»Das dreigliedrige Schulsystem ist unsozial«

in (21.07.2010)

»Der Spiegel« titelte: »Schluss mit dem Schul-Chaos!«. Aber warum gibt es das dreigliedrige Schulsystem überhaupt? marx21 sprach mit dem mit dem Eliteforscher Michael Hartmann über Selektionsmechanismen in Wirtschaft, Politik und im Bildungssystem

Der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder und der Manager Jürgen Schrempp sind beide aus kleinen Verhältnissen an die Spitze von Staat und Wirtschaft gekommen. Du sagst aber: »Wer arm geboren wird, stirbt auch arm.« Ist das nicht ein Widerspruch?
Ausnahmen von der Regel gibt es immer. Aber die Erhebungen sind eindeutig - es hat gerade im letzten Jahrzehnt dramatische Veränderungen der sozialen Durchlässigkeit gegeben.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat Folgendes festgestellt: In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ist jeder Zweite, der arm war, innerhalb der nächsten vier Jahre aus der Armut herausgekommen - zum Beispiel durch die Aufnahme einer Arbeit. Das ist in der Mitte des letzten Jahrzehnts gerade noch einem Drittel gelungen. Das Verbleiben in Armut wird also zunehmend zur Regel.

Zu den Abweichungen, den Aufsteigern: Die gibt's in der Politik häufiger als in der Wirtschaft. Schröder stellte keine absolute Ausnahme dar, wir hatten bis zum Ende der 1990er Jahre regelmäßig eine beträchtliche Zahl von Arbeiterkindern in den verschiedenen Bundesregierungen. In der aktuellen ist es allerdings nur noch Ronald Pofalla - auch das eine dramatische Veränderung in relativ kurzer Zeit.

In der Wirtschaft machen Arbeiter- und Mittelschichtskinder nur jeden siebten Manager aus - die anderen sechs stammen aus bürgerlichen oder großbürgerlichen Haushalten.


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Aber Deutschland ist doch überhaupt nicht zu vergleichen mit Ländern wie England, wo die politischen und ökonomischen Führungskräfte die Colleges von Eton, Oxford und Cambridge durchlaufen, oder Frankreich, wo Wirtschaft und Staat mit Absolventen der Grandes Écoles durchsetzt sind...
Das ist richtig. Was wir in Deutschland nicht haben, sind Elitebildungsinstitutionen. Die gibt es in Großbritannien, in den USA, in Frankreich, aber kaum hier. Das hat damit zu tun, dass sich das deutsche Schul- und Hochschulsystem bis in die frühen 1960er Jahre hinein selbst als Elitebildungssystem verstand. Das deutsche Gymnasium, vor allem das altsprachlich-humanistische Gymnasium, und die Universität hatten den Zugang so restriktiv geregelt, dass eine gesonderte Eliteinstitution nicht nötig schien. Das hat sich durch die Bildungsexpansion im Gefolge von '68 massiv verändert und deswegen werden jetzt auch solche Eliteinstitutionen auf Hochschulebene gebildet. Ich vermute, die Exzellenzuniversitäten werden in 30 bis 40 Jahren einen ähnlichen Status haben wie Oxford und Cambridge - nicht ganz so exklusiv, aber in diese Richtung, mit den entsprechenden Zugangsbeschränkungen.

Du redest von Elite und Elitebildung. Was ist für dich Elite und was zeichnet sie aus?
Elite ist ganz einfach zu definieren: Darunter verstehe ich die Personen, die in der Lage sind, gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich zu beeinflussen. Entweder tun sie dies durch ihr Amt in der Politik, Verwaltung, Justiz oder in den Spitzen des Managements. Oder sie tun es durch Eigentum - das gilt nur für die Wirtschaft, also Besitzer von Unternehmen oder Besitzer großer Aktienpakete, die die Unternehmenspolitik wesentlich bestimmen können.

