Was zum Henker ist Organizing?

in (24.08.2010)

Organizing?! Für viele deutsche Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ist es neumodisches Zeug, das über den großen Teich geschwappt ist und mit dem Wahlkämpfe geführt werden. Für viele andere ist es ein hoffnungsvoller Ansatz wieder offensiv Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durchsetzen zu können. Zum Teil mit anderen Mittel als bisher üblich.

Basismobilisierung und Druckkampagnen werden den Mittel der Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern (befristete Verträge, Leiharbeit, Lohndumping) entgegen gesetzt. Ein neuer Wind weht! Und das ist dringend notwendig. Durch zunehmende prekäre Beschäftigung und die schwindende Macht fast aller deutschen Gewerkschaften (auch durch sinkende Mitgliederzahlen) sind diese mit und durch ihre herkommlichen Mitteln zur Interessendurchsetzung in die Defensive geraten. Und so machen sich einige Gewerkschaften auf, neue Wege zu beschreiten: mit Organizing. Jüngste Beispiele finden sich unter anderem bei der Industriegewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt (IG BAU ), die mit Organizing den Streik der Beschäftigten im Gebäudereinigergewerbe im letzten Jahr durchführen konnten. Organizerinnen und Organizer unterstützen auch beim Streik der Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) das Bodenpersonal an den Berliner Flughäfen Tegel und Schönefeld für einen gemeinsamen Tarifvertrag und bessere Arbeitsbedingungen. Das größte Organizingprojekt startete aber vor einem halben Jahr bei der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall) in den Branchen Erneuerbare Energien und Kfz-Handwerk. Dieses Projekt wird dort die Tariffähigkeit herstellen bzw. erhalten und langfristige gewerkschaftliche Strukturen in den Betrieben aufbauen.

Die Herangehenweisen und Methoden beim Organizing sind für viele Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ungewöhnlich. Beginnt doch der für die Beschäftigten wahrnehmbare Teil des Organizing mit dem Aufbau einer gewerkschaftlichen Basis im Betrieb. Diese gewerkschaftliche Basis wird zum Entscheidungsträger für das weitere Vorgehen. Bottom-up statt top-down ist die Devise. Dabei ist es egal, ob durch Organizing ein Betrieb gewerkschaftlich erschlossen oder ein Tarifvertrag erkämpft wird.

Zum Aufbau der Basis im Betrieb werden von den Organizerinnen und Organizern in der Regel erst einmal Gespräche geführt. Bei diesem Gesprächen kommt es vor allem auf das Zuhören an. Die goldene Regel beim 1:1 Gespräch lautet 70:30. 70 % hört die Organizerin / der Organizer zu, und 30 % redet er/sie selbst. Ziel ist es mit möglichst vielen Beschäftigten ein Thema zu finden, das sie hinreichend motiviert sich zu organisieren und mit den anderen Kolleginnen und Kollegen zusammen für die gemeinsamen Interessen einzusetzen. Durch ein systematisches Vorgehen wird dabei verhindert, dass versehentlich Beschäftigtengruppen (Frauen, Migratinnen und Migraten, Leiharbeitnehmerinnen und Leiarbeitnehmer, Ingenieure etc.) unangesprochen bleiben. Durch Aktionen, weitere Mobilisierung und begleitende Druckkampagnen wird die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter im Betrieb systematisch gesteigert. Natürlich geht das nur mit steigenden Mitgliedszahlen im Betrieb.

Organizingprojekte deshalb auf reine Mitgliederwerbeprojekte zu reduzieren wird den dort angestoßenen Prozessen nicht gerecht. Diese lassen sich eher mit Politisierung, Demokratisierung und praktischer Solidarität beschreiben. Noch ist nicht klar, ob sich diese Form der Gewerkschaftsarbeit durchsetzt, aber wenn, dann wird sie die deutschen Gewerkschaften gehörig verändern.

Mitmachen kann mensch bei der jeweiligen Gewerkschaft. In fast jedem (Jugend)bildungsprogramm (IGM; DGB; ver.di) finden sich spannende Seminare bei denen die Methoden kennengelernt, diskutiert und geübt werden können.