen arbeiten als Angestellte in den Läden oder in den Garküchen, junge Männer beim Entladen der Lastwagen; serbische Chinesisch-Studentinnen übersetzen Zolldeklarationen, Aufenthaltserlaubnisse, Heiratsurkunden und andere offizielle Dokumente für ihre chinesischen Auftraggeber; sie buchen deren Flüge nach China oder einen Urlaub in Montenegro. Neben Chinesisch und Serbokroatisch ist immer wieder auch Deutsch zu hören: von den ehemaligen jugoslawischen »Gastarbeitern« oder den Bürgerkriegsflüchtlingen, die in Deutschland gelebt haben. Deutsch ist auch die Umgangssprache der Roma-Jugendlichen, die in Blok 70 Gelegenheitsjobs übernehmen. Obwohl sie in Deutschland aufgewachsen oder sogar geboren sind, wurden sie oft erst kürzlich in ein ihnen völlig unbekanntes Belgrad abgeschoben.

Im Projekt Transit Migration gingen wir davon aus, dass Orte wie Blok 70 an der so genannten »Peripherie« entlang der EU-Grenzen heute ein Zentrum neuer politischer, sozialer und kultureller Entwicklungen sind, die von den globalen Bewegungen der Migration hervorgebracht werden, im Wechselspiel mit den nationalen und europäischen Bemühungen, diese Bewegungen zu kontrollieren. Unter den Bedingungen des neuen EU-Grenzregimes entstehen hier jene lokalen Kreuzungen der Mobilitäten, an denen ich eine neue, dem Pragmatismus, dem Wissen und der Imagination der Migration geschuldete Figur des Kosmopolitismus ausmache (Römhild 2007a; 2007b). Ich knüpfe damit an eine aktuelle Diskussion in der internationalen Sozial- und Kulturanthropologie an, die eine Renaissance des Kosmopolitismus-Konzepts unter neuen Vorzeichen zum Gegenstand hat: Es geht hier darum, Kosmopolitismus nicht mehr nur als Idee in einer utopischen Ferne anzusiedeln, sondern als praktizierten Kosmopolitismus im globalen Hier und Jetzt aufzuspüren (u.a. Vertovec/Cohen 2002). Dieser Ansatz geht über das Paradigma der Transnationalisierung noch hinaus: Gefragt wird nicht nur, wo heute schon die alten Grenzen des Nationalen formal überschritten werden - denn das ließe sich auch mit dem Begriff der transnationalen Mobilitäten und Vernetzungen ausreichend beschreiben -, sondern wo und wie diese Grenzen dabei qualitativ transformiert oder sogar aufgelöst werden.

Genau dies geschieht an Orten wie Blok 70, wo sich Migranten unterschiedlicher Herkunft nicht nur in ihren nationalen Communities transnational organisieren, sondern an Ort und Stelle neue Bündnisse entwerfen, die sich über die Trennungslinien der Nationalitäten hinwegsetzen, um sich in einem immer auch kollaborativen Verhältnis mit dem herrschenden Grenzregime zu behaupten. Diese grenzüberschreitenden Praktiken und Bündnisse neuer Art entspringen nicht einem elitären, der westlichen Figur des Künstlers und Intellektuellen vorbehaltenen Ethos der »Weltoffenheit« (Hannerz 1990), wie es der klassische, normative Kosmopolitismus voraussetzt, sondern dem Pragmatismus einer kollektiven Selbstorganisation unter den Bedingungen der Prekarität, wie sie die europäischen Grenzen erzeugen. Insofern entspricht diese Praxis dem, was Ulrich Beck »realistischen Kosmopolitismus« (2004, 90-115) nennt: Es ist ein von den Verhältnissen der Grenze erzwungener Kosmopolitismus, und es gibt (noch) kein Bewusstsein, keine Reflexion über diese Praxis und ihre Wirkungen - weder auf der Seite der damit konfrontierten Konstrukteure des Grenzregimes, noch auf der Seite der Migranten und ihrer lokalen wie transnationalen Bündnispartner (Bojadzijev 2007, 103). Dennoch entfaltet sich gerade hier - in den Turbulenzen der Peripherie - ein neuer, fortgeschrittener Kosmopolitismus, der das moderne Ordnungssystem der Nation und der an sie geknüpften Staatsbürgerschaft weit radikaler hinter sich lässt, als dies im Zentrum Europas derzeit politisch und wissenschaftlich denkbar scheint.

