Judith Butler, Inzest und die Frage nach der Liebe des Kindes

in: Das Argument 288 (4-5/2010), Gewalt und Hegemonie

in (10.01.2011)

In Father-Daughter Incest (Vater-Tochter-Inzest, 1981) erörtert die radikale Feministin und Psychotherapeutin Judith Herman ihr Verständnis von Inzest ausschließlich im Bezug auf Macht. Für Herman stellt Inzest das »Paradigma der weiblichen sexuellen Opferrolle« dar: eine unvorstellbar ungleiche Beziehung, in der es keine »Möglichkeit für das Kind gibt, Kontrolle zu erlangen oder eine freie Wahl zu treffen«, da es dem Willen der Erwachsenen ausgeliefert ist (1981, 4, 27). Von Belang ist für Herman, wie für viele, die sich mit der Gewalt und dem Trauma des Inzests auseinandersetzen, die Tatsache, dass das Kind gezwungen wird, den Bedürfnissen des Erwachsenen zu entsprechen. Diesen logischen Aspekt betont sie in folgender Argumentation: »Wenn ein Elternteil das Kind dazu zwingt, zur Unterstützung der Familie zu arbeiten, ist das Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft. Wenn ein Elternteil das Kind dazu zwingt, die sexuellen Bedürfnisse des Erwachsenen zu befriedigen, ist das Ausbeutung« (4). Für Herman ist also von Bedeutung, dass es sich bei Inzest um eine Gewaltanwendung handelt, da das Kind vom Erwachsenen ausgebeutet wird, so dass analytisch zwischen sexueller und ökonomischer Ausbeutung kaum bzw. gar nicht unterschieden wird. Und tatsächlich, so wie Herman den Vater zugleich als Zuhälter und Freier charakterisiert, der »seine Tochter in die Prostitution einführt« (ebd.), sind beide Konzepte verschmolzen. Während der Vater sich also schuldig gemacht hat, »die beschützende Verbindung zwischen Elternteil und Kind« zerstört zu haben, besteht die Gewalt an sich in seinem Machtmissbrauch. Und während das Kind seinen oder ihren missbrauchenden Elternteil lieben mag, ist es an sich der Verlust von Autonomie und Selbstbestimmung, der traumatisch ist. Für Herman bedingt das Verständnis der brutalen und traumatischen Realität des Inzests weder, dass wir die »Korruption der Elternliebe« noch die Liebe des Kindes, die Intimität, die Beziehung, das wechselseitige Wiedererkennen und die Sozialität verstehen, sondern es geht, viel simpler, um ein Ausnutzen von Macht.

In den Augen von Judith Butler (The Psychic Life of Power, 1997) »neigen Debatten über die Realität des Kindesmissbrauchs allerdings dazu, die Art der Ausbeutung falsch darzustellen« (7), weil sie die Liebe des Kindes nicht berücksichtigen. Nach Butler können wir auch nicht erwarten, das Trauma des Inzests zu verstehen, wenn wir bei den Erklärungsversuchen die Liebe des Kindes außer Acht lassen; Butler betont vielmehr, dass wir daran scheitern müssen, »die Tiefe und die psychischen Konsequenzen dieses Traumas« zu beschreiben, wenn wir nicht beachten, »was mit der Liebe und den Sehnsüchten des Kindes in einer traumatischen inzestuösen Beziehung mit einem Erwachsenen passiert« (2004b, 155). Es muss festgehalten werden, dass es für Butler absolut entscheidend ist, die Art und Weise zu verstehen, wie die Liebe des Kindes die Komplexität dessen, was als Realität des Inzests bezeichnet werden kann, prägt und diese somit in deterministischen, instrumentalistischen oder mechanistischen Darstellungen wie bei Herman nicht hinreichend begriffen wird. Butler erhebt hier allerdings nicht den Anspruch, die Wahrheit zum Thema Inzest vorzubringen. Sie akzeptiert, dass inzestuös erlittene Gewalt so beschaffen ist, dass sie sich einer vollständigen Erklärung immer entziehen wird: »Ein Teil des Effekts dieser Gewaltform besteht genau darin, dass das Wissen um die Wahrheit zu einem unendlich weit entfernten Ziel wird« (156). Inzest ist zum Teil deshalb traumatisch, weil er so unergründlich und nicht fassbar ist. Es gibt mit anderen Worten eine Verstehensgrenze, die es wirklich unmöglich macht, das Trauma Inzest jemals vollständig zu beschreiben oder nachzuvollziehen.

Butlers Theorie zu diesem Thema ist anregend, aber nicht völlig ausgereift. Ziel dieses Artikels ist es, sowohl die Logik ihrer Thesen zu erschließen als auch deren Implikationen für unser Verständnis von Inzest, Gewalt und Trauma in einem allgemeineren Rahmen abzuschätzen. Hierbei handelt es sich jedoch um keine einfache Aufgabe, da von Anfang an klar sein muss, dass Butlers Verständnis der Liebe des Kindes recht komplex ist. Jill Bennett etwa nimmt an, dass »›Liebe‹ trotz vom Missbrauch ausgelöstem Schmerz und Trauma einen Aspekt der Beziehung zu einer missbrauchenden Person charakterisieren kann - insbesondere in einer inzestuösen Beziehung, weil das Opfer zumeist eine emotionale Bindung zum Täter hat« (2005, 27). Nach Bennett könnte Liebe einer von vielen mit familiärem Missbrauch verbundenen Affekten sein. Sie kann alles verwirren und sich mit dem Leiden verbinden. Und obwohl man Butler so lesen kann, dass sie Bennetts Argument unterstützt, besonders wenn sie behauptet, dass das »Kind, dessen Liebe ausgenutzt wurde, nicht mehr in der Lage ist, diese Liebe wiederzugewinnen oder sie als solche einzugestehen« (2004b, 159), so geht ihre Argumentation doch über die von Bennett hinaus. Für Butler stellt die Liebe des Kindes nicht nur eine soziale Zufälligkeit dar - die als solche den Grad des kindlichen Leidens beeinflussen kann. Für sie handelt es sich hierbei vielmehr um eine Frage sozialer Ontologie. So schreibt Butler: »Weder wird die Sexualität unilateral vom Erwachsenen aufgezwungen, noch wird Sexualität unilateral vom Kind phantasiert, es wird vielmehr die Liebe des Kindes ausgenutzt, eine Liebe, die grundlegend für seine Existenz ist, und eine hingebungsvolle Bindung missbraucht« (1997, 7f, Hervorhebung JK). Butler begreift die Liebe des Kindes a priori - d.h. als etwas, das vorhanden sein muss, damit das Kind existieren kann. Dies bedeutet anders ausgedrückt, dass das Kind keine andere Wahl hat, als den missbrauchenden Elternteil als Liebesobjekt zu sehen.