Unter maßgeblicher Beeinflussung gesellschaftlicher Entwicklungen verstehe ich Folgendes: Wenn beispielsweise das Bundesverfassungsgericht zum Scheidungsrecht, zu Hartz IV oder Studiengebühren eine Entscheidung fällt, dann betrifft das große Teile der Bevölkerung. Wenn die Bundesregierung jetzt beschließt, Finanzrettungspakete so oder so zu gestalten, wenn die Ministerialbürokratie die Gesetzesvorlagen schreibt oder wenn ein Konzernmanagement Entscheidungen über Investitionen trifft, dann greift dies tief in das Leben von vielen Menschen ein. Die Elite in Deutschland, das ist ein relativ kleiner Kreis - etwa 4000 Personen, zumeist Männer.

Was sind die Auswahlmechanismen, wie wird man zur Elite?
Es gibt unterschiedliche Mechanismen. In der Wirtschaft gibt es den klassischen Weg der Vererbung - da ist der einzige Auswahlmechanismus, dass man in der richtigen Familie geboren ist. Dazu kommt in der Wirtschaft der Weg der Besetzung von Spitzenpositionen im Management. Hier wird im Kern nach dem Muster der »sozialen Ähnlichkeit« ausgewählt - die soziale Herkunft zählt. Nicht im Sinne von Vererbung, sondern im Sinne von entscheidenden Kriterien bei der Auswahl von Personen: Wie gibt sich die Person, wie spricht sie, welche Verhaltensweisen legt sie an den Tag? Das erklärt, warum 85 Prozent der Manager Bürger- oder Großbürgerkinder sind. Jeder zweite Spitzenmanager in den hundert größten deutschen Unternehmen entstammt dem Großbürgertum, das gerade mal 0,5 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Politik, Verwaltung und Justiz sind nicht so geschlossen mit einem Anteil der Bürger- und Großbürgerkinder von gut 60 Prozent, weil dort andere, stärker formalisierte Aufstiegswege gelten. In der Politik war es traditionell am offensten. Bis vor ein paar Jahren stammten durchschnittlich knapp zwei Drittel der Minister aus Kleinbürger- oder Arbeiterfamilien und nur ein gutes Drittel aus Bürger- und Großbürgerfamilien. Das hat sich auf den Kopf gestellt, mittlerweile ist das Verhältnis genau umgedreht. Im neuen Kabinett Merkel haben drei Großbürgerkinder zentrale Ministerien inne: Karl-Theodor zu Guttenberg, der aus einer der 400 reichsten Familien Deutschlands und einem 800 Jahre alten Adelsgeschlecht stammt, das Verteidigungsministerium, Thomas de Maizière aus einer gut vernetzten Hugenottenfamilie das Innenministerium und Ursula von der Leyen das Arbeitsministerium. Das gab es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie.

Ursache ist die Veränderung der Aufstiegswege in den Parteien. Früher musste man die Ochsentour von unten nach oben machen, die sehr lange dauerte. Vor allem in den großen Volksparteien sorgten die relativ stabilen Basisstrukturen dafür, dass die Parteibasis einen erheblichen Einfluss auf die Kandidatenaufstellung hatte. Wenn da jemand zu großbürgerlich war, dann ist er einfach nicht aufgestellt worden. Das ist heute häufig anders. Die Parteien haben massiv an Mitgliedern verloren: Die SPD hat sich gegenüber ihrem Höchststand halbiert, die CDU bewegt sich darauf zu. Zugleich ist die Mitgliedschaft überaltert und ein erheblicher Teil inaktiv. Die Einflussmöglichkeiten der unteren Parteigremien haben dadurch stark nachgelassen, die Parteizentralen haben großen Einfluss auf die Besetzung von Spitzenpositionen und holen auch mehr Quereinsteiger rein. Im Gegensatz zur Wirtschaft kann sich das allerdings auch wieder ändern - große gesellschaftliche Bewegungen können diese Strukturen auch wieder aufbrechen. Schließlich muss die politische Elite immer noch gewählt werden. Die soziale Rekrutierung der politischen Elite ist, auch wenn sie am System grundlegend nichts ändert, doch insofern wichtig, als die Einkommensverteilung in der Regel umso ungleicher ist, je exklusiver und einheitlicher sich die Eliten rekrutieren.

Früher studierten die Mitglieder der Elite oder diejenigen, die dazu werden wollten. Ist die Uni noch der Fahrstuhl nach oben?