Die Kosmopolitisierung des Grenzregimes

Die ehemaligen Auswanderungsländer der »Gastarbeiter« sind längst zu Einwanderungs- und Transitregionen der globalen Migrationsbewegungen geworden - und damit auch zu zentralen politischen Laboratorien, in denen die Europäisierung der nationalen Grenzen als Prototyp einer neuen »Kunst des Regierens« erprobt wird (Hess/Karakayalı 2007). Dieser neue Regierungsstil setzt auf Beratung, Kooperation und Vernetzung zwischen den Agenturen der EU und den nationalstaatlichen wie vielen semi- und nichtstaatlichen Akteuren, um sich so einen erweiterten, über das Territorium der EU hinausreichenden Raum politischen Handelns zu schaffen. So begegnete den Transit Migration-Forscherinnen Rutvica Andrijasevic und Manuela Bojadzijev auf der lokalen Bühne des transnationalen Grenzmanagements in Belgrad, neben der schwindenden Macht des UNHCR als klassischer Instanz der internationalen Flüchtlingspolitik, auch die neue Macht der International Organisation for Migration (IOM), einer vom internationalen Staatenverbund finanzierten, weltweit operierenden Großorganisation, die hier in engem Kontakt mit der EU eigene Forschungen durchführt, die nationale Regierung in allen grenzpolitischen Fragen des Umgangs mit illegalisierter Migration berät und selbst Abschiebungen von Migranten, wie etwa die »Rückführung« der Roma-Familien aus Deutschland nach Serbien, durchführt. Diese Verstrickung von Wissensproduktion, Politikberatung und Auslagerung politischer Aufgaben an transnationale »Agenturen« ist typisch für das neue Management der europäischen Außengrenzen. Mit der »NGOisierung« der EU-Grenzpolitik, der unmittelbaren Beteiligung von Wissenschaftlern und zivilgesellschaftlichen Gruppen an den »Think Tanks« des Grenzregimes und schließlich dessen informationstechnologischer Aufrüstung zeigt sich die EU-Grenze in einer völlig neuen Gestalt: Europa und seine Anrainerstaaten werden durch sie zu einem de-territorialisierten, virtualisierten und zugleich allgegenwärtigen Grenzraum.

Dass heute auf diese Weise nationale in europäische - oder allgemeiner: transnationale - Grenzen verwandelt werden, dass sich die EU und die nationalen Mitgliedsstaaten im Dienste dieser Aufgabe genötigt sehen, sich über ihre jeweiligen territorialen Hoheitsbereiche hinweg mit anderen Staaten und Akteuren, die traditionell aus ihrem Einfl ussbereich ausgeschlossen waren, zu verbünden, also einen Teil ihrer politischen Kompetenzen an ein transnationales und sogar transeuropäisches Regierungsmanagement abzugeben, lässt sich als ein Prozess der Kosmopolitisierung des Grenzregimes verstehen: die gegenwärtige Erosion nationaler Staatlichkeit, wie sie v.a. auch durch die unregierbaren Bewegungen einer globalisierten Migration hervorgerufen wird, erzwingt diese grenzüberschreitenden Bündnisse (vgl. auch Beck/Grande 2004, 235-43).

Dabei ist die Kosmopolitisierung der Politik - als Handlungsraum - von einer kosmopolitischen Politik - als normative Handlungsorientierung - zu unterscheiden. Denn letztere würde eine qualitative Transformation der nationalen Grenzen bedeuten, im Sinne eines prinzipiell neuen Umgangs mit den über diese Grenzen kommenden »Anderen«. Tatsächlich aber ist das neue europäische Grenzregime trotz aller formalen Kosmopolitisierung von einer solchen normativen Umorientierung noch weit entfernt. Denn (noch) geht es - ganz ähnlich wie im nationalen Herrschaftsmodell - vor allem darum, die globalen Migrationsbewegungen wenn nicht abzuwehren, so doch zu kontrollieren, den eigenen wirtschaftlichen Interessen und Überlegenheitsansprüchen zu unterwerfen. Dass sich die EU derzeit verstärkt auf eine »weiße, christliche, aufgeklärte« Identität beruft (Beck/Grande 2004, 278f), die sich als Legitimation der Abgrenzung gegenüber einer illegalisierten und vielfach kriminalisierten nicht-europäischen Einwanderung einsetzen lässt, ist eine der Paradoxien, die das kosmopolitisierte Europa angesichts der unübersehbaren Präsenz der globalen Migration vorläufig kennzeichnen.