Hinzu kommt, dass die Liebe des Kindes nicht ganz so unschuldig ist, wie sie scheint. So folgt für Butler aus ihrer These, dass diejenigen, die über Kindesmissbrauch diskutieren, die Liebe des Kindes berücksichtigen müssen und - im Kontext ihrer Diskussion der Arbeit Melanie Kleins - dass es ein »Verlangen« gibt, »über das [Liebes-]Objekt zu triumphieren«, welches »wenn man ihm nachgibt, das Objekt als Liebesquelle bedroht« (1997, 26). Anscheinend gibt es ein »Verlangen, das zu überwinden, was man liebt«, wobei Aggression - oder nach Butler Hass - das ist, »was die Liebe immer begleitet« (ebd.). Liebe ist für Butler nicht etwa die Antithese von Hass, also das, was vor Aggression und Gewalt schützt, sondern das, was Hass hervorruft. Und so ist Butler eindeutig davon überzeugt, dass die einzige Hoffnung, »die aggressive Ausdrucksform der Liebe« zu verhindern und somit »das Liebesobjekt vor seiner eigenen, potenziell verheerenden Gewalt« zu schützen, die Schuld ist, die wir darüber fühlen, das Liebesobjekt zerstören zu wollen. Butlers Argumentation legt den Schluss nahe, dass in dem Moment, wo dem Kind um seiner eigenen Existenz willen keine andere Möglichkeit offen steht, als den missbrauchenden Elternteil als Liebesobjekt zu begreifen, eine wechselseitige Aggression bzw. Hass ins Spiel kommen. Es scheint so zu sein, dass die Liebe des Kindes dieses im Gegenzug schuldig macht und das Gewaltpotenzial (wenn auch zugegebenermaßen eine rein psychische Gewalt) dem Anschein nach zu einem untrennbaren Teil des Lebens wird.

Diese Argumentation ist in doppelter Hinsicht provokant. Einerseits in Bezug auf unser allgemeines Verständnis der Liebe des Kindes, andererseits aus feministischer Perspektive, da sie riskiert, die von Freud angefachte Kontroverse aufzugreifen, dem ödipalen Drama (mit seiner Logik von unbewusster Phantasie und gefürchteter Gewalt) beim Verständnis der Entwicklung von Geschlecht und Sexualität Bedeutung beizumessen. Bezogen auf diese Debatte ist Butlers Position eindeutig: Sie betont, dass inzestuöse Sehnsüchte Teil der sich entwickelnden kindlichen Sexualität sind und damit ist Butlers Denkweise durchweg gegenläufig zu jenem feministischen Verständnis von Inzest (etwa bei Hermans), das diesen als »brutale Fremdeinwirkung auf den kindlichen Körper« begreift; als ein Ereignis, das nicht im Geringsten etwas mit den eigenen sexuellen Bedürfnissen des Kindes zu tun hat. Im Gegensatz zu dieser »dogmatischen« Formulierung - dass Inzest, um »traumatisch und real« zu sein, als externes Ereignis verstanden werden muss, frei von Phantasien - besteht Butler darauf, dass »die Unterscheidung zwischen Ereignis und Wunsch nicht so eindeutig ist, wie man sie manchmal gerne sehen würde« (153, 155). Um dies klarzustellen: Butler behauptet nicht, dass das Kind sich nach dem Missbrauch sehnt. Der Aspekt, den sie betont und der von anderen psychoanalytischen Theoretikern übernommen wurde, lautet vielmehr, dass »wie auch immer das Schockereignis geartet sein mag«, es »auch in der Sphäre der Phantasie einen Eindruck hinterlässt« (155). Das Kind wird als ein psychisches Subjekt begriffen, dem es nicht möglich ist, die Erfahrung und die Erinnerung an das Ereignis von ihrem psychischen Einfluss zu trennen. Es kann somit keine Erfahrung oder Erinnerung ohne psychische Vermittlung geben. Dies impliziert nicht, dass das Ereignis imaginiert sei, wie einige feministische Kritikerinnen behauptet haben, sondern Butler bemüht sich klarzustellen, dass das Ereignis für das Kind nur real erscheinen kann, wenn es psychisch lebendig ist und erlebt wird. In Butlers Argumentation wird die Realität des Inzests nicht - wie etwa bei Herman - einfach von einem Aggressor aufgezwungen, noch wird sie einfach von dem Kind geschaffen. Es handelt sich vielmehr um eine komplizierte Mischung aus beidem. Von zentraler Bedeutung ist dabei jedoch, wie Butler rasch bemerkt, dass »diese Lösung nicht das Nichterzählbare erfasst, das, wozu es keine Geschichte gibt, keinen Bericht, keine sprachliche Repräsentation« (156). Was auch immer die Wahrheit sein mag, es gibt etwas, das sich unseren Darstellungsmitteln entzieht und dieses Überschreiten beziehungsweise diese Grenze gehört zum Kern dessen, was Gewalt unausweichlich real macht.

