Brasilien: Lula forever?

US-Präsident Obama nannte ihn vergangenes Jahr noch den „beliebtesten Politiker weltweit“[1] – doch nun muss Luiz Inácio da Silva gehen. Nach zwei Amtsperioden kann er bei der brasilianischen Präsidentschaftswahl am 3. Oktober nicht noch einmal kandidieren.

Der Noch-Präsident Brasiliens hat seinem allgemein verwendeten Namenskürzel „Lula“ – was so viel wie Tintenfisch heißt – alle Ehre gemacht. Er hat sich als politisch anpassungsfähiges „Weichtier“ erwiesen: anpassungsfähig an den jeweiligen politisch-ökonomischen Kontext und an die Erwartungen seiner Wählerschaft, weich hinsichtlich seiner proklamierten Solidarität mit den armen und sozial benachteiligten Brasilianern.

Während seiner Amtszeit erfreute sich Lula daher fast durchgängig großer Beliebtheit; heute verfügt er mit 80 Prozent über die höchsten Zustimmungswerte eines Präsidenten in der Geschichte Brasiliens überhaupt. Eine erstaunliche Erfolgsbilanz also – trotz eines Korruptionsskandals seiner Partei im Jahr 2005 und trotz des potentiellen Bedrohungsszenarios durch die globale Wirtschafts- und Finanzmarktkrise für die brasilianische Entwicklung.

Dabei war schon die Ausgangslage bei Amtsantritt alles andere als einfach: Lula ging damals einen Spagat ein zwischen der versprochenen Verbesserung der Lage der Armen als seiner größten Wählergruppe und dem Abbau immenser Auslandsschulden, die ebenfalls große Geldberge verschlangen. Doch es gelang ihm tatsächlich, den damit verbundenen Ansprüchen relativ gerecht zu werden.

Zwar wurden manche der Sozialprogramme der Regierung Lula nicht von dieser selbst initiiert, sondern bereits von Lulas Vorgänger Fernando Henrique Cardoso. Dennoch schreiben sich Lula und seine Arbeiterpartei (PT) die damit inzwischen erzielten sozialen Verbesserungen auf ihre Fahnen und gewinnen so an Zuspruch.

Millionen Brasilianern geht es heute besser als noch vor Lulas Amtsantritt: Seit 2003 konnten über zehn Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden, so dass die Zahl der formellen Arbeitsverhältnisse erstmals die derjenigen im informellen Sektor übersteigt. Zudem wurden der Mindestlohn erhöht, Mikrokredite vergeben und soziale Infrastrukturprogramme vorangetrieben, wie der soziale Wohnungsbau oder der Ausbau des Strom- und Wasserversorgungsnetzes. Das Sozialprogramm Bolsa Família (Familienstipendium) gewährt bedürftigen Haushalten monatliche Zuschüsse zwischen 10 und 91 Euro und ermöglicht so rund 13 Millionen Brasilianern, mehr zu konsumieren und stärker am öffentlichen Leben teilzuhaben. Mit dem Programm Fome Zero (Null Hunger) wurde Brasilien unter den weniger entwickelten Ländern zudem zum Vorreiter im Kampf gegen den Hunger. Vor allem für Frauen und im von extremer Armut geprägten Nordosten (und hier insbesondere in Lulas Heimat Pernambuco) waren die Sozialprogramme ein voller Erfolg. Insgesamt ist durch sie der Anteil derer, die unter der Armutsgrenze leben, um 31 Prozent und derjenigen in absoluter Armut um 50 Prozent zurückgegangen.[2]

An den positiven Zahlen muss allerdings kritisiert werden, dass es nach wie vor keine offiziell definierte Armutsgrenze gibt. Hinzu kommt, dass viele der Sozialprogramme die Probleme nicht an der Wurzel bekämpfen, also dort, wo Ungleichheit und Ungerechtigkeit entstehen – etwa aufgrund des nach wie vor höchst ungerechten Bildungssystems. Von Anfang an wurde Lula daher vorgeworfen, Assistentialismus zu praktizieren, um vom Erfordernis tiefergehender Strukturreformen abzulenken: Seine Sozialprogramme seien lediglich Pflaster auf den vielen offenen Wunden der brasilianischen Gesellschaft.

Anhaltende Ungleichheit

Tatsächlich ist Brasilien immer noch eines der sozial ungleichsten und ungerechtesten Länder der Welt. Etwa 54 Millionen Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze, und in den Händen von nur zehn Prozent der arbeitenden Bevölkerung konzentrieren sich über 42 Prozent des Gesamteinkommens. Dies lässt sich auch am Landbesitz ablesen: Brasilien steht weltweit an zweiter Stelle, was die Konzentration des Landbesitzes angeht; ein Prozent der Besitzer kontrolliert 44 Prozent der Nutzfläche. Und die von Lula versprochene Landreform steht noch immer aus.