Kosmopolitisierung bezeichnet die radikale, unmittelbare, lokale Konfrontation mit dem bisher aus dem nationalen Selbstverständnis des »Eigenen« ausgeschlossenen globalen »Anderen«: ein Prozess der »inneren Globalisierung«, der in den Einwanderungsgesellschaften im »Zentrum« wie an der »Peripherie« Europas unaufhaltsam fortschreitet und der vor allem auch anti-kosmopolitische Reaktionen hervorruft. Diese Abwehrhaltungen rangieren zwischen Leugnung und Bagatellisierung der kosmopolitisierten Realität bis zu den vielen Formen neo-nationalistischer und euro-rassistischer Einstellungen, die gerade heute den Diskurs zur Einwanderung in und nach Europa wieder bestimmen.

Aber der scheinbare Konsens anti-kosmopolitischer Abschottung wird von vielfältigen kollaborativen Verflechtungen durchkreuzt, mit denen auch die lokalen Akteure diesseits der Grenze von der Illegalisierung der Migration und ihren Folgen profitieren. Von Schiffseignern und -kapitänen bis zu Küstenwache und Grenzpolizei fordern viele ihren Teil an den Reisekosten des klandestinen Grenzübertritts. Und nicht zuletzt sind es die lokalen Ökonomien, die auf die billigen, flexiblen Arbeitskräfte und die Kleinunternehmer der irregulären Migration setzen: im Baugewerbe, in der Landwirtschaft, der Pflege- und Hausarbeit, in der Tourismus- und Sexindustrie, im Straßen- und Einzelhandel sind sie längst zu unverzichtbaren neuen »Gastarbeitern« geworden.

Im unmittelbaren Kontakt mit der lokalen Bevölkerung an den Grenzen Südosteuropas trifft die Migration aber nicht nur auf ökonomische Ausbeutung und rassistische Ausgrenzung, sondern auch auf Formen der Solidarisierung über die Grenzen hinweg. In Athen konnte ich mehrfach beobachten, wie griechische Kunden den klandestinen Straßenverkäufern beim Klang der Sirenen herannahender Einsatzfahrzeuge halfen, ihre Produkte zusammenzupacken und außer Sichtweite der Polizei zu bringen: eine situative Reaktion, in der sich die lange Tradition des lokalen, mediterranen Misstrauens gegenüber dem Staat (Giordano 1992, 400-27) für einen Moment mit den widerständigen Praktiken der Migration verbündet. Der unmittelbare Kontakt an der Grenze kann zudem auch auf der Seite der lokalen Akteure Formen eines realistischen Kosmopolitismus aktivieren, der in Grenzregionen ohnehin zum langfristig erworbenen kulturellen Repertoire gehört (Driessen 2005). Dass die Kräfte und die Listen der Migration nie restlos kontrollierbar sind, ist hier eine historisch vielfach bestätigte Alltagserfahrung. Jannis, der in der Grenzregion zwischen Griechenland, Bulgarien und der Türkei am Evros-Fluss lebt, gibt sich entsprechend abgeklärt: »Selbstverständlich sehen wir hier alles«, erzählt er. »Was glaubst du, was hier passiert? Die Region ist schon lange ein Weg, ein Korridor.« Sein Freund betreibt hier eine Tankstelle. Auch er »sieht vieles«, wie er sagt. »Es gibt Nächte, wo sie plötzlich nass im Zentrum des Dorfes auftauchen und nach der nächsten Zugverbindung nach Athen fragen. Einige haben sogar Geld. Andere haben kleine Zettelchen mit Routen, Verkehrsverbindungen, griechischen Namen, die sie zeigen und fragen, wo sie hier sind. Was sollen wir machen? Sollen wir die Polizei holen? Unsere Mütter besorgen schnell warme Kleider oder Essen. Wir waren auch Flüchtlinge, weißt du. Wir zeigen den Weg, und sie verschwinden in der Nacht.«[3]

So erweist sich das scheinbar konsistente Grenzregime vor Ort als eine ständige Praxis der Improvisation - eine kosmopolitisierte Praxis, die weniger von den Strategien der Regierenden, als von den widersprüchlichen Interessen vor Ort und insbesondere von den taktischen Manövern der Migration bestimmt wird.

