Es begann mit Krieg - Das Gutachten des IGH zum Kosovo wird den Staatszerfall beschleunigen

Mit der UN-Resolution 1244 vom 10. Juni 1999 endete der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien. Vorangegangen war die Unterstützung eines Großteils der NATO-Staaten (allen voran Deutschlands) für die Sezessionsbestrebungen der jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina, die Unterstützung und Ausbildung der paramilitärischen kosovo-albanischen UCK, deren Angriffe auf Polizeiposten und Institutionen der Zentralregierung sowie Strafverfolgungs- und Vergeltungsmaßnahmen der Sicherheitskräfte Restjugoslawiens. Diese wurden dem internationalen Publikum als „ethnische Säuberungen" und „neues Auschwitz" präsentiert, um das Bombardement zu rechtfertigen.1  

In der Resolution 1244 wurde die Bundesrepublik Jugoslawien nach der militärischen Niederlage verpflichtet, alle militärischen, polizeilichen und paramilitärischen Kräfte aus dem Kosovo abzuziehen. Überdies wurde mit der Resolution eine internationale Sicherheitspräsenz (durch die NATO) legitimiert und der Kosovo unter eine zivile Übergangsverwaltung der UN gestellt, welche „vorläufige demokratische Selbstverwaltungsinstitutionen schaffen und deren Entwicklung überwachen [sollte], um die Bedingungen für ein friedliches und normales Leben für alle Einwohner im Kosovo sicherzustellen". Zugleich enthält die Resolution 1244 aber ein unmissverständliches „Bekenntnis aller Mitgliedstaaten zur Souveränität und territorialen Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien". Vorgesehen war lediglich eine „substantielle Selbstverwaltung für das Kosovo unter voller Berücksichtigung ... der Prinzipien der Souveränität und territorialen Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien". Solange die Resolution 1244 in Kraft ist - und sie kann nur durch eine neue Resolution des UN-Sicherheitsrates aufgehoben werden, welche dies explizit beinhaltet - ist der Kosovo ein Teil der Bundesrepublik Jugoslawien bzw. deren Rechtsnachfolgerin der Republik Serbien.



Das Gutachten des IGH

Daran ändert auch die einseitige Unabhängigkeitserklärung von Mitgliedern des kosovarischen Parlaments vom 17.02.2008 nichts. Am 22.06.2010 veröffentlichte der Internationale Gerichtshof (IGH) ein vom UN-Sicherheitsrat auf Initiative Serbiens in Auftrag gegebenes Gutachten zu der Frage, ob „die einseitige Unabhängigkeitserklärung durch die Provisorischen Institutionen der Selbstverwaltung des Kosovo im Einklang mit dem Völkerrecht" stehe. Das Gericht kam mehrheitlich zu der Auffassung, dass sie das nicht tut.2 Die Argumentation dahinter ist folgende: Das Völkerrecht verbietet zwar jegliche Angriffe auf die territoriale Integrität der UN-Mitgliedstaaten, jedoch greife dieses Verbot (ebenso wie die Schlussakte von Helsinki) seinerseits nur gegenüber den Mitgliedstaaten und UN-Institutionen. Betroffen wären damit auch die im Rahmen der Resolution 1244 geschaffenen Provisorischen Übergangsinstitutionen der kosovarischen Selbstverwaltung (Provisional Institutions of Self-Government, PISG), zu denen das kosovarische Parlament gehört. Da dieses als solches jedoch nicht befugt sei, entsprechende Entscheidungen zu fällen, wäre die Unabhängigkeitserklärung formal lediglich durch „Vertreter des kosovarischen Volkes ... in anderer Funktion" - letztlich also quasi durch Privatpersonen - erfolgt. Hiergegen finden sich jedoch weder im internationalen Recht noch in der Resolution 1244 irgendwelche Verbote, weshalb die Unabhängigkeitserklärung nicht gegen internationales Recht im Sinne der vom IGH freilich sehr eng aufgefassten Frage verstoßen habe.3 Letztlich hat das Gericht also die Unabhängigkeitserklärung massiv abgewertet und die Geltung der Resolution 1244 sowie des Souveränitätsprinzips bestätigt - jedoch nur gegenüber Völkerrechtssubjekten.