Auch die Diskriminierung der Afrobrasilianer, der Indigenen, der Landlosen hält weiter an – und immer sind davon besonders die Frauen betroffen. Die afrobrasilianische Bevölkerung weist durchschnittlich die höchste Rate an Analphabetismus und zugleich den niedrigsten Bildungsgrad sowie die niedrigsten Einkommen auf. Hinzu kommt eine geographische Diskrepanz: Der Süden, in dem mehr weiße Brasilianer leben und ein Großteil der Industrie angesiedelt ist, steht deutlich besser da als der Norden und Nordosten (wo es auch die höchste Gewaltrate gibt, welche die sozioökonomische Exklusion widerspiegelt). An der strukturellen Ungleichheit leiden insbesondere die städtischen Peripherien und Favelas. Weitere grundsätzliche Probleme sind die fehlende öffentliche Sicherheit, die Gewalt der Milizen, Sklavenarbeit (zum Beispiel im Agrarsektor) und der Frauenhandel (etwa zum Zweck der Zwangsprostitution).[3]

Wie in vielen lateinamerikanischen Ländern gibt es auch in Brasilien noch immer einen Mangel an politischer Transparenz und Bürgernähe. Allerdings nimmt die politische Mitwirkung dank starker zivilgesellschaftlicher Bewegungen zu. Dadurch wurde auf politischer Ebene bereits einiges bewegt, etwa die Einrichtung einer nationalen Stelle für Politik für Frauen (Secretária Especial de Políticas para as Mulheres, SEPM), die Durchführung eines nationalen Plebiszits zur Beschränkung des Landbesitzes und der nationalen Kommunikationskonferenz (CONFECOM), auf der auch die Demokratisierung der Medien debattiert werden sollte.

Wirtschaftspolitik für die Big Player

In der Wirtschaftspolitik gelang Lula ein massiver Abbau der Auslandsschulden, ohne dabei seine Anhänger zu verprellen.

Zudem profitierte seine Beliebtheit entscheidend davon, dass die brasilianische Wirtschaft nicht so stark wie die anderer Länder von der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise gebeutelt wurde. Arbeitsmarkt und Binnennachfrage blieben weitgehend intakt und mehr noch: Das Wachstum hält kontinuierlich an. In diesem Jahr soll es zwischen 4,5 und 5,5 Prozent betragen. Dazu haben vor allem die Exporteinnahmen und eine vorausschauende Wirtschaftspolitik beigetragen. Die Regierung Lula erhöhte rechtzeitig die Liquidität und stärkte damit die nationale Konsumbereitschaft wie auch die Staatsunternehmen, etwa den Öl-Riesen Petrobras.

Dennoch ist auch Lulas Wirtschaftskurs nicht unumstritten: Sein wirtschaftsfreundlicher Pragmatismus kam vor allem dem Agribusiness und anderen Big Players zugute. Damit konnte der Export von sogenannten Biokraftstoffen aus Zuckerrohr wie auch der von Soja und Erz angekurbelt werden. Der Bau neuer Atomkraftwerke und die Unterstützung des umstrittenen Wasserkraftprojekts Belo Monte bescherten der Regierung Lula ebenfalls nicht nur Freunde. Alle diese Maßnahmen haben gravierende sozial-ökologische Folgen, darunter die fortdauernde besorgniserregende Zerstörung des Amazonaswaldes und die Bedrohung indigener Lebensräume. Dabei lautet das offizielle Ziel der Regierung nach wie vor, bis 2020 die Entwaldung um 20 Prozent und den Ausstoß von Treibhausgasen um 35 Prozent zu reduziereren.

Dennoch überwiegt in Brasilien die Zustimmung zu Lulas Wirtschaftspolitik. Die fast chamäleonartige Verwandlung seines Images tat dem keinen Abbruch: Das einstige Bild des Gewerkschafters verblasste mit der Zeit und wurde zu dem des mächtigen Staatsmanns und Lenkers einer aufstrebenden Wirtschaftsmacht.

Wie weiter nach dem „Lulismus“??

Die Arbeiterpartei ist inzwischen völlig auf die Über-Figur Lula ausgerichtet – so sehr, dass die Zeit von 2002 bis 2010 eher mit dem Begriff „Lulismus“ als mit der Regierungszeit der PT gleichgesetzt wird.[4]

Umso mehr stellt sich die Frage: Wie weiter nach dem „Lulismus“?