Nein, die Uni ist nur noch eine unabdingbare Voraussetzung, um Spitzenpositionen zu erreichen - der Prozentsatz derjenigen, die ohne einen Universitätsabschluss nach ganz oben kommen, liegt unter fünf Prozent. Noch immer kommt die Mehrheit der Uniabsolventen in gehobene Positionen mit überdurchschnittlichem Verdienst. Das gilt vor allem für die Ingenieure, Naturwissenschaftler, Mediziner und auch einen Teil der Wirtschaftswissenschaftler. Allerdings ist der Anteil derjenigen, die tatsächlich in Führungspositionen kommen oder sich mit einer größeren eigenen Praxis oder Kanzlei selbstständig machen, deutlich gesunken. Die große Mehrzahl derjenigen, die heute studieren, landet in abhängiger Beschäftigung.

Die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen wird mit einer stärkeren Orientierung auf die Anforderungen des Arbeitsmarkts begründet. Zu Recht?
Ob das stimmt, ist zweifelhaft. Unter den Studenten hat sich ja mittlerweile herumgesprochen, dass ein Absolvent mit dem Bachelor nicht sehr viel anfangen kann. Trotz aller gegenteiligen Ankündigungen wird ein Bachelorabschluss bestenfalls gleich, oft sogar auch unterhalb eines traditionellen Fachhochschulabschlusses eingestuft. Also versuchen vier Fünftel der Studierenden, den Master draufzusetzen. Damit droht das Konzept in seinem Kern zu scheitern.

Denn meines Erachtens war das Hauptargument, das aber niemand so offen ausgesprochen hat, nicht die internationale Vergleichbarkeit und all das. Es ging vielmehr vorrangig darum, die Masse der Studierenden schnell durch das Studium zu schleusen, um den zu erwartenden Studierendenberg ohne zusätzliches Personal bewältigen zu können. Wenn 50 bis 70 Prozent der Studierenden - das waren die Zielgrößen der meisten Wissenschaftsminister - nach dem Bachelor aufhören, bedeutet das einen erheblichen Kapazitätsgewinn. So sollte die Lösung lauten, ohne an der bei deutlich steigenden Studierendenzahlen noch viel stärkeren Unterfinanzierung der Universitäten etwas ändern zu müssen. 

Selektion beginnt schon vor der Uni - eines der zentralen Themen im nord-rhein-westfälischen Wahlkampf war das dreigliedrige Schulsystem.  

Zu Recht, das dreigliedrige Schulsystem verhindert jede durchgreifende soziale Öffnung. Sechzig Prozent eines Jahrgangs haben nach der vierten Klasse praktisch keine Chance mehr auf ein Studium. Deshalb wehren sich Gymnasialeltern, wie aktuell in Hamburg, oft auch vehement gegen die Abschaffung dieses Systems. Sie fürchten Konkurrenz für die eigenen Kinder, wenn die frühe Selektion fällt. Auch stimmt einfach nicht, dass es die Besten allein mit ihrer Leistung schaffen, nach oben zu kommen. Um eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen, muss das Kind eines ungelernten Arbeiters sehr viel bessere Leistungen erbringen als das Kind eines Akademikers. An dieser Stelle werden Entscheidungen getroffen, die mit individueller Begabung des Kindes nur zum Teil etwa zu tun haben. Akademikerkinder haben es nicht nur leichter, weil sie bessere Lernbedingungen haben, sondern auch, weil ihre Leistungen besser bewertet werden. Um eine wirklich durchgreifende Verbesserung zu erreichen, müsste die anachronistische Dreigliedrigkeit im Schulsystem aufgehoben und durch ganztägige Einheitsschulen ersetzt werden. Dann könnten, wie das skandinavische Beispiel zeigt, die Leistungsschwachen profitieren, ohne dass deswegen die Leistungsstarken in puncto Lernerfolg verlieren. Das bedeutet natürlich auch, deutlich mehr Geld in die Bildung zu stecken. Man sollte zu diesem Zweck zum Beispiel den Spitzensteuersatz massiv anheben. Das würde vor allem die Leute treffen, die selbst kostenfrei studiert haben und davon dauerhaft profitieren. Einen Teil davon könnten sie ruhig in Form von Steuern an die nächste Generation zurückgeben.

(Die Fragen stellte Stefan Bornost)

Zur Person:
Michael Hartmann ist Professor für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt. Er forscht über gesellschaftliche Eliten.

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