Butler erweitert die Komplexität der Debatte über die Realität des Inzests, da sie darauf besteht, dass die Liebe des Kindes in diesem Zusammenhang relevant ist. In meinen Augen bestärkt sie die psychoanalytische Herausforderung, die von radikalen Feministinnen wie Herman bisher ebenso unzureichend problematisiert wurde wie von vielen psychoanalytischen Kritikern. Die psychoanalytische Herausforderung in der Inzestdebatte besteht nicht darin, dass die Gewalt des Erwachsenen geleugnet und die Phantasie des Kindes betont wird, sondern darin, dass auf der beidseitigen Präsenz von sowohl Erwachsenem als auch Kind bestanden wird. Butler betont, dass die Schöpfungen der Phantasie grundsätzlich nicht »als eine Reihe von Projektionen auf eine innere Leinwand« gesehen werden sollten, »sondern als Teil der menschlichen Relationalität selbst« (2004b, 15). Ein psychisches Subjekt ist ein soziales Subjekt; ein Selbst, das immer bereits im Verhältnis zu anderen steht. Psychoanalytisch geprägte Theoretiker und Theoretikerinnen kritisieren also die Selbsttäuschung, die Hermans Position zugrunde liegt, indem sie betonen, dass weder der Erwachsene noch das Kind isoliert handeln oder existieren und dass beide tatsächlich überhaupt nicht isoliert handeln oder auftreten können. Die Kritik an Herman richtet sich größtenteils gegen die von ihr vertretene Position, dass in inzestuösen Handlungskontexten nur ein Subjekt anwesend ist: die erwachsene Person. Aus einer psychoanalytischen Perspektive wird Handlungsfähigkeit eines Subjekts weder als souverän begriffen noch kann sie völlig abwesend sein. Die erwachsene Person ist beim Inzest als korrumpiertes Subjekt notwendigerweise ebenso anwesend wie auch das Kind als handlungsfähiges Subjekt anwesend ist, selbst wenn seine Handlungsfähigkeit für die Handlung akzentuiert, unbewusst und rückwirkend ist.

Butler erweitert und manifestiert die Herausforderung der Psychoanalyse, indem sie die Liebe als weiteres Element in das Handlungsgeflecht hinzufügt. Die Liebe des Kindes gilt ihr als Beweis für das, was sie als das »ontologische Primat der Relationalität« bezeichnet (2004, 150). »Wenn das Kind als Subjekt in einem psychischen und sozialen Sinn bestehen bleiben soll, muss es eine Abhängigkeit und die Entstehung einer Bindung geben« (1997, 8). Für Butler gilt eindeutig, dass das Kind die andere Person lieben muss, seine eigene Existenz hängt von dieser anderen Existenz ab, auch wenn die erwachsene Person es im Gegenzug missbraucht: »Die Möglichkeit des Nicht-Liebens besteht nicht, wenn Liebe zu den Grundvoraussetzungen des Lebens zählt« (ebd.). Und so besteht Butler darauf, dass es keinen Unterschied macht, ob sich die Kindheit aus »außergewöhnlichen, liebevollen und geborgenen« Szenen zusammensetzt oder aus »Szenen von Verlassenheit, Gewalt oder Not«, denn »faktisch konstituiert die Kindheit eine existenziell notwendige Abhängigkeit« (2000a, 24). Der Gedanke, dass ein Kind unabhängig von der Qualität der Zuwendung, die es erfährt, ein gebundenes Subjekt ist, ist keinesfalls nur für Butlers Thesen kennzeichnend. Auch Herman würde zustimmen, dass das Kind in Hinblick auf die Erfüllung emotionaler Grundbedürfnisse auf den missbrauchenden Erwachsenen angewiesen ist. Was Butlers Sichtweise an diesem Punkt jedoch von Hermans unterscheidet, ist die Tatsache, dass das Kind in Butlers Augen in seiner Beziehung zum Erwachsenen eine begehrende und wissende handelnde Person ist: Abhängigkeit stellt für Butler einen leidenschaftlichen Umstand dar. Trotz des im Werden begriffenen Status der kindlichen Liebe haben wir es nicht mit blinder Liebe zu tun (wie sie es wahrscheinlich bei Herman wäre), sondern es handelt sich eher um ein intimes, leidenschaftliches Wissen darüber, dass andere unsere Welt erschaffen (»es gibt von früh an Urteilsvermögen und eine wichtige Art von ›Bewusstsein‹», 1997, 8). Das Kind weiß um die Präsenz der anderen Person und offenbart damit seine eigene Leidenschaft für das Leben; im Gegensatz zu Herman begreift Butler das Kind als ein Subjekt mit Leidenschaften und Trieben, die sowohl Zeichen der Präsenz von anderen als auch Zeichen seiner eigenen Präsenz sind und die Sozialität der Existenz erschaffen und offenbaren. Und doch kann die Liebe des Kindes, welche jene Sehnsucht nach Leben, Relationalität und Sozialität anzeigt, ausgenutzt werden. Es stellt sich die Frage - warum? Warum behauptet Butler, »das Verlangen zu überleben, ›zu sein‹, ist ein auf tiefgreifende Weise ausnutzbares Verlangen« (7)?

