Am Tatort Stadion

Am Tatort Stadion Versuch einer Bestandsaufnahme

in (20.07.2010)


Auf den ersten Blick hat sich in den letzten 20 Jahren beim Thema „Fußball und Diskriminierung“ vieles zum Guten gewendet. Rassistische Sprechchöre und Transparente sind seltener geworden, Fußballstadien inzwischen keine No-Go-Areas mehr für Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe, politischen oder sexuellen Orientierung um ihre körperliche Unversehrtheit fürchten müssten wie noch Anfang der 1990er Jahre.

Bei einer großen Zahl an Vereinen existieren Fangruppen, die sich offen gegen Rassismus und Diskriminierung aussprechen und auch praktisch versuchen, gegen rechte Tendenzen in der eigenen Szene vorzugehen. Eine Ausstellung wie „Tatort Stadion“, die Diskriminierung in den Stadien dokumentiert, wird inzwischen von Vereinen und Verbänden unterstützt: Bei der Neueröffnung im April 2010 etwa hielt Werder Bremen-Präsident Klaus-Dieter Fischer die Eröffnungsrede. Selbst lange als „Randerscheinungen“ ignorierte Themen wie die nach wie vor weit verbreitete Homophobie werden enttabuisiert und sogar von DFB-Präsident Theo Zwanziger als Problem erkannt und thematisiert. Entwarnung kann trotzdem nicht gegeben werden.

Ist der Ruf erst ruiniert...

So sind neonazistische Aktivitäten in den Stadien weiterhin sichtbar. Meist sind hierbei Fanszenen betroffen, denen schon traditionell ein „rechter Ruf“ anhaftete. Diese zumeist über mehrere Fangenerationen mündlich vermittelte und somit häufig mystifizierte rechte Fanhistorie bildet einen Anziehungspunkt für Jugendliche mit rechtsaffinen Einstellungen. Eine Präsenz der extremen Rechten im Stadion lässt sich vor allem in Gegenden beobachten, in denen es – auch im gesellschaftlichen Alltag – einen vergleichsweise hohen Organisierungsgrad der neonazistischen Szene gibt. „In Chemnitz ist die Gruppe der Jugendlichen mit rechtem Gedankengut sehr hoch, das geht natürlich an der Gesamtstruktur der Fanszene nicht vorbei“, so Peggy Schellenberger, Mitarbeiterin des Chemnitzer Fanprojekts. In Chemnitz nennen sich solche Jugendliche dann NS-Boys (New Society), benutzen als Logo einen Hitlerjungen aus einem Propagandaplakat der 1930er Jahre, zeigen im Stadion Transparente, auf denen zur Solidarität mit dem spanischen Neonazimörder Josué Estébanez de la Hija aufgerufen wird, und sind regelmäßige Teilnehmer bei Neonazidemos.

„Fußball bleibt Fußball und Politik Politik!“ (Kategorie C)

Hilfreich für Neonazis ist sowohl bei der angestrebten Normalisierung ihrer eigenen Anwesenheit innerhalb des Stadions als auch bei der Rekrutierung von Nachwuchs vor allem die von vielen Fanszenen nach wie vor vorgenommene scharfe Trennung von Fußball und Politik. Rassistische Ausfälle werden oftmals bagatellisiert, der politische Hintergrund der dafür verantwortlichen Gruppen und Einzelpersonen wird innerhalb der eigenen Fanszene nicht problematisiert. Die Anwesenheit von extrem rechten Aktivisten sei an sich nicht problematisch, denn solange sich diese im Stadion nicht offen rassistisch oder diskriminierend äußerten, sei auch keine Politik im Spiel, lautet oftmals die Argumentation. Trotz Hantierens mit extrem rechter Symbolik sind etwa die NS-Boys innerhalb der Fanszene nicht isoliert. So schreiben die Ultras Chemnitz 99 über die NS-Boys, die 2002 als „Jugendgruppierung“ der Ultras gegründet wurden: „Wir als 'Ultras Chemnitz '99' akzeptieren die 'New Society' inzwischen als eigenständige Gruppe, die ihren Weg geht und auch weiter gehen wird. Die Polizei und der Staats-Schutz haben sie massiv auf dem Kieker […] – aber sie sind ein Teil der Szene und als solcher akzeptiert. Fußball ist kein Wunschkonzert, schon gar nicht für Behörden.“ Mit Verweis auf die eigene „unpolitische Einstellung“ werden die Verbindungen der jungen Hooligans zur extremen Rechten ignoriert und offensichtliche Manifestationen neonazistischer Einstellungen als angebliche Provokation entschuldigt.