Die subversive Macht der Imagination

Einer, der es über die neuen europäischen Grenzen nach Thessaloniki geschafft hat, ist Jones, ein junger Mann in Rapper-Mütze und Baggy-Jeans. Er ist aus dem Bürgerkrieg von Sierra Leone geflüchtet und auf verschlungenen Pfaden durch halb Afrika in die Türkei, und von dort über Bulgarien bis nach Griechenland gelangt. Die Fahrt übers Mittelmeer kostete ihn und seine Familie 2000 Dollar; das Schiff kenterte, viele seiner Reisegefährten ertranken vor seinen Augen. Nur er und einige wenige andere wurden gerettet, weil sie schwimmen konnten. In Sierra Leone besaß Jones mit seiner Familie ein kleines Schmuckgeschäft. Hier, in Thessaloniki, treffen wir ihn an der Hafenpromenade, wo er in den schicken Bars CDs mit griechischer Popmusik verkauft - Raubkopien, die er auf anonymen Wegen von einem Griechen bezieht. Von den 6 Euro Verkaufspreis bleiben ihm 50 Cent. Das Geschäft haben ihm afrikanische Freunde vermittelt; über sie hat er auch einen Schlafplatz in einem überfüllten Hotelzimmer gefunden. Seit sieben Monaten lebt Jones hier; ein rosa Kärtchen weist ihn als Asylbewerber aus. Aber arbeiten darf er damit nicht, und so muss er - wie die vielen anderen klandestinen Kleinhändler in den Städten und an den Stränden des Mittelmeers - ständig auf der Hut sein vor den Sirenen der Polizeieinsätze. Jones meint, dass es vielen seiner Freunde, die es noch nicht von der Türkei nach Griechenland, und damit nach EU-Europa, geschafft haben, weit schlechter geht. Im Sommer will er als Straßenmusiker auf den griechischen Inseln arbeiten; dort, wo die Touristen sind, lässt sich damit gut leben und Geld verdienen. Ob er seine Reise nach Europa fortsetzen will, weiß er noch nicht. Jetzt lernt er erst mal richtig Griechisch. Momentan sind seine Ziele eine Ausbildung, ein besserer Job und eine gesicherte Existenz in Griechenland. Dann endlich könnte er auch seinen Eltern und Geschwistern, von denen er allerdings nicht weiß, ob sie noch leben, Geld nach Sierra Leone schicken.

Jones' Geschichte steht hier stellvertretend für die vielen anderen, auf die das Transit Migration-Forschungsteam in den neuen Einwanderungsländern Südosteuropas gestoßen ist. Jede dieser Geschichten ist ein Unikat, ein Produkt subjektiv erlebter und gestalteter Umstände und zugleich ein Ausdruck der Eigendynamiken und der Kräfte, die diese unterschiedlichen Projekte der Migration in der Auseinandersetzung mit den neuen Grenzen Europas entwickeln. In den Medien wird vor allem vom Scheitern der Migranten an den scheinbar übermächtigen Zäunen und Mauern der Festung Europa berichtet. Und tatsächlich ist der Tod, dem auch Jones nur knapp entronnen ist, eine tägliche Realität an Europas Grenzen, die sich jedes Jahr tausendfach wiederholt.

Aber es gibt auch das vielfache Überleben, das Arrangieren und Einrichten in den prekären Bedingungen der neuen Einwanderungsgesellschaften am Rande Europas. Und es gibt die vielfache Imagination eines anderen möglichen Lebens (Appadurai 2005): eine nie versiegende Antriebskraft, die Menschen in Bewegung setzt und sie trotz aller Gefahren und Enttäuschungen weiter treibt. In den Medien und in der öffentlichen Diskussion zu diesem Thema erscheinen die Träume der Migranten nur als fehlgeleitete Phantasien von einem Europa der vielen Möglichkeiten, das es so - jedenfalls für sie - nicht gibt. Mit ihrer Präsenz aber nehmen sich die Migranten ein Recht auf Europa, das sie aus der langen Geschichte der kolonialen Verstrickung des Westens mit dem »Rest der Welt« ableiten können. Sie sind, wie Stuart Hall (2005) schreibt, das »Andere Europas«, ohne das es dieses Europa heute gar nicht geben würde; ein Anderes, das die EU jetzt wieder in einem neokolonialen Gestus von der eigenen Geschichte abzuspalten versucht. Dagegen ist das Europa, auf das sich die Imaginationen der Migranten richten, ein von ihnen längst schon angeeignetes Territorium. Das mediterranisierte, transnationalisierte, post-koloniale Europa ist so auf keiner offiziellen Landkarte verzeichnet, wohl aber auf den Landkarten und in den Reiserouten der Migration. In dieser Topographie orientieren sich Migranten wie Jones, die jetzt unter verschärften Bedingungen neu einreisen. Und sie können an die Realität dieses Europas anknüpfen: denn immer gibt es jemanden, Verwandte oder Bekannte, die schon vorher da waren, die bereit sind, ihr Wissen und ihre Erfahrungen, ihre Kontakte, ihre Strategien der Existenzsicherung zu teilen. Und so ist es - anders als es das Regime der euro-rassistischen Differenz glauben machen will - eben doch auch ihr Europa, in das die neuen Migranten kommen.