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Butlers Insistieren darauf, dass wir an andere und die Gewalt nicht nur gebunden, sondern ihnen ausgeliefert sind, was von ihr als leidenschaftliche soziale Beziehung analysiert wird, stellt den Versuch dar, die Relevanz von Autonomie und Souveränität für die Existenz eines Subjekts, die von Feministinnen wie Herman hervorgehoben wird, in Frage zu stellen. In Butlers These wird das Opfer der Gewaltausübung dabei aber nicht für sein Leiden verantwortlich gemacht. Sie behauptet keinesfalls, dass das Kind sich schuldig macht und somit gewissermaßen verantwortlich ist, sondern sie geht davon aus, dass das Kind notwendigerweise mit einbezogen ist, da auch Unterdrückung durch eine gewaltausübende Person ihm die Möglichkeit der Existenz bietet. Gewalt ist somit für Butler immer eine Frage »der Art und Weise, auf die wir uns in unseren Beziehungen zu anderen in Unterdrückung befinden« (2004b, 19) und während uns dies für Verletzungen und Gewalt besonders anfällig macht, handelt es sich doch um eine Situation, die wir nicht »berichtigen« (23) können. Tatsächlich ist es, so Butler, »vielleicht unklug, wenn nicht sogar gefährlich, wenn wir dies tun« (ebd.), da das »Dem-Anderen-Ausgeliefert-Sein« »für die Möglichkeit, als Mensch bestehen zu bleiben, essenziell ist« (33). Es ist alles, was wir sind. Die Idee, dass das Kind als Voraussetzung für sein oder ihr Sein und Werden vom Erwachsenen abhängig ist, möchte ich weder als empirische Realität noch als philosophisches Postulat »berichtigen«. Butlers Projekt, den »Menschen jenseits der Menschlichkeit« ausgehend von der These, dass »›wir‹, die wir relational sind, nicht von diesen Relationen zu trennen sind« (151) neu denken zu wollen, findet ungebrochen meine Zustimmung. Doch warum setzt die Abhängigkeit des Kindes von anderen Menschen es dem Risiko aus, Opfer von Gewalt zu werden? Und wie soll man Butlers Beharren darauf verstehen, dass »Mensch sein damit einhergeht, aggressiv zu sein« (190)? Ist es wahrscheinlicher, dass das Kind die Kindheit als »eine geborgene Eingebundenheit in Beziehungen« erfährt oder wird es vielmehr »dem Nichts ausgeliefert, der Brutalität oder der Beistandslosigkeit«? Ist der Unterschied in dieser Wahrscheinlichkeit nur eine Frage des Zufalls oder gibt es so etwas wie Vorbestimmung? Mit dieser Frage versuche ich nicht, das Argument der ursprünglichen Verletzlichkeit, von der Butler spricht, um die Relevanz von Autonomie hervorzuheben, in Abrede zu stellen. Es handelt sich vielmehr um einen Versuch zu verstehen, warum unser »Dem-Anderen-Ausgeliefert-Sein« dermaßen geartet ist, dass es Gewalt riskiert und vielleicht sogar einfordert, wenn wir doch genauso gut - und besonders im Bezug auf Kinder - davon ausgehen könnten, dass das Gegenteil wahr ist. Butler ist an dieser Stelle nicht nur der Auffassung, dass Gewalt unsere Abhängigkeit von anderen enthüllt, wobei »Gewalt sicherlich die schlimmste Form des Kontaktes ist, eine Form, in der sich die menschliche Verletzlichkeit gegenüber anderen Menschen auf schrecklichste Weise offenbart, so dass wir unkontrollierbar dem Willen eines anderen unterworfen sind« (2004b, 22). Sie behauptet gleichzeitig auch das Gegenteil: In unserer Abhängigkeit von anderen zeigt sich deutlich die menschliche Neigung zur Gewalt.

Es ist nicht ganz einfach, dies aus Butlers Formulierungen herauslesen, welche beinahe durchweg eindeutig scheinen, so z.B. wenn sie das diskutiert, was Catherine Mills (2007, 140) als »profane, wenn nicht sogar prosaische« Gewalt bezeichnet. Butler behauptet, dass die Gewalterfahrung aus unserer Liebe zu anderen und unserer Abhängigkeit von diesen anderen resultiert; in ihr offenbart sich somit nur die Ausgeliefertheit und Verletzlichkeit sozialer Wesen. Wie ich jedoch bereits bemerkt habe, rekurriert Butler auf Klein, um klarzustellen, dass unsere Liebe zu anderen Menschen diese gleichzeitig dem Risiko ausliefert, Opfer unseres »sadistischen « Zerstörungsdrangs zu werden. Unser Liebesobjekt ist nach Butler das, was »wir tot sehen wollen« (1997, 26). Bezogen auf das Thema Inzest könnten wir also fragen, ob die erwachsene Person diese Ambivalenz registriert und versteht, dass es sich sowohl um ein Liebes- als auch ein Hassobjekt handelt. Und falls ja, können wir seine oder ihre Gewalt als einen Akt der Selbstverteidigung verstehen, eine Form, dieser Aggression gegenüberzutreten?

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Butlers These, dass aggressiv zu sein mit menschlich sein gleichzusetzen ist, bezieht sich nicht nur auf die Funktion der Liebe (oder des Hasses), sondern überspitzt Hegels Anerkennungstheorie. Sie bezieht sich zugegebenermaßen zwar kritisch auf Hegel, aber sie teilt seine Ansicht, dass das Verlangen, was auch immer explizit dessen Ziel oder Inhalt sein mag, »immer ein Verlangen nach Anerkennung ist und dass die Erfahrung der Anerkennung für das Werden sozialer Wesen konstitutiv ist« (2004b, 2). Das Bemühen um Anerkennung und das ihr innewohnende Versprechen der Sozialität sind also mit Risiken verbunden. Indem sie sich auf Hegel bezieht, akzeptiert Butler, dass das Verlangen nach Anerkennung uns in eine verletzliche Position bringt, da es die »geteilte Macht« enthüllt, »die darin zum Ausdruck kommt, dass wir die Anderen auslöschen können, dabei aber die Voraussetzung unserer eigenen Selbstreflexion zerstören« (2000b, 149). In dem Moment, in dem wechselseitige Anerkennung funktioniert, wird für Butler die potenzielle Zerstörung kurzzeitig in Schach gehalten. Anerkennung ist für Butler »die Bezeichnung, die man dem Prozess gegeben hat, der andauernd Zerstörung riskiert und welcher [...] ohne das definierende beziehungsweise konstituierende Risiko der Zerstörung nicht existiert« (133). Für Butler ist es somit unmöglich, »auf einem Ideal von Anerkennung zu bestehen, das die Möglichkeit der Zerstörung nur als ein gelegentliches und bedauernswertes Vorkommnis kennt«. Die Möglichkeit der Zerstörung bildet vielmehr die Bedingung der Möglichkeit der Anerkennung (ebd.). Aus dieser Einsicht resultiert die Schlussfolgerung, dass es weder Sozialität noch Subjekte gibt, die (möglicherweise) makellos jenseits der Gewalt stehen oder sich davon frei machen könnten: es gibt eben nur die »Unreinheit des Subjekts und seiner sozialen Beziehungen«: »das Sozialleben wird von der Erwartung der Aggression beherrscht« (2007b, 186). Während Butler (2004b) also größtenteils dem Ansatz von Jessica Benjamin folgt, eine Sphäre der Sozialität jenseits der der brutalen Logik der Anerkennung zu konstatieren, kritisiert sie Benjamin trotzdem und wirft ihr vor, dass sie eine mögliche Trennung von Gewalt und Intersubjektivität imaginiert. Butler betont, dass unser Verlangen nach Anerkennung sich dadurch auszeichnet, dass Gewalt einen untrennbaren Aspekt unseres Selbst darstellt.