Wie Recht der Macht anheim gegeben wird

Der Internationale Gerichtshof stand vor einer schweren Aufgabe: Alle Welt erwartete von ihm ein Urteil darüber, ob die Sezession des Kosovo und deren Anerkennung mit dem Völkerrecht in Einklang zu bringen sind. Es schien nur zwei Möglichkeiten zu geben: Entweder das Völkerrecht in einer Art und Weise umzudefinieren (Goodspeak: „gewohnheitsrechtlich weiterzuentwickeln"), dass westlichem Imperialismus Tür und Tor geöffnet wären, oder aber vielen der mächtigsten Staaten der Welt, die den Kosovo als Staat bereits anerkannt haben, einen Verstoß gegen das Völkerrecht zu attestieren (und sie somit - so stets die Befürchtung - weiter von diesem zu „entfremden"). Deshalb enthielt sich der IGH jeder Einschätzung darüber, „ob der Kosovo damit [der Unabhängigkeitserklärung] zum Staat geworden ist [oder] nach Gültigkeit und Folgen der Anerkennung durch jene Staaten, die den Kosovo anerkannt haben".4 Die scheinbare Lösung des Dilemmas durch eine enge Auffassung der Frage lediglich nach der Legalität des Aktes der Unabhängigkeitserklärung bestand letzten endes darin, den mächtigen, anerkennenden Staaten, dem Kosovo und ihren Vertretern den Erfolg des Augenblicks zu lassen: „Unabhängigkeit des Kosovo rechtens" titelten europa- und weltweit die Tageszeitungen. Eine genauere Betrachtung des Gutachtens hingegen - die in Anbetracht seines schieren Umfangs einschließlich der Minderheitenmeinungen naturgemäß länger dauert - lässt jedoch auch ganz andere Schlussfolgerungen zu. So urteilte etwa der Grazer Verfassungsrechtler Joseph Marko, das Gutachten sei ein „Riesenerfolg für Serbien", da es eindeutig davon ausgehe, dass die Resolution 1244 weiterhin in Kraft ist und somit der Kosovo mitnichten ein unabhängiger Staat sein könne.5

Diejenigen politischen Eliten - allen voran aus Deutschland - welche die Zerschlagung Jugoslawiens und anschließend Serbiens nun schon seit fast 20 Jahren vorantreiben, halten hingegen an ihrer oberflächlichen Interpretation des Urteils fest. So meinte der deutsche Außenminister Westerwelle am 26.8.2010 vor vom Auswärtigen Amt finanzierten Stipendiaten des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft in der Universität Belgrad: „Die Unabhängigkeit Kosovos ist Realität und das Gutachten des IGH zur Unabhängigkeit der Republik Kosovo ist eindeutig. Die Landkarte für die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens, sie steht fest."6 Am Folgetag vor dem kosovarischen Parlament wiederholte er diese Auffassung: „Nach dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs steht fest, dass die Unabhängigkeitserklärung Kosovos dem Völkerrecht entspricht ... Mit der Unabhängigkeit Kosovos ist das Kapitel von Grenzziehungen und Abspaltungen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien abgeschlossen. Die Landkarte des westlichen Balkan ist fertig gezeichnet. Die Unabhängigkeit Kosovos und seine territoriale Integrität sind Tatsachen."7

Damit wird klar, dass der IGH mit seinem Gutachten das Dilemma, vor dem er stand, nicht aufgelöst, sondern vertieft hat: Vertieft wurde die Kluft zwischen dem, was (internationales) Recht ist und dem, wie Recht von den Eliten kommuniziert wird. Die Minderheit der Staaten, die den Kosovo bislang aufgrund ihrer eigenen Interessen oder internationalen Drucks anerkannt haben, wurden durch das Gutachten nicht gerügt, sondern oberflächlich bestätigt. Zugleich wurde implizit festgestellt, dass „eigentlich" ein anderes Recht gilt. Wann letztlich welches Recht gilt, wird damit zur reinen Frage politischer Macht. Dies kommt ganz deutlich zum Ausdruck, wenn Westerwelle jetzt, da die Grenzen nach den Vorstellungen der deutschen Politik verlaufen, „die Landkarte des Westlichen Balkan" als „fertig gezeichnet" beschreibt. Die Abspaltung des Kosovo sei rechtens, andere Grenzverschiebungen hingegen ausgeschlossen.