Zur Gestaltung der Zukunft seiner Partei setzt Lula eindeutig auf die Tintenfischstrategie: In einer Art Vernebelungstaktik schießt er eine Tinten-, respektive Beliebtheitswolke für seine Wunsch-Nachfolgerin Dilma Roussef ab, der er teils über Gebühr die Erfolge seiner Regierung zuschreibt. Roussef wurde denn auch schon mal als ein „Wahl-Pseudonym für Lula“ bezeichnet. Anders ausgedrückt: Es ist nicht klar, wer hier eigentlich Kandidat(in) der PT ist. Und wenn der Nebel sich nach der Wahl dann etwas gelichtet hat, werden die Wähler, wo sie gerade noch Lula zu erkennen vermeinten, Roussef sehen.

Und diese Strategie scheint aufzugehen: So meint der US-amerikanische Lateinamerikaexperte Riordan Roett, dass offenbar gelte, „wenn Lula sagt, sie ist die richtige Person, dann ist sie auch die richtige“. Er kenne keinen anderen Fall in Lateinamerika, bei dem ein zweifach gewählter Präsident einfach nur zu sagen brauchte: „Vertraut mir“ – und die Wähler scheinen ihm tatsächlich zu vertrauten.[5]

Sollten sich die Ergebnisse der bisherigen Umfragen tatsächlich bewahrheiten, wird Dilma Roussef am 3. Oktober zum neuen Staatsoberhaupt gewählt werden. Dabei war sie vielen Brasilianern bis vor kurzem überhaupt kein Begriff. Noch heute gilt die aus der Mittelschicht stammende Technokratin als farblos und ohne Charisma. Erst 2001 trat sie der PT bei, und im Jahr 2002 wurde sie als Ministerin für Energie und Bergbau in Lulas Kabinett aufgenommen. Sie gilt als „Mutter des PAC“, des staatlichen Wachstumsbeschleunigungsprogramms, das vor allem Infrastrukturmaßnahmen umfasst. Ganz in Anlehnung an Lula stehen Aufschwung und Armutsbekämpfung im Mittelpunkt ihrer Programmatik, die auch die Stärkung von Staatsunternehmen wie Petrobras vorsieht. Seit Lulas Prestige und Propaganda auf sie abgefärbt haben, hat sie deutlich an Selbstbewusstsein gewonnen und liegt laut Umfragen nun klar vor ihrem stärksten (von insgesamt acht) Rivalen.

Dabei handelt es sich um José Serra, den Kandidaten der Sozialdemokratischen Partei Brasiliens, PSDB. Dieser bietet jedoch nicht wirklich etwas Neues. Nur außenpolitisch würde er sich wieder verstärkt an die USA annähern wollen.

Drittstärkste im Rennen um das Präsidentenamt ist Marina Silva, populäre Umweltpolitikerin und Kandidatin der Grünen. Sie setzt mit ihrer Wahlkampagne in der Tat neue Akzente, indem sie die Themen Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung sowie Korruptionsbekämpfung in die Debatten einbringt. Auch wenn Silva keine Chance hat, tatsächlich Präsidentin zu werden, verkörpert sie doch ähnlich wie Lula einen „brasilianischen Traum“: Als Tochter von Kautschukzapfern im Amazonas lernte sie erst mit 14 Jahren lesen und schreiben und machte sich später einen Namen im Kampf gegen die Amazonasentwaldung durch brandrodende Viehzüchter und Farmer. Von 2003 bis 2008 war sie schließlich Umweltministerin unter Lula, wechselte dann aber von der PT zu den Grünen.

Dass mit ihr und Roussef gleich zwei Frauen an vorderster Stelle bei der Präsidentschaftswahl kandidieren, stellt einen Präzedenzfall in der brasilianischen Geschichte und eine wichtige Entwicklung in der „neuen“ brasilianischen Demokratie seit 1985 dar. Beide versuchen, sich das zunutze zu machen und vor allem die rund 70 Millionen Stimmen der wahlberechtigten Frauen für sich zu gewinnen, die beachtlichen Einfluss auf den Wahlausgang haben werden.