So erscheint Butler der Gedanke, wir könnten uns getrennt von Gewalt denken, aberwitzig. Für sie bildet unser Hang zur Gewalt den Schlüssel für ihr Verständnis von Gewaltfreiheit, also für das, was wir Frieden nennen könnten. Nach dem 11. September setzt sich Butler in ihren Arbeiten verstärkt mit der Frage der Gewaltfreiheit auseinander. Ihre Überlegungen zur Gewaltfreiheit sind überaus spannend, bezieht sie sich doch auf eine große Bandbreite so unterschiedlicher Traditionen und Denker wie etwa Walter Benjamin, Frantz Fanon und Emmanuel Levinas, sowie auch die bereits oben erwähnte Melanie Klein (2004a; 2000b; 2006; 2007; 2008; 2009). In einem ihrer zentralen Gedanken hält sie daran fest, dass »der Kampf gegen die Gewalt einer ist, der berücksichtigt, dass Gewalt die eigene Möglichkeit ist« (2007, 186), obwohl es sich in einem entscheidenden Maße um einen Kampf handelt, der nur im Verhältnis zu anderen und somit im Kontext von Anerkennung erfahrbar ist. Für Butler spielt die ethische und politische Frage nach »Gewaltanwendung oder Gewaltverzicht« somit nur »im Verhältnis zum ›Du‹, welches als potenzielles Objekt meiner Verletzung fungiert«, eine Rolle (195). Man kann Butler hier so lesen, dass sie eine offensichtliche Feststellung macht: Bei Gewalt handelt es sich um eine politische und ethische Frage, da sie sozial gesehen falsch ist. »Du« setzt mich diesem Fehler aus und machst ihn sozial bindend: »Ich« mache mich vor »dir« des Fehlers schuldig. Ich würde allerdings behaupten, dass Butler einen weniger offensichtlichen, aber bedeutenderen Punkt anspricht. Berücksichtigt man ihre Theorie des ontologischen Primats der Relationalität, so geht es hier um den Aspekt, dass »du« mich erschaffst, so dass »ich« die Realität meiner Gewalt erfahren kann: Ohne »dich« existiere »ich« als gewaltausübendes Wesen nicht. Butler hält in ihrer Auseinandersetzung mit Fanon fest, »dass es keine Erschaffung des Selbst ohne das ›Du‹ geben kann« (2008, 228). Diese Thesen enthalten weitreichende Implikationen für unser Verständnis von Gewalt: Die notwendige Bedingung dafür, dass ein Subjekt gewalttätig »sein« kann, besteht darin, dass die zum Opfer gemachte andere Person »ist«. Dies soll nicht heißen, dass der Aggressor ein Opfer benötigt, eine Person, deren Wesen darin besteht, dass sie provozierend wirkt und Zerstörungswillen verursacht. Butler geht es vielmehr um das Gegenteil: Gewalt stellt für sie einen Versuch dar, das Opfer real werden zu lassen, so dass der Aggressor überhaupt Verlangen erfahren kann. Bei Gewalt handelt es sich mit anderen Worten nicht etwa um einen Versuch, den anderen auszulöschen, sondern darum, die Präsenz des anderen zu bestätigen beziehungsweise dessen bleibendes Bestehen sicherzustellen, so dass der Aggressor sozial existenzfähig bleiben kann. Der Aggressor benötigt das Sein des Opfers. Gewalt, so pervers sich das auch anhören mag, ist hier für Butler eine Form, den anderen am Leben zu erhalten, und die Art und Weise, wie wir Relationalität schaffen. Gewalt ist nicht etwa ein Verneinen des anderen, wie Butler eindeutig feststellt, wenn sie aufweist, warum jemand dazu getrieben werden könnte, jemanden zu töten, der als sexuell und von der Rassenzugehörigkeit her anders erfahren wird (2004b, 35). Vielmehr handelt es sich nach der, vielleicht in sich widersprüchlichen, Logik ihrer Arbeit um eben das Mittel, mit dem wir die Realität des anderen bestätigen müssen, damit wir existieren können. Dies kann nicht anders geschehen. Bei Gewalt handelt es sich nicht nur - wenn überhaupt - um den Versuch, die anderen auszulöschen, sondern vielmehr um den Versuch, sie entstehen zu lassen, damit ich als ein soziales Wesen existieren kann. Für Butler ist das Soziale notwendigerweise dadurch bedingt, dass es zwischen uns Gewalt gibt: Gewalt macht uns real und unmittelbar für einander, Aspekte wie Sehnsüchte, Triebe und Motivationen sind dabei sekundär.