Sezessionistische Eigendynamik

Doch die Macht befindet sich nicht allein in den Händen derer, die sich in deren Besitz wähnen. Dafür ist der Kosovo mit seinen knapp 2 Mio. Einwohnern ein herausragendes Beispiel, wo man es trotz zehnjähriger militärischer Besatzung (KFOR) - seit Beginn 2008 ergänzt durch eine „zivile" EU-Aufstandsbekämpfungsmission (EULEX) - nicht geschafft hat, der UCK ihre politische Macht zu nehmen, groß-albanische Vorstellungen zu zerschlagen und antiserbische Übergriffe zu verhindern. Weitere Beispiele finden sich in der unmittelbaren Nachbarschaft: Trotz NATO-Präsenz muss damit gerechnet werden, dass radikale Teile der etwa 500 000 Albaner umfassenden Minderheit in Mazedonien einen Anschluss der Region um Tetowo an den Kosovo oder gar ein Großalbanien einfordern und hierfür bereit sein könnten, einen neuen Bürgerkrieg vom Zaun zu brechen. Die Regierung der Republik Srpska in Bosnien-Herzegowina hat in den vergangenen Monaten die verfassungsrechtlichen Weichen für ein Referendum über den Austritt aus dem von der internationalen Gemeinschaft konstruierten und von der EU militärisch zusammengehaltenen Staat geschaffen. Mit solchen Androhungen können Politiker in der mehrheitlich von Serben bewohnten Republik massiv Wählerstimmen mobilisieren, obwohl die Bereitschaft von EU und NATO, notfalls militärisch einzugreifen, offensichtlich ist.

Ähnliches gilt für verschiedene Minderheiten im Kaukasus und Moldawien, deren De-facto-Unabhängigkeit von Russland unterstützt wird. Anders als die USA und die Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten hat Russland jedoch Schritte hin zu einer formalen Unabhängigkeit lange blockiert - aus Rücksicht auf das Völkerrecht und der berechtigten Sorge vor Kettenreaktionen insbesondere in den extrem instabilen zentralasiatischen Republiken. Aufgrund der westlichen Anerkennungspolitik gegenüber dem Kosovo ist Russland in Folge des Georgienkrieges mit der Anerkennung Abchasiens und Südossetiens kurzfristig von dieser Politik abgewichen, ohne jedoch international einen vergleichbaren Druck zur Anerkennung auszuüben, wie die westlichen Staaten im Falle des Kosovo. Denn eine tatsächliche formale Unabhängigkeit würde eine Abspaltung Transnistriens von Moldawien und Nagorny Karabachs von Aserbeidschan nahezu unausweichlich werden lassen. Ähnliche Befürchtungen vor eskalierenden Sezessionsbestrebungen sind auch der Grund, warum die fünf EU-Mitgliedstaaten Zypern, Griechenland, Rumänien, die Slowakische Republik und Spanien den Kosovo bislang nicht als Staat anerkannt haben. Für diese Bemühungen, Sezessionskonflikte einzudämmen, war das Gutachten des IGH und dessen einseitige Interpretation durch Westerwelle und Konsorten eine Katastrophe: Tatsächlich haben sich bereits rund um den Globus ethno-nationalistische Führer auf das Gutachten bezogen und es zum Anlass genommen, ihrerseits Referenden über die Abspaltung oder Unabhängigkeitserklärungen vorzubereiten.

Das besonders Erschreckende daran ist, dass das Beispiel Kosovo die Minderheiten weltweit zu lehren scheint, dass Gewalt sich lohnt, zumindest, wenn man mächtige Verbündete gewinnen kann. Die ersten Schritte zur Errichtung eines eigenen Staates scheinen dann darin zu bestehen, eine Untergrundarmee aufzubauen und den Konflikt mit der Zentralregierung zu eskalieren. Die Zunahme sezessionistischer Gewalt, die um die Jahrtausendwende weltweit konstatiert wurde, hatte in der Anerkennungspolitik gegenüber der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik und der Unterstützung der NATO für die Sezessionsbestrebungen der UCK ihre ganz rationalen Ursachen und droht nun einen neuen Schub zu erhalten.



Lunte an Afrika

Diesmal könnte auch und vor allem der afrikanische Kontinent betroffen sein, der wie kein anderer von willkürlich gezogenen Grenzen und ethnischer Vielfalt geprägt ist. Ethnische Mobilisierung findet zwar in den meisten afrikanischen Staaten statt und führt auch häufig zu exzessiver Gewaltanwendung, allerdings überwiegend im Kampf um Privilegien oder die Macht innerhalb der bestehenden Staaten. Explizit sezessionistische Bewegungen waren jedoch bislang im komplexen Netz afrikanischer Konflikte und Rebellengruppen eine absolute Seltenheit. Dies wird sich nun jedoch ändern. Ursächlich hierfür sind weniger das NATO-Bombardement Jugoslawiens und das Gutachten des IGH zum Kosovo, jedoch dieselben dahinterstehenden Akteure, EU und USA.