Gewalt und Action als Einfallstore

Das Heranführen an die neonazistische Szene geschieht nicht zwangsläufig durch Propaganda, sondern eher durch informelle Gespräche und Angebote auch außerhalb der Stadien. So geschehen bei Lok Leipzig, zu dessen Gründungsmitgliedern bei der Neugründung 2003 auch der Hooligan Nils Larisch gehörte, ein zeitweiliger Mitarbeiter des NPD-Fraktionsvorsitzenden im sächsischen Landtag, Holger Apfel. Nicht zuletzt durch seine Einflussnahme auf jugendliche Fans wurden die Verbindungen zwischen Teilen der Lok-Fan- und der extrem rechten Szene immer enger. Vor allem über die Schnittmenge zwischen der Fangruppe Blue Caps und den Freien Kräften Leipzig sowie der NPD, etwa in Form des Stadtratskandidaten Enrico Böhm, wurde mehrfach berichtet.
Auffallend ist, dass rechte Hooligans, auch wenn sie ihrem gewalttätigen Hobby nur noch außerhalb der Stadien nachgehen, offensichtlich an einigen Standorten nach wie vor einen gewissen Einfluss ausüben und als „Machtfaktor“ präsent sind. Fans, denen das reine „Ultradasein“ auf Dauer zu langweilig wird, sind für sie Ziele rechter Agitation. Gewalt spielt hierbei eine zentrale Rolle. Junge Fußballfans, gerade auch aus dem Ultramilieu, unterliegen oftmals einer Gewaltfaszination bis hin zur Gewaltbereitschaft. Dies wird ausgenutzt, indem man Jugendliche zu Auseinandersetzungen mitnimmt bzw. Auseinandersetzungen selbst provoziert. Der Nutzen für extrem rechte Hooligans und jugendliche Ultras/Hools ist hierbei durchaus beiderseitig. Erstere können eine Nachwuchsgeneration aufbauen, die ihnen ein Überleben als Faktor innerhalb der Fanszene sichert, die anderen profitieren von dem Schutz und bekommen neue Angebote für ihre Gewaltorientiertheit. Eine zahlenmäßige Einschätzung dieser Schnittmengen in Deutschland bleibt jedoch bislang spekulativ.