Wenn wir nun Butlers Thesen auf Inzest beziehen, können wir schließen, dass die »Motivation« des Erwachsenen darin besteht, das Kind real werden zu lassen, so dass der Erwachsene sich selbst als real wahrnehmen kann, inklusive der Möglichkeit der Selbsttäuschung (was absolut nicht bedeuten soll, dass die erwachsene Person das Kind missbraucht, um sich in einem platten Sinne »lebendig« zu fühlen oder dass sie es missbraucht, weil sie eine Art Identitätskrise hat). Bezogen auf rassistisch oder sexistisch »motivierte« Verbrechen kann man gleichermaßen davon ausgehen, dass die »Motivation« der rassistischen oder homophoben Person darin besteht, das Opfer real werden zu lassen, so dass der Aggressor oder die Aggressorin sich selbst als real erfahren kann, inklusive der Möglichkeit der Selbsttäuschung (womit auch hier keinesfalls gemeint ist, dass die rassistische oder homophobe Person ihr Opfer missbraucht, weil sie sich »lebendig« fühlen möchte oder weil sie eine Art Identitätskrise hat). Man kann daraus schließen, dass Gewalt auf ontologischer Ebene produktiv ist und nicht nur auf der Diskurs- und Selbstrepräsentationsebene (wie etwa Gail Mason behauptet, 2006); bei Gewalt handelt es sich also nicht nur um »die schlimmste Form von Kontakt«, sondern vielmehr um das, was soziale Ordnung schafft. Gewalt ist für Butler das Mittel sozialer (und psychischer) Bindung und somit ist das Bemühen um Gewaltfreiheit nicht nur existenziell, sondern ontologisch und dem entsprechend immer zum Scheitern verurteilt.

Inzest steht bei Butler nicht nur paradigmatisch für unsere Abhängigkeit von anderen und dafür, dass Missbrauch somit als soziale Kontingenz auftreten kann. Das Paradigma besteht vielmehr darin, dass die Existenz einer sozialen Welt die Existenz von Gewalt voraussetzt. Butlers Argument lässt sich entsprechend ihrer Logik der miteinander einhergehenden Ontologie des Selbst und des Anderen neu formulieren: Die erwachsene Person ist auf die liebevolle Präsenz des Kindes angewiesen und das Kind hängt von der Gewalt der erwachsenen Person ab. Dies bedeutet, dass weder das Kind noch die erwachsene Person und seine oder ihre Gewalt dem jeweils anderen folgen oder vorausgehen. Beide bilden eine Funktion des anderen. Man könnte auch sagen, das Kind bindet sich nicht gezwungenermaßen an das, was Butler so treffend eine Szene der Gewalt nennt (wobei es sich weniger um eine Abstraktion handelt als um eine Art, eine räumliche und dadurch auch zeitliche Trennung zu formulieren), sondern die Existenz des Kindes wird durch die Gewalt der erwachsenen Person heraufbeschworen - genauso wie die der erwachsenen Person, so dass sie beide existieren können. Gewalt ist für Butler performativ: Sie erschafft das, woraus sie zu folgen scheint, hier den Aggressor oder die Aggressorin und das Opfer, und dies vollbringt sie genau gleichzeitig, also in Relation zueinander. Und obwohl ich Carine M. Mardorossians Kritik am postmodernen Feminismus und Butler als herausragendster Vertreterin dahingehend teile, dass die Realität sexueller Gewalt darin verfehlt wird, so liegt der Grund dafür nicht, wie Mardorossian meint, in einer »Überbetonung von Subjektivität und Innerlichkeit«, mit der »Politik auf eine psychische Dimension reduziert« wird (2002, 747). Butler reduziert Gewalt weder auf die psychische Ebene und verleugnet die soziale Dimension, noch spielt sie die soziale Realität sexueller Gewalt herab, wie Mardorossian und andere Kritikerinnen behaupten (vgl. Nussbaum, 1999). Man kann Butler nicht vorwerfen, dass sie die Realität geschlechtlicher Machtgefüge außer Acht lasse oder, wie Mardorossian es ausdrückt, unsere »soziale Eingeschriebenheit - also unsere physische Situiertheit in Zeit und Raum, Geschichte und Kultur« ignoriere (2002, 755). Das Gegenteil ist der Fall: Butler stellt den Prozess der sozialen Einschreibung, d.h. wie soziale Realität Macht erlangt, so dass wir uns selbst als in Zeit und Raum zwingend festgelegt empfinden, ziemlich präzise dar. Problematisch erscheint mir daran, dass die soziale Realität so zwingend - und »real« für uns - erscheint, da Gewalt die Voraussetzung ihrer Existenz ist. Nach Butler gibt Gewalt unserem Leben eine soziale Dimension, was nicht besagen soll, dass Gewalt das Soziale verzerrt, sondern vielmehr, dass sie eine konstitutive Funktion dafür übernimmt. Für Feministinnen, die sich mit den Implikationen davon befassen, Inzest als Gewalt zu begreifen, wäre die Frage nach Mitschuld an dieser Stelle ein Luxus, wenn auch keine Grundlage für Optimismus.

