Rechtlos hinter Gittern

in (10.12.2009)
Untersuchungshaft trifft noch härter als Strafhaft

In Berlin saß eine junge Frau fünf Monate in Untersuchungshaft. Sie sollte am 18. Mai versucht haben, mit Grillanzünder ein Auto anzustecken. Triftige Beweise gab es nicht. Dafür politischen Druck aus Medien und CDU, der Staat müsse endlich etwas tun gegen die Serie von Autobränden in der Stadt. Dass Alexandra R. noch vor einem Urteil eingesperrt wird, verdankte sie einem feinen Zirkelschluss: Schon vor dem ersten Prozesstag stand fest, dass die 21-Jährige „aus generalpräventiven Gründen“ mit einer abschreckend hohen Freiheitsstrafe zu rechnen habe, wie es im Haftbefehl hieß.
Und weil man mit dieser harten Strafe drohte, wurde die Fluchtgefahr als hoch eingeschätzt. Entlassung gegen Meldeauflagen und Kaution abgelehnt. Bei einem zweiten Haftprüfungstermin wurde noch Wiederholungsgefahr nachgeschoben.


Selbst wenn man die grundsätzlichen Einwände gegen Strafen beiseite lässt, ist die U-Haft ein besonderer Auswuchs des Strafsystems. Hier wird jemand seiner Freiheit beraubt, bevor ihm überhaupt etwas nachgewiesen wurde. Man sperrt potenziell unschuldige Menschen ein. Manche U-Häftlinge werden schließlich gar nicht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, haben aber trotzdem über Monate im Knast zugebracht.


U-Haft ist für die Betroffenen besonders belastend. Mehr als die Hälfte aller Suizide im Gefängnis passieren während der U-Haft. Trotz dieser bekannten Wirkungen und trotz des hohen Grundrechtseingriffs hat es bis zum Jahr 2009 gedauert, dass eine Bundesregierung konkretere rechtsstaatliche Vorgaben gemacht hat. Jahrzehntelang gab es abgesehen von einigen Generalklauseln kaum Vorschriften, wie die Haft für die derzeit rund 13.000 Untersuchungsgefangenen auszusehen hat. Ihr Alltag ist zum Teil härter als der von Strafgefangenen: Die Dauer der Haft ist meist ungewiss, die Beschuldigten sind oft 23 Stunden eingeschlossen in ihrer Zelle, Vollzugslockerungen gibt es nicht.


Eine Totalreform ist überfällig. Doch die beschlossenen Neuregelungen erfüllen vor allem Forderungen aus Europa. So wurde der Rechtsschutz für die Beschuldigten verbessert – künftig bekommt jeder unverzüglich nach Inhaftierung einen Pflichtverteidiger bestellt und nicht erst nach drei Monaten. Beschränkungen wie Briefkontrollen sollen nicht mehr standardmäßig stattfinden. Wie die Haftbedingungen genau auszusehen haben, kann der Bund nicht mehr entscheiden. Der Strafvollzug liegt seit 2006 in den Händen der Bundesländer, eines der katastrophalen Ergebnisse der Föderalismusreform. Auch hier verweisen die geplanten Verbesserungen eher auf die bisherigen krassen Zustände denn auf eine humanere Zukunft. So dürfen Untersuchungsgefangene wohl künftig arbeiten, ihre Zellen mit privaten Gegenständen ausstatten und ihre eigene Kleidung tragen. Und sie dürfen länger Besuch empfangen – Erwachsene zwei Stunden im Monat, Jugendliche vier.


Zwingende Höchstgrenzen für die Haftdauer gibt es hingegen genauso wenig wie Änderungen bei den Haftgründen. U-Haft darf angeordnet werden, wenn der zu Inhaftierende der Tat „dringend verdächtig“ ist, Flucht-, Wiederholungs- oder Verdunklungsgefahr besteht und die Anordnung der U-Haft „angemessen“ ist im Verhältnis zur Schwere der Tat. Wie der dringende Tatverdacht zustande kommen kann, zeigt sich am Beispiel von Alexandra R. Sie wurde mehrere Straßen weiter beim Einkaufen verhaftet. Es fanden sich weder Grillanzünder an ihren Fingern noch Spuren am Auto. Deshalb wurde sie zunächst freigelassen und erst nach einer öffentlichen Hetzkampagne zwei Tage später wieder eingesperrt. Die neu präsentierten „Beweise“ waren ein Sprühkopf und handelsüblicher Grillanzünder in ihrer Wohnung.

Gilt man einmal als „dringend verdächtig“, sind die Haftgründe schnell konstruiert. Fluchtgefahr behauptet ja, dass eine junge Frau, die mitten in einer Ausbildung steckt, mal eben untertauchen würde. Noch willkürlicher ist die Anordnung wegen Wiederholungsgefahr. Hier wird jemand, der für die eine Tat noch nicht einmal verurteilt ist, präventiv für die nächste eingesperrt. Die Haftgründe sind also extrem dehnbar, und Alexandra R. blieb bis einen Woche vor ihrem Freispruch am 4. November 2009 hinter Gittern. Unterstützung bekam sie von einer Soligruppe. Das Gros der anderen U-Häftlinge hat nicht einmal das.