Gewalt gegen AntifaschistInnen

Vermehrt kam es in den letzten Jahren zu Angriffen von Neonazis und/oder rechten Hooligans gegen politisch missliebige Fangruppen. Je nach Anlass wurden sowohl Personen innerhalb der eigenen Fanszene als auch gegnerische Fans oder gar Fußballfremde Opfer dieser Gewalt. Viele Jahre waren die Fans des FC St. Pauli Hauptangriffsziel solcher Attacken, da sie sich am deutlichsten antirassistisch positionierten und ihrerseits Personen aus der linken Politszene an sich banden. Im Januar 2007 überfielen Hooligans aus dem Umfeld der Standarte Bremen eine Feier jugendlicher Ultras von Racaille Verte, deren antirassistische Aktivitäten den Hools offensichtlich ein Dorn im Auge waren. Im April 2010 gerieten rechte Fans des FC Carl Zeiss Jena auf einer Auswärtsfahrt mit Mitgliedern der Horda Azzuro, einer antirassistischen Ultragruppe, aneinander.
Klassische Fanrivalitäten werden politisch aufgeladen, können aber auch in den Hintergrund treten, wenn Anhänger unterschiedlicher Vereine sich aus politischen Motiven – zumindest temporär – zusammenschließen. Wie in Leipzig, als bei Überfällen auf Fans der BSG Chemie Neonazis der traditionell verhassten Rivalen Lok und Sachsen Leipzig beteiligt gewesen sein sollen. Antirassistisch orientierte Fangruppen sind jedoch nicht nur ein potenzielles Angriffsziel für rechte Gruppen innerhalb des eigenen Vereins in Kämpfen um Meinungsvorherrschaft oder zur Durchsetzung „politikfreier“ Zonen, sondern oft auch für extrem Rechte, die sonst eher selten im Fußballumfeld in Erscheinung treten. Dabei rücken mitunter pauschal alle Fangruppen bestimmter Vereine, in denen antirassistische Gruppen agieren, in den Fokus. Für mediale Aufmerksamkeit sorgte etwa der Überfall auf Fans des links-alternativen Fußballvereins Roter Stern Leipzig von zirka 50 Neonazis aus der Region sowie von Hooligans aus dem Umfeld des 1. FC Lokomotive Leipzig während des Bezirksklassenspieles gegen FSV Brandis im November 2009. Aber auch Fans von Babelsberg 03, Tennis Borussia Berlin und anderen Vereinen waren schon Angriffen von Neonazis ausgesetzt.

Was macht die NPD?

Im Gegensatz zu einer von manchen Medien verbreiteten Behauptung spielt der Einfluss von Parteien, insbesondere der Einfluss der NPD als der führenden Kraft innerhalb der extrem rechten Parteienlandschaft, eine eher untergeordnete Rolle. Die NPD betrachtet den Profifußball in erster Linie als öffentlichkeitswirksames Werbefeld für eigene Inhalte. Besonders in Wahlkämpfen macht sie beispielsweise durch Infostände im Umfeld von Stadien auf sich aufmerksam. Dabei versteht sie es, in ihren Materialien oder Pressemitteilungen an aktuelle Diskussionen der Fanszene anzudocken Vor einigen Jahren warb die NPD im Umfeld des Berliner Olympiastadions mit dem Slogan „Stadionbau statt Holocaustdenkmal“. Vor allem das Schüren von Ressentiments gegen die „Altparteien“ mit Hilfe einfacher Slogans ist eine bewährte Strategie, die auch im Fußball ihre Anwendung findet. In Dresden unterschrieb die Partei ihre Forderung nach einem auch von vielen Fans geforderten Stadionneubau mit den Worten: „Wie beim Sport, so in der Politik – einfach unsozial die Altparteien.“ 2008 versuchte der NPD-Fraktionschef in Mecklenburg-Vorpommern, Udo Pastörs, die Diskussion innerhalb der Rostocker Fanszene aufzugreifen, bei der es um ein Verbot rechter Kleidungsmarken ging: „Ich kann die Verantwortlichen von Hansa Rostock nur in ihrem Widerstand gegen totalitäre Kleiderordnungen bestärken. Bestimmte Modemarken auf eine Negativliste zu setzen, das erinnert mich an die DDR, in der es zeitweise verboten war, Jeans sowie Aufnäher westdeutscher Vereine zu tragen.“ Solche Einflussnahmen „von außen“ werden von vielen Fans allerdings eher kritisch beäugt, da Skepsis gegenüber Parteien jeglicher Couleur weit verbreitet ist – selbst bei Akteuren, die gute Kontakte in das extrem rechte Milieu pflegen.
Eine Rolle spielt hierbei auch, dass Parteien in den Augen der Jugendlichen ein eher biederes Image anhaftet. Die nach außen vorgetragene Bürgerlichkeit spricht „erlebnisorientierte“ Fußballfans zumeist nicht an. Sie bewegen sich weit öfter im Umfeld der militanteren „Autonomen Nationalisten“ oder „Freien Kameradschaften“. Im Zuge der erweiterten Kooperation zwischen Partei und Kameradschaften ist aber eine Teilnahme an NPD-Demos oder das Übernehmen des Sicherheitsdienstes für Parteiveranstaltungen durchaus möglich. Hier können im Einzelfall Konflikte zutage treten. So distanzierte sich die NPD, nachdem sie zuvor Lok-Fans im Dezember 2008 Räumlichkeiten in ihrer Leipziger Zentrale zur Verfügung gestellt hatte, hinterher „in aller Form von den Tätern, die aus der Anhängerschaft des Fußballvereins Lok Leipzig sowie möglicherweise auch von auswärts kommen und mit der Leipziger NPD nichts zu tun haben“. Die Fans hatten nach ihrer Feier randaliert und Polizisten angegriffen.