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Gewalt scheint für Butler ein simpler und gezwungenermaßen gegebener Aspekt des sozialen Lebens zu sein. In gewisser Weise trifft dies auch für Hermans Gewaltverständnis zu, gilt bei ihr jedoch nur für Männer. Obwohl sich die Gewaltverständnisse unterscheiden, verstehen beide Gewalt so, dass sie Beziehungen ermöglicht, wenn nicht sogar erschafft: bei Butler handelt es sich um soziale Beziehungen, bei Herman um patriarchale Beziehungen. Beide begreifen Gewalt als produktive Kraft: Sie verfügt nicht nur über die Macht, Dinge zu bewirken und soziale Situationen zu prägen, sie kann sogar Subjekte und Welten erschaffen. Gewalt erzeugt das Wissen um die Präsenz des anderen und drückt es gleichzeitig aus (ob als phobische Reaktion oder als Wille zur Dominanz). Es gibt allerdings auch Hinweise darauf, dass beide Autorinnen falsch liegen könnten. So behauptet etwa Randall Collins in seinem neuesten Buch Violence: A Micro-sociological Theory, dass Gewalt nicht so einfach und damit auch nicht so vorherrschend ist, wie wir glauben mögen. Sein Argument lautet, dass Menschen sich meistens nicht gewalttätig verhalten und wenn sie es tun, verhalten sie sich wahrscheinlich eher inkompetent als effektiv und brechen ihre Gewalttätigkeiten ab, bevor sie sie komplett durchgeführt haben. Gewalt markiert für Collins ein praktisches, situationales Ereignis: zufällig, spontan und prozesshaft. Es gibt keine von der Natur oder Gesellschaft vorherbestimmten Mörder, nur Menschen, die gewalttätig werden, wenn die Situation »richtig« ist. Und diejenigen, die sich bewusst für Gewalt entscheiden, haben in den meisten Fällen nicht nur Übung darin, sondern müssen sogar geübt sein, um die sozialen Hindernisse der Gewalt zu umschiffen. Die meisten Menschen schrecken vor Konfrontationen zurück und damit es zu Gewalt kommen kann, müssen Menschen Mittel finden, dem lähmenden Gefühl entgegenzutreten, das sie normalerweise empfinden würden. Der Vater wird eher wartend vor der Tür seiner Tochter stehen als sie zu öffnen und einzutreten; der Homophobe oder der Rassist wird eher seine Vorurteile aussprechen als sie physisch auszuleben, ebenso wird auch der Soldat im Krieg eher in die Luft oder am Feind vorbei zielen: von sogenanntem »friendly fire« getroffen zu werden, zählt nicht zu den zufälligen Unfällen des Krieges, sondern beweist vielmehr einen Widerwillen gegen den Krieg.

Ich möchte nicht leugnen, dass es Gewalt gibt, sondern lediglich die von Herman wie auch von Butler vertretene These in Frage stellen, dass Gewalt generativ ist und potenziell bei allen Menschen (Männern) auftritt; ich möchte insbesondere den Fatalismus in Butlers Argumentation anfechten. Ich möchte davor warnen, Gewalt als Trieb oder Motivation zu konzeptionalisieren. Mir geht es darum, die Behauptung zu widerlegen, dass es jemals einen Gewaltbedarf gibt, wie auch immer man diesen Bedarf verstehen mag. Und es geht mir darum, dass Gewalt nicht ideologisch verstanden werden kann - dies war der Skandal, den Hannah Arendt (1963) provozierte, als sie sich weigerte, die Gewalt der Nazis zu mythologisieren und es vorzog, Adolf Eichmann zu glauben, der sagte, er habe keinen Hass auf die Juden empfunden. Es ist absolut möglich, dass die erwachsene Person das Kind missbraucht, weil es eben einfach möglich ist und dabei wenig bis gar kein unbewusstes oder bewusstes Verlangen, noch psychische Investition, soziales Wissen oder ontologisches Bedürfnis mit hineinspielen. Genauso wie es möglich ist, dass eine Person, die versucht, Menschen mit anderer ethnischer Zugehörigkeit oder anderem sexuellem Begehren Leid zuzufügen, dies tut, weil sie es kann - und dabei für Butler unvorstellbar indifferent oder sogar brutal vorgeht. Man sollte dem Gedanken Gewicht verleihen, dass Gewalt vielleicht tatsächlich einfach sinnlos ist. In der völligen Überflüssigkeit der Gewalt liegt ihr größter Frevel.

Eine Gewalttat ist eine Handlung, die man ohne oder nur mit geringer Rücksicht auf sich selbst und andere vollzieht: Sie beginnt und endet mit einer Entscheidung; einer Entscheidung, die irgendwann aus irgendeinem Grund - weniger Grund, als man zugeben möchte - getroffen wird, doch sie ist in jedem Fall opportunistisch. So beginnen Erwachsene damit, ihre Kinder zu missbrauchen, wobei diese auch nur ein Ersatz für etwas anderes sein können, oftmals sind auch die Geschwister mit inbegriffen; ähnlich sieht es aus, wenn »Homophobe« oder »Rassisten« sich entschließen, eine Person mit augenscheinlich anderer Sexualität oder ethnischer Zugehörigkeit anzugreifen - auch diese Person fungiert wahrscheinlich nur als Ersatz für etwas anderes, wenn man bedenkt, dass der größte Teil der Gewalt sich gegen Personen innerhalb der eigenen Gemeinschaft der Täter richtet.

Es geht hier nicht darum, das Trauma der Opferrolle oder des Inzests im Besonderen zu leugnen, doch es soll vor der Vorstellung gewarnt werden, der Täter sei für die »Intensität« der Erfahrung des Opfers verantwortlich. Es geht mir darum zu bestreiten, dass Aggressor und Opfer in irgendeiner Form durch Gewalt aneinander gebunden sind. Traumatische Erfahrungen sind einzigartig, womit jedoch nicht behauptet werden soll, dass nur das Opfer die Gewalt verstehen kann. Ich stimme Butler in dem Punkt zu, dass es zur Eigenart einer Gewalterfahrung gehört, dass ein Außenstehender und ein Opfer nur begrenzt das Gleiche verstehen können. Gewalt kann als etwas bezeichnet werden, was »die Erfahrbarkeit von Wahrheit in eine anhaltende Krise« stürzt und aus diesem Grund, so fährt Butler fort, »ist es entscheidend, eine Lesart zu finden, die nicht versucht, die Wahrheit darüber, was geschehen ist, herauszufinden, sondern vielmehr nachfragt, was dieses Nicht-Geschehen mit der Wahrheitsfrage gemacht hat« (2004b, 156). Welche Lektion beinhaltet die traumatische Erfahrung für die Frage und somit den Umgang mit der Wahrheit?