Neben Serra hatte Dilma Roussef mit Teilen der großen brasilianischen Medien noch einen weiteren ernst zu nehmenden Gegner. Diese und vor allem ihre Besitzer gelten allgemein als konservativ und manipulativ. Prominentestes Beispiel dafür ist das Medien-Imperium Globo, dessen Fernsehsender 54 Prozent der nationalen Zuschauerquote und 53 Prozent des Anzeigenmarktes für sich vereinnahmen.[6]

Die Macht der Medien

Schon 2009 hatten konservative Medien versucht, die Krebserkrankung Roussefs auszuschlachten, um sie als schwache Kandidatin erscheinen zu lassen (noch dazu eine Frau!). In diesem Jahr wurde nun versucht, sie als radikale Terroristin zu präsentieren: Als junge Frau hatte sie sich während der Militärdiktatur einer Guerillagruppe angeschlossen und war an einem Überfall beteiligt gewesen, weswegen sie schließlich von der Militärjunta festgenommen und gefoltert wurde. Doch dieser Denunziationsversuch verfehlte seine Absicht: Die Brasilianer sehen in diesem Part ihrer persönlichen Geschichte schlicht kein Vergehen.

Insofern spricht vieles dafür, dass Dilma Roussef die Wahlen gewinnen wird. Dann wäre sie neben Cristina E. Fernandez de Kirchner in Argentinien und Laura Chinchilla in Costa Rica (die Chilenin Michelle Bachalet ist im März aus dem Präsidentenamt geschieden) die dritte Präsidentin Lateinamerikas – und die erste Brasiliens. Dies wäre umso erstaunlicher angesichts der Tatsache, dass Brasilien weiterhin ganz hinten rangiert, was die politische Repräsentanz von Frauen im Senat und im Abgeordnetenhaus angeht, auf Platz 142 von 188 Ländern.[7]

Angesichts dieses Szenarios lautet die eigentliche Frage aber noch dringlicher: Wie wird Lulas Rolle zukünftig aussehen? Wird er lediglich „beratender Mitgestalter“ oder doch dauerhafter und einflussreicher politischer Schatten Dilma Roussefs sein?

Kein Ende des Lulismus??

Fest steht, dass er weiterhin Einfluss ausüben und politisch aktiv bleiben will. Dies wird auch durch seinen Entschluss bestätigt, nicht in die freie Wirtschaft oder in einen hoch dotierten Beraterposten zu wechseln. Schon jetzt wird – und nicht nur hinter vorgehaltener Hand – gemunkelt, die Wahl Roussefs käme einer dritten Amtszeit Lulas gleich.

Seine gewünschte Rolle als omnipräsenter Übervater an der Seite einer Präsidentin „von Lulas Gnaden“ stellt durchaus demokratische Grundprinzipien in Frage und läuft Bestrebungen zivilgesellschaftlicher Gruppen, politische Reformen für mehr Demokratie durchzusetzen, zuwider.[8] Doch die Kritik an solch einer indirekten Fortführung des „Lulismus“ hält sich aufgrund der damit verbundenen Hoffnung auf eine Fortführung seiner Politik in Grenzen – die Strategien des Tintenfischs dürften somit auch in Zukunft aufgehen.

 


[1] Vgl. „Huffington Post“, 2.4.2009.

[2] Vgl. Jochen Steinhilber und Britta Joerißen, Bye, bye Lula – es war schön mit Dir, „FES Brasilinfo“, März 2010.

[3] Vgl. Human Rights Watch, World Report 2009, und Dokumente von Justiça Global (http://global.org.br), sowie Janna Greve, Failing Cities? „Blätter“, 4/2010, S. 99-106, und dies., Ware Mensch, „Blätter“, 1/1009, S. 45-51.

[4] Der kürzlich erschienene, etwas rührselige Kinofilm „Lula, der Sohn Brasiliens“ trug dazu bei, ihm einen Heldenstatus zu verleihen und den Mythos und die Verklärung der Figur Lula zu festigen; vgl. www.lulaofilhodobrasil.com.br/en.

[5] Vgl. Alexei Barrionuevo, Brazil’s President Works to Lend Popularity to a Protégée, in: „New York Times“, 25.7.2010.

[6] Insgesamt kontrollieren neun Familien die zentralen Fernseh- und Radiostationen wie auch Zeitungen, weshalb 56 Prozent der Brasilianer den Zeitungen misstrauen und sogar 58 Prozent den Fernsehinhalten. Vgl. zur Manipulation der Medien bei den Wahlen auch Altamiro Borges, Eleições e manipulação da mídia, in: „ALAI”, 12.7.2006.

[7] Ibope und Instituto Patrícia Galvão, Mulheres na Política, São Paulo 2009.

[8] Vgl. www.reformapolitica.org.br.

 

(aus: »Blätter« 10/2010, Seite 17-21)