Auf deren Druck hin, der bis hin zur Androhung militärischer Gewalt reichte, unterzeichnete die sudanesische Regierung im Januar 2005 ein „umfassendes Friedensabkomsmen" (CPA) mit der Rebellenbewegung SPLA. Obwohl die SPLA aus dem Süden des Landes heraus operierte und dort auch über die breiteste gesellschaftliche Basis verfügt, verfolgte sie ursprünglich politische Ziele für den gesamten Sudan, während eine mögliche Sezession eine sehr untergeordnete Rolle spielte und von ihrem damaligen Führer, John Garang, kategorisch ausgeschlossen wurde. Trotzdem sieht das unter internationaler Vermittlung zustande gekommene Abkommen für den Januar 2011 ein Referendum des Südens über dessen Unabhängigkeit vor. Bis dahin jedoch sollte der politische Flügel der SPLA (SPLM) an der Zentralregierung beteiligt und der strukturellen Benachteiligung des Südens entgegengewirkt werden um - so sagt es das Abkommen - „die Einheit attraktiv" zu machen. Obwohl die Zusammenarbeit zwischen Regierung und SPLM in Khartum für viele überraschend gut funktionierte, stellten USA und EU jede Kooperation mit dieser ein und begannen, im Süden einen neoliberalen Musterstaat und Juba zu dessen Hauptstadt aufzubauen. Seit dem Tod Garangs wurden diejenigen Vertreter der SPLA/M im Süden, die sich zunehmend mit einer Unabhängigkeit anfreunden konnten, systematisch zur neuen politischen Elite des Landes aufgebaut und von EU und USA international hofiert. Der simple Grund: im Süden des Sudan befinden sich große Erdölvorkommen, deren Ausbeutung die Zentralregierung jedoch China überlassen hat. In einem mit Hilfe der USA und der EU geborenen und von diesen dauerhaft abhängigen Staat Südsudan hingegen würden diese sicherlich einen besseren Zugriff auf das Öl erhalten.8

Mittlerweile gilt es als selbstverständlich, dass es im Januar 2011 eine breite Mehrheit für eine Abspaltung geben wird und gewaltsame Vertreibungen und Kämpfe um die Macht im neuen Staat eskalieren werden. Auch die Rebellengruppen in Darfur und anderen benachteiligten Provinzen in der Peripherie des riesigen Sudan liebäugeln nun zunehmend mit der Sezession. Der Sudan droht in mehrere Kleinstaaten zu zerbrechen und in dauerhaften Grenzkonflikten zu versinken. Die Sezession des Südsudan könnte jedoch auch weit über den Sudan hinaus in ganz Afrika steigende Begehrlichkeiten nach Unabhängigkeit und die Fantasien ethnisch „reiner" Kleinstaaten nähren. Insbesondere Rebellenführer in rohstoffreichen Regionen können davon träumen, sich mit Hilfe der imperialen Großmächte zu Präsidenten neuer Staaten krönen zu lassen.



Staaten bauen - Staaten zerschlagen

Die Eskalation von Sezessionskonflikten ist keineswegs nur unintendierter Nebeneffekt gescheiterter Experimente auf dem Balkan und im Sudan, sondern entwickelt sich zunehmend zur neuen Strategie alternder Imperien. Ausgehend von der Erfahrung - oder besser: der Vorstellung - dass Staaten mit militärischer Gewalt zusammengehalten oder eben auch zerschlagen werden können und sich eskalierende Minderheitenkonflikte instrumentalisieren lassen, um einer Tabula rasa für neue Grenzziehungen zu erhalten, ist das State-Building in den Mittelpunkt imperialer Machtpolitik gerückt. Vordenker dieses neuen Imperialismus, „ein Imperialismus, der sich zum Ziel setzt, Ordnung und Organisation zu bringen", ist Robert Cooper, ehemaliger außenpolitischer Berater des früheren britischen Premierministers Tony Blair und Ex-Büroleiter des ehemaligen Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Javier Solana. Cooper ist inzwischen Mitglied im Oktober 2007 gegründeten European Council on Foreign Relations (ECFR), dem wichtigsten Think Thank zur Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Dessen Mitgliederliste mit u. a. Karl-Theodor zu Guttenberg, George Soros, Cem Özdemir, Wolfgang Ischinger und dem postfaschistischen Gianfranco Fini liest sich als das Who-is-Who der Militärinterventionisten.