Es handelt sich um eine problematische Frage, die - wie Butler umgehend feststellt - nicht mit Schweigen beantwortet werden sollte. Kritiker und Kritikerinnen sollten über Gewalt reden, doch, so Butler, sollten sie das in dem Wissen tun, »dass welche Geschichten oder Repräsentationen auch entstehen mögen, um das Ereignis wiederzugeben, das keines ist, sie immer der gleichen Katachrese unterworfen sein werden, die ich vollziehe, wenn ich unangemessenerweise von einem Ereignis spreche« (2004b, 156). Wenn sie über Traumata reden, werden Kritiker und Kritikerinnen wohl immer falsch liegen müssen; was in diesem Zusammenhang als angemessen gelten kann, bleibt unklar, weil es keine adäquate oder endgültige Wahrheit diesbezüglich gibt. Dies ist eine für Butler bequeme Antwort, da sie es ihr erlaubt, ihre Erzählung über Inzest als eine Erzählung zu positionieren, die der Wahrheit nahe kommt, da sie helfen kann, die Tiefe und psychische Konsequenz dieses Traumas zu beschreiben, und dabei gleichzeitig eingesteht, dass sie sie ebenfalls nicht völlig begreifen kann. Nach Butler ist die Wahrheit dessen, was passiert ist, eine Funktion der Liebe des Kindes, doch sie räumt auch ein, dass diese These nicht zufriedenstellend ist. Niemand verfügt über die endgültige Hoheit entscheiden zu können, was im Fall des Inzests als wahr zu gelten hat. Das bedeutet, dass es zwar unzählig viele Interpretationen geben kann, die Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieser Interpretationen sich aber nicht abschließend klären lässt. So gesehen liegt Martha Nussbaum (1999) also absolut falsch, wenn sie Butler des »hippen Quietismus « und der »Kollaboration« mit dem »Bösen« der Gewalt bezichtigt. Butlers Arbeit verfolgt eine politische Intention und sie erkennt an, dass Gewalt falsch ist. Was Butler von Nussbaum unterscheidet, ist ihr Wunsch nachzuforschen, wie wir dieses »Böse« und seinen Bezug zur Realität verstehen können.

Man kann dennoch die Meinung vertreten, dass Butler die Lektion, die das »Böse« der Gewalt und des Traumas für die Frage nach und dem Umgang mit der Wahrheit lehren kann, falsch verstanden hat. Ich würde behaupten, dass Gewalt dazu dient, das Verlangen nach der Wahrheit zu strafen. Als ein Nicht-Geschehen bringt es Kritiker und Kritikerinnen dazu, ihr Verlangen nach Interpretation zu zügeln und ebenso ihr Verlangen, aus einem Nicht-Geschehen ein Geschehen zu machen, eine Krise in ein Drama zu verwandeln. Insofern hat Nussbaum vielleicht sogar aus den falschen Gründen recht, wenn sie Butler vorwirft, dem »Bösen« der Gewalt zu schmeicheln. Gewalt verlangt gewissermaßen, dass wir uns damit zufrieden geben, weniger zu durchdringen, als sich verstehen ließe. Wie weiter oben erwähnt, provozierte Arendts These von der Banalität des Bösen mit ihrer Weigerung, die Nazi-Gewalttäter zu mythologisieren, eine nachhaltige Kontroverse. In jüngerer Zeit hat Shoshana Felman in Anlehnung an Arendt vorgebracht: »Wenn der Täter banalisiert und demythologisiert werden muss, um im richtigen Licht betrachtet und verstanden werden zu können, so muss dies auch für das Opfer gelten« (2002, 140). Und eben dies, würde ich hinzufügen, gilt auch für die Wahrheit. Im richtigen Licht betrachtet, ist die Wahrheit ebenso banal und aus diesem Grund nicht adäquat für unser Verlangen nach Wissen und Wandel. Der Wahrheit wird nie Genüge getan werden können, aber sie bleibt Grund genug, Inzest verstehen zu wollen.

Aus dem Englischen von Leandra Rhoese und Anja Lieb

Literatur

Arendt, Hannah, Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil, London 1963 (dt. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964)

Bennett, Jill, Empathic Vision: Affect, Trauma, and Contemporary Art, Stanford/CA 2005

Butler, Judith, The Psychic Life of Power: Theories in Subjection, Stanford/CA 1997 (dt. Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt/M 2002)

dies., Precarious Life: The Powers of Violence and Mourning, London 2004a (dt. Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt/M 2005)

dies., Undoing Gender, London-New York 2004b (dt. Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt/M 2009)

dies., »Critique, Coercion, and Sacred Life in Benjamin's ›Critique of Violence‹«, in: H.de Vries u. L.E.Sullivan (Hg.), Political Theologies: Public Religions in a Post-Secular World, New York 2006

dies., »Response to Mills and Jenkins«, in: differences: A Journal of Feminist Cultural Studies 2/18, 2007, 180-95

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dies., Frames of War: When is Life Grievable?, London-New York 2009 (dt. Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt/M-New York 2010)

Collins, Randall, Violence: A Micro-sociological Theory, New Jersey 2008

Felman, Shoshana, The Juridical Unconscious, Cambridge/MA 2002

Herman, Judith, Father-Daughter Incest, Cambridge/MA 1981

Jenkins, Fiona, »Toward a Nonviolent Ethics«, in: differences: A Journal of Feminist Cultural Studies 18/2, 2007, 157-79

Mardorossian, Carine M., »Toward a New Feminist Theory of Rape«, in: Signs: Journal of Women in Culture and Society 27/3, 2002, 743-75

Mason, Gail, »The Book at a Glance. Symposium: The Spectacle of Violence: Homophobia, Gender and Knowledge«, in: Hypatia 21/2, 2006, 174-77

Mills, Catherine, »Normative Violence, Vulnerability, and Responsibility«, in: differences: A Journal of Feminist Cultural Studies 18/2, 2007, 133-56

Nussbaum, Martha, The Professor of Parody, 22.2.1999

[Der Aufsatz ist im Oktober 2010 erschienen, in: Das Argument 288 (4-5/2010), „Gewalt und Hegemonie"]