An den Grenzen der europäischen Moderne: Ein neuer Kosmopolitismus von unten

Migranten wie Jones und seine afrikanischen Reisegefährten in Thessaloniki oder die chinesischen Einwanderer in Belgrad, die keine nationale Zugehörigkeit zu einem der EU-Staaten für sich beanspruchen können, machen sich selbst zu klandestinen Bürgern Europas. Sie nehmen damit ein Europa vorweg, das allenfalls in den sozialen Imaginationen des antifaschistischen Widerstands existierte: Visionäre wie Altiero Spinelli und Ernesto Rossi stellten sich damals das zukünftige Nachkriegseuropa als einen »dritten Ort« vor, in dem die historischen Grenzen des Faschismus, des Nationalismus und Rassismus erfolgreich überwunden werden könnten (vgl. Braidotti 2005). Von diesem Teil ihrer eigenen Geschichte haben sich die Perspektiven der heutigen politischen Programme weit entfernt. Denn die aktuelle Maxime der »Einheit in Vielfalt«, wie sie die EU verkündet, setzt gerade auf die Anerkennung nationaler »Andersheit« als Grundlage der transnationalen Kooperation zwischen den europäischen Staaten - wobei diese Andersheit in klassisch moderner Manier als eine Differenz der Kulturen, der Identitäten und der Herkünfte verstanden wird. Die Grenzen Europas werden nicht in Frage gestellt, sondern erlangen in der Form kultureller Identitäten neue Wirkungsmacht: als kulturelle verstandene nationale Unterscheidungen garantieren die Vielfalt im Inneren, und die gemeinsame Abgrenzung nach außen garantiert die Einheit Europas.

So stehen sich heute an den Grenzen Europas, und damit in den Verhandlungen über ein zukünftiges Europa, zwei verschiedene Typen von Kosmopolitismus gegenüber: ein im Selbstbild der EU repräsentierter klassischer Typus, den man der Ersten Moderne zurechnen könnte, weil er weiterhin auf die Ordnungsmacht von Grenzen, von darin eingeschlossenen Kulturen und Identitäten setzt; und ein in der Praxis der Migration auffindbarer fortgeschrittener Typus, der den Turbulenzen der Zweiten Moderne zuzurechnen ist, weil er bereits von der schwindenden Macht dieser Ordnung ausgeht und selbst aktiv daran beteiligt ist, den Status Quo der Grenzen, auch in ihrer kulturalisierten Form, anzugreifen und zu verunordnen. Im Konflikt an Europas Grenzen wird die Figur des migrantischen, diasporischen Alltagskosmopoliten, wie sie von Anthropologen wie James Clifford (1998) oder Aihwa Ong (2005) in die Diskussion gebracht wurde, zum Gegenspieler eines westlichen Kosmopolitismus, dessen Kernkompetenz die Anerkennung kultureller Differenz ist, und damit aber auch die implizite Anerkennung der daran geknüpften Hierarchien und Grenzen. Aus der Perspektive der Migration stellt die nur scheinbar unschuldige Kategorie der Kultur nicht nur der physischen, sondern vor allem auch der sozialen Mobilität der Menschen immer neue Barrieren in den Weg. Im Nationalstaat und seinem Modell des Multikulturalismus markiert sie die Hierarchie von nationaler Mehrheit und ethnischen Minderheiten, im neuen Europa die neokoloniale Grenze zwischen Alter und Neuer Welt. Sich dieser Konstellation nicht vom Zentrum aus, sondern von den Rändern her zuzuwenden, bedeutet für Migranten zwangsläufig, zu »Artisten der Grenze« (Beck 2004, 157ff) zu werden, und damit auch zu Artisten der Grenzen, die von Herkünften, Kulturen und Identitäten markiert werden. Diese Erfahrung befähigt Migranten zu komplexen kulturellen Übersetzungsleistungen, aber auch zum Jonglieren mit Identitäten, um die inneren und die äußeren Grenzen Europas zu überlisten. Der gekonnte Umgang mit gefälschten Pässen und erfundenen Biographien ist dafür ebenso ein Beispiel wie die vielen Dimensionen des kulturellen Code-Switchings, der Selbst-Ethnisierung und des Ethno-Mimikrys im Alltag der Einwanderungsgesellschaften (Römhild 2007c, 172f).