Die „humanitäre Intervention" der NATO im Kosovo galt für Cooper als ein vorbildliches Beispiel für den „gutnachbarschaftlichen Imperialismus". Das Protektorat zeige, dass „der neue Kolonialismus Ordnung und Organisation" bringe.9

Mit dem Aufbau des Europäischen Auswärtigen Dienstes wird deutlich, dass sich die EU schon strukturell auf diese Kernaufgabe ausrichtet, weltweit führend in der „Kunst" des Staatenbaus werden will und die hierfür notwendige zivil-militärische Zusammenarbeit institutionalisiert.10 Unter diesem gemeinsamen Dach werden sämtliche „fragilen" Staaten weltweit kontinuierlich geheimdienstlich überwacht. Über verschiedene Finanzinstrumente können einzelne gesellschaftliche Gruppen gestärkt werden, die Entwicklungshilfe vom politischen Wohlverhalten der Regierung abhängig gemacht, in den Auf- und Umbau von einzelnen Einheiten von Militär- und Polizeikräften oder den Aufbau neuer Regierungsinstitutionen für künftige Staaten umgelenkt werden. Über Wahlbeobachtungsmissionen können Regime stabilisiert oder destabilisiert werden, in brenzligen Situationen Battle-Groups oder zur mittelfristigen Stabilisierung Gendarmeriekräfte entsandt werden. Über alledem steht aber jederzeit auch die Drohung, im Verbund mit der NATO ggf. einen robusten Militärschlag durchzuführen. Alleine die Möglichkeit, Sezessionisten zu unterstützen und als Geburtshelfer für neue Staaten in rohstoffreichen Provinzen zu fungieren, wird jedoch die betreffenden Regierungen beispielsweise bei der Aushandlung von Rohstoffkonzessionen in ihrer Entscheidung beeinflussen. Die Beispiele Jugoslawien und Sudan zeigen in ganz unterschiedlicher Intensität, dass EU und USA im Zweifelsfall auch bereit sind, Staaten zu zerschlagen.



Zurück zum Balkan, Macht und Recht

Serbiens Reaktion auf das Gutachten des IGH bestand darin, der UN-Vollversammlung einen neuen Resolutionsentwurf vorzulegen, der erneut die Prinzipien der Souveränität und territorialen Unversehrtheit betonte und neue Statusverhandlungen im Rahmen der UN einforderte. Die europäischen Staatenbauer reagierten empört, denn sie wissen, dass eine Mehrheit der Staaten in der Vollversammlung um ihre eigene Souveränität und territoriale Unversehrtheit fürchten und deshalb die serbische Position unterstützen. Westerwelle mahnte deshalb in seiner bereits erwähnten Rede in Belgrad: „Das, was uns in Europa betrifft, es gehört zuerst nach Brüssel und nicht zuerst nach New York". Zugleich wurde gegenüber der serbischen Regierung von mehreren europäischen Regierungen ganz offen angedroht, das serbische Beitrittsersuchen nicht an die Kommission weiterzuleiten, falls sie ihren Entwurf nicht zurückzieht und einen gemeinsamen Resolutionsentwurf mit der EU einbringt.

Serbien beugte sich dem Druck und brachte eine neue Resolution ein, mit der die EU aufgefordert wird, einen Dialog zwischen Belgrad und Pristina zu moderieren. In dieser Resolution wird die oberflächliche Interpretation des IGH-Gutachtens zitiert und begrüßt, wonach die einseitige Unabhängigkeitserklärung der Vertreter des kosovarischen Volkes nicht gegen internationales Recht verstoßen habe. Da selbst Serbien seine Zustimmung signalisierte, wurde die Resolution am 9. September 2010 einstimmig angenommen. Obwohl mehrere Staaten, darunter Venezuela und Aserbeidschan, ergänzende Stellungnahmen einbrachten, wonach die Resolution 1244 weiterhin Gültigkeit besitze, ein „Selbstbestimmungsrecht der Völker" nur für kolonialisierte Gebiete gelte und Serbien festhielt, dass es den Kosovo nicht anerkennen wird, steht spätestens mit diesem Akt zu befürchten, dass das Völkerrecht hierdurch endgültig gebeugt wurde. Um die eingeknickte serbische Regierung weiter zu demütigen, waren bei der Vollversammlung auch kosovarische Vertreter als „Gäste" auf Einladung Deutschlands, Italiens, Frankreichs, Großbritanniens und der USA anwesend.

