Auf neuen Wegen?

Über Bewegungen und Begegnungen in China

»Arbeiter aller Länder, vereinigt Euch! – Da können wir wohl den Kapitalisten heute dankbar sein, dass ihre Globalisierung uns an einen Tisch gebracht hat, so dass wir dem Slogan der alten Arbeiterbewegung ein Stück näher kommen können.« Mit diesen Worten eröffnete Chen Weiguang im Oktober letzten Jahres die Gründungsversammlung des »International Center for Joint Labor Research« an der Sun Yat-Sen Universität in Guangzhou. Kein unbedeutender Vorgang, denn das gemeinsam mit der Universität Berkeley betriebene Forschungszentrum ist das erste seiner Art in China – und Chen Weiguang ist Vorsitzender der ca. zwei Millionen Mitglieder starken Gewerkschaft in Guangzhou (Kanton), der Hauptstadt der 96 Millionen EinwohnerInnen zählenden Industrieprovinz Guandong.

Wir – 20 Gäste aus den USA, aus Kanada, Australien, Belgien und Deutschland – konnten die Aufregung bei unseren Gastgebern spüren: Seit den Selbstmordereignissen bei Foxconn, seit dem Hondastreik im Mai und der rasanten Zunahme der Streikaktionen allein im Jahr 2010 auf über 1000 (bis Oktober) im Südosten Chinas gibt es besonders dort eine heiße Debatte über die Rolle und Zukunft der Gewerkschaft. »Bisher war die Gewerkschaft nur ein Werkzeug für Dienstleistungen«, erklärte Chen, »doch die Arbeiter wollen die Gewerkschaft anders!« Die theoretische Grundlage der Gewerkschaftsarbeit sei bisher auf Planwirtschaft ausgerichtet, doch die gesellschaftlichen Bedingungen hätten sich geändert. Die Arbeiterbewegung habe eine politische Entwicklung angestoßen, um die Unabhängigkeit der Gewerkschaft von der Regierung und eine klare Rollenverteilung voranzubringen.

In der Debatte bei der Gründungsversammlung wie auch während des 14-tägigen Besuchsprogramms für uns ausländische Gäste, das zahlreiche weitere Begegnungen an der Uni, in Betrieben und an der Gewerkschaftsschule beinhaltete, wurden von Seiten der Gewerkschaftsvertreter des ACFTU (der Dachverband hat offiziell 226 Millionen Mitglieder) und von den teilnehmenden KollegInnen, ProfessorInnen und Studierenden im Wesentlichen folgende Forderungen diskutiert:

- Statt der Gewerkschaft soll die Regierung bei Belegschaftsaktionen künftig eine vermittelnde Rolle spielen. Die Gewerkschaft hat vielmehr eindeutig auf der Seite der Mitglieder zu stehen. Die Zeit der »Drei NOs« – no promotion (kein Anstoßen von Aktionen), no support (keine Unterstützung), no responsibility (keine Verantwortung)« – bei Streiks sei vorüber.

- Die ArbeiterInnen müssen ihre Repräsentanten selber wählen können, die Gewerkschaft sei »von unten« aufzubauen. Gewerkschaftsvertreter sollen nicht mehr Mitglieder des Managements sein. Besonders diese Forderung habe in der Gewerkschaftsbürokratie härtesten Widerspruch provoziert – verständlich bei einer Unzahl von Funktionären in Managerpositionen mit entsprechenden Gehältern.

- Für die Reform sind neue gesetzliche Regelungen erforderlich. Im Entwurf des Guandonger Volkskongresses wird verlangt, dass die Gewerkschaft Belegschaftsversammlungen für die Wahl von Delegierten zu organisieren hat. Diese können dann – auch durch Streiks! – Verhandlungen innerhalb der Firma für einen Tarifvertrag erzwingen, wenn ein Fünftel der Belegschaft sich auf Forderungen geeinigt hat.

»Sagt euren Leuten: Die Arbeiterbewegung in China wird stärker!«, mit diesen Worten schloss der Gewerkschaftsvorsitzende sein Referat auf der Gründungsversammlung.