So entsteht in der Auseinandersetzung der Migration mit den alten - nationalen - und den neuen - transnationalen - Grenzen Europas eine eigene Praxis von Weltbürgertum: eine praktizierte Bürgerschaft, die sich zunehmend von essenzialistischen Formen der Identität löst. Diese kosmopolitische Praxis der Migration ist aber paradoxerweise gerade ein Produkt der Grenzen, die sie zu überwinden sucht. Insofern handelt es sich um einen gänzlich entzauberten, ernüchternden Kosmopolitismus, der keine Utopien entwirft, sondern allenfalls prekäre Heterotopien schafft. Der Traum vom besseren Leben jenseits der Grenze wird hier ganz praktisch und politisch, im Rahmen des Machbaren, verfolgt. Aber gerade aus diesem Pragmatismus heraus entfaltet diese Form des realistischen Kosmopolitismus ihre besondere Radikalität, mit der es ihr gelingt, sich quasi kongenial zum herrschenden Grenzregime durchzusetzen.

Aus der Perspektive der Migration erweist sich die Peripherie der Grenzräume als der derzeit vielleicht kosmopolitischste Ort in Europa - aber gleichzeitig auch als der Ort, an dem die Prekarisierung der Existenz, nicht nur für Migranten, mit am weitesten fortgeschritten ist. An Orten wie Belgrad ist die Erosion der klassischen, an den Nationalstaat und seine sozialen Verpflichtungen gebundenen Staatsbürgerschaft eine von allen Bürgern bereits mehr oder weniger geteilte Realität. Aber gerade darauf: auf einer gemeinsamen Bewältigung dieser prekären Lage basieren die kosmopolitischen Bündnisse, die im Belgrader Blok 70 zwischen den verschiedenen Gruppen von Einwanderern, Rückwanderern und Alteingesessen entstehen. So ist dieser realistische Kosmopolitismus gleichzeitig ein politisches Experimentierfeld: denn hier wird versucht, den Turbulenzen von transformierter Staatlichkeit, Grenze und Ökonomie mit dem Wissen der Migration einen kollektiven sozialen Nutzen abzuringen. Ein kreativer Kosmopolitismus »von unten«, der aus den spätmodernen Turbulenzen der »Peripherie« soziale Modelle für eine post-nationale Zukunft Europas entwirft.

Literatur

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Basch, Linda G., Nina G. Schiller u. Cristina Szanton-Blanc, Nations Unbound, Transnational Projects, Postcolonial Predicaments and Deterritorialized Nation-States, [S.I.] 1994

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Braidotti, Rosi (im Gespräch mit Rutvica Andrijasevic), »L'europa non ci fa sognare / Europa lässt uns nicht träumen«, in: Kölnischer Kunstverein u.a. (Hg.) 2005, 760-67 u. 832-35 Clifford, James, »Mixed Feelings«, in: P.Cheah u. B.Robbins (Hg.), Cosmopolitics, Thinking and Feeling beyond the Nation, Minneapolis-London 1998, 362-70

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Aufsatz erschienen in: Das Argument 285 (1/2010), 50-59



[1] Dieser Aufsatz erschien zuerst in Hess u.a. (Hg.), No integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa, Bielefeld 2009, 207-23.

[2] Transit Migration ist ein Teilprojekt des »Projekt Migration«, einem Initiativprojekt der Kulturstiftung

des Bundes, 2003-2006; vgl. www.projektmigration.de, www. transitmigration.org.

[3] Interviewmaterial Projekt Transit Migration, 2003-2006.