Die Aufnahme eines von der EU moderierten Dialogs, die laut Resolution zu Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Region beitragen und Kosovo und Serbien auf ihrem Weg in die EU voranbringen soll, war bereits zuvor von der International Crisis Group angemahnt worden.11 Nach deren Auffassung soll ein solcher Dialog und die technische Zusammenarbeit zu einer impliziten Anerkennung des Kosovo durch Serbien führen. Eine explizite Anerkennung durch Serbien, welche auch die Anerkennung durch China und Russland und damit die Mitgliedschaft des Kosovo in der UN ermöglichen würde, sei gegebenenfalls durch einen Gebietstausch zwischen dem mehrheitlich von Serben bewohnten Nord-Kosovo und dem mehrheitlich von Albanern bewohnten Presevo-Tal zu erreichen. Die serbischen Klöster im Kosovo sollten hingegen einen „exterritorialen" Status erhalten. Möglich ist diese Kleinststaaterei natürlich nur bei einer dauerhaften internationalen Sicherheitspräsenz. Sie könne - so die Crisis Group - auch Begehrlichkeiten in Mazedonien wecken, weshalb dieses schnellstmöglich in die NATO aufgenommen werden sollte.12 Die Gefahr, dass weitere Grenzverschiebungen in der Nachbarschaft auch in Bosnien und Herzegowina Sezessionspläne befeuern könnte, schätzt die Crisis Group jedoch gering ein. Ganz anders ist offensichtlich die Einschätzung hierzu innerhalb der EU. Diese erwägt, den Leiter der EU-Delegation, der zukünftig zugleich „Hoher Vertreter" der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina ist und als solcher umfassende Vollmachten (Bonn Powers) hat, zukünftig über den Europäischen Auswärtigen Dienst mit weiteren Zwangsinstrumenten auszustatten. Bereits heute kann dieser bosnische Gesetze erlassen und außer Kraft setzen, Beamte und gewählte Repräsentanten jederzeit entlassen. Zukünftig soll er zusätzlich Reisebeschränkungen für einzelne Politiker und die Einfrierung ihrer Vermögen veranlassen können.13  Der gut-nachbarschaftliche Imperialismus lässt grüßen.







1 Über die Kriegspropaganda zum Jugoslawien-Krieg liefert bis heute die WDR-Dokumentation „Es begann mit einer Lüge" aus dem Februar 2001 die eindrucksvollsten Informationen. Über die Verbindungen der UCK zu westlichen Geheimdiensten und PR-Agenturen hat insbesondere Mira Beham zahlreiche Artikel veröffentlicht. Zur Geschichte der UCK und deren Hofierung durch die NATO sei hier der BICC-Brief 20 aus dem Jahre 1999 empfohlen: „Wag the Dog - The Mobilization and Demobilization of the Kosovo Liberation Army". Bosnia travel Ban

2 International Court Justice: Accordance With International Law of the Unilateral Declaration of Independence in Respect of Kosovo, 22.07.2010, Article 122: http://www. webcitation.org/5rRB9e3bz.

3 „The Court finds that the declaration of independence of Kosovo adopted on 17 February 2008 did not violate international law", Pressemitteilung des IGH vom 22.7.2010.

4 Gutachten des IGH vom 22.7.2010, Ziffer 51.

5 „Experte: Kosovo-Gutachten Signal für Palästinenser", diepresse.com vom 24.7.2010.

6 „Ansprache des Bundesministers des Auswärtigen Guido Westerwelle beim Treffen mit Stipendiaten der Zoran-Djindjic-Stiftung", auswaertiges-amt.de vom 26.8.2010.

7 Rede von Außenminister Guido Westerwelle im kosovarischen Parlament in Pristina, auswaertiges-amt.de vom 27.8.2010.

8 Christoph Marischka: Staatsbildungskrieg im Sudan und die Gefahr der Sezessionsspirale, in: AUSDRUCK (IMI-Magazin) 4/2010.

9 Robert Cooper: The Breaking of Nations - Order and Chaos in the Twenty-First Century, London 2003.

10 Martin Hantke und Jürgen Wagner: Europas neue Diplomatie der Macht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2010.

11 „Kosovo: General Assembly hails European Union move to promote dialogue", un.org vom 9.10.2010, siehe auch: Protokoll der UN-Vollversammlung vom 9.10.2010.

12 International Crisis Group: Kosovo and Serbia after the ICJ Opinion, ICG-Europe Report Nr. 206.

13 „Baroness Ashton moves to take control of Bosnia", telegraph.co.uk vom 27.7.2010.