Vereine, Verbände und Fanprojekte in der Pflicht

Die Akzeptanz rechten Gedankengutes in den Kurven wird durch die vielerorts mangelnde Auseinandersetzung mit der Anwesenheit rechter Gruppierungen oder Personen im Stadion seitens der Vereine begünstigt. Die Vereine scheuen oft eine offensive Auseinandersetzung mit der Problematik, es werden zudem auch nicht alle vorhandenen repressiven Möglichkeiten angewandt, um der extremen Rechten den Zutritt zum Stadion zu verwehren. Einige Vereine haben in der Vergangenheit behauptet, man könne Personen nicht aufgrund ihrer Anschauungen den Zutritt zum Stadion verwehren; die Möglichkeit, vom Hausrecht Gebrauch zu machen, wurde in einigen Fällen nicht genutzt.
Ansonsten sehen viele Vereine mit der Ausschöpfung repressiver Maßnahmen ihre Schuldigkeit erfüllt. In Chemnitz bzw. Leipzig etwa wurde das Tragen der Symbole der Gruppen NS Boys bzw. Blue Caps verboten, was einem „Verbot“ der Gruppen gleichkommt. Einige bekannte Mitglieder kassierten Stadionverbote, die allermeisten können jedoch das Stadion weiterhin besuchen; sie bleiben so in die jeweilige Fanszene integriert. Das Verhalten der Vereine ist oft reaktiv. Es werden erst dann Gegenmaßnahmen ergriffen, wenn innerhalb der Fanszene verankerte rassistische Einstellungen auch offen und für jeden ersichtlich in Form von Parolen oder Transparenten nach außen getragen werden; manchmal schreiten die Vereine gar erst dann ein, wenn über entsprechende Vorfälle öffentlich berichtet wird. Oft ist es ausschließlich antifaschistischen Recherchegruppen oder engagierten Lokaljournalisten zu verdanken, dass die Öffentlichkeit vom Vorhandensein extrem rechter Gruppierungen im Stadion erfährt. Auch die Fanprojekte, von DFB und Vereinen oft mantra-artig als Allheilmittel gegen rechte Tendenzen ins Felde geführt, haben es mancherorts (zum Beispiel in Leipzig und Dortmund) nicht verstanden, mit den offensichtlich vorhandenen Tendenzen innerhalb der eigenen Szene umzugehen.
Dabei haben die Erfahrungen aus anderen Städten gezeigt: Neonazis haben es vor allem an solchen Standorten schwer, an denen sie auf Gegenwehr innerhalb der Fanszene stoßen. Dort bleiben sie isoliert, werden ausgegrenzt und im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten vertrieben. Sie können dort nicht ein – wie auch immer gearteter – Teil der Fanszene werden. Die Unterstützung solcher Kräfte sollte Ziel jeder sozialpädagogischen Jugendarbeit sein.

Aus: Lotta - antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen, Nr. 39, Sommer 2010 http://projekte.free.de/lotta