Für uns Gäste war die Beteiligung von Studierenden besonders beeindruckend: In vier Gruppen stellten sie ihre Untersuchungsarbeit bei Foxconn-Beschäftigten, bei der Streikbelegschaft von Honda, bei BauarbeiterInnen in Guangzhou und in einem staatseigenen Metall-Werk vor. So hat die Streikbewegung auch an der Uni das Interesse an der Lage der LohnarbeiterInnen und der bisherigen Gewerkschaftspolitik provoziert und zu einem Engagement – genannt wurde zum Beispiel »die Stärkung des Selbstbewusstseins der Arbeiter« – geführt, was ausdrücklich als »eher nicht karriereförderlich« bezeichnet wurde.

Ob diese Entwicklung der Gewerkschaftsdebatte allerdings wirklich zu einem Fortschritt für die Lohnabhängigen in China führt, daran heften sich viele Fragezeichen.

So informierten uns unsere Gastgeber zwar über vereinzelte Zustimmung zu geregelten Lohnverhandlungen aus Unternehmerkreisen, gleichzeitig treffe aber jegliche Festlegung gesetzlicher Verbesserungen auf harte Ablehnung. Der Einfluss von Investoren auf lokale und regionale Regierungen ist hinreichend bekannt. Ist der zu erwartende Widerstand von Unternehmern – und zwar chinesischen wie ausländischen – sowie Regierungsleuten wirklich zu brechen?

Bei der Debatte an der Uni wurde, auch seitens des Vorsitzenden Chen Weiguang, immer wieder betont, dass man »natürlich« am Parteiziel einer »harmonischen Gesellschaft« und der führenden Rolle der Partei festhalte. Die neuen Regelungen sollten eben auch helfen, die offenen Konflikte zu reduzieren. Die westlichen Gewerkschaftsführer wollten ja auch Harmonie, erklärte Chen und bezog sich dabei auf seine Eindrücke während vielfacher Reisen ins Ausland. Dass die »Kontrolle der Arbeiterbewegung« das Ziel einer Reform sei, wurde zwar bewusst zurückgewiesen, doch zugleich wurde der Vorteil gesetzlich geregelter, »friedlicher« Verhandlungen über Lohn und Arbeitsbedingungen »für China« betont...

Und was kann die Forderung, die »Gewerkschaft von unten aufzubauen« für die Beschäftigten bedeuten, die sich längst einer landesweiten Gewerkschaftsbürokratie mit einer ideologisch-politischen Festlegung auf den Kurs von Partei- und Staatsapparat gegenüber sehen?

Deutlich wurde die widersprüchliche Ausrichtung der Reformvorstellungen insbesondere bei der Forderung nach »kollektiven Verhandlungen«: Einerseits, so wurde diskutiert, sei bisher ungeklärt, wie das Streikgeld zu organisieren sei und wie die Streikführer geschützt werden sollen. Unklar sei aber insbesondere die Frage, wie die Beschäftigten zu ihren Forderungen kommen sollen, welchen »Spielraum« sie angesichts der wirtschaftlichen Lage »ihres« Betriebes einzukalkulieren hätten. Hier wurde wieder die Erwartung deutlich, dass die Beschäftigten »beide Seiten« – die Lage des Unternehmens sowie ihre eigene – beim Kampf um ihre Forderungen in Deckung bringen sollen...

Gerade bei diesem Problem, so wurde von gewerkschaftlicher wie von der akademischen Seite betont, sei der internationale Erfahrungsaustausch unbedingt zu verstärken. Darauf müsse besonders bei der schleunigst auszubauenden Fortbildung von Gewerkschaftskadern wie auch von Managern Wert gelegt werden – denn nicht zuletzt stelle sich auch die Lohnfrage über nationale Grenzen hinweg.

Doch wer soll da wen worüber fortbilden? Gewerkschaftsberatung aus Deutschland oder aus den USA als Hilfe für die Lohnabhängigen in China? Wohin haben Sozialpartnerschaft und Tarifverhandlungspraxis in den westlichen Ländern denn geführt? Es wird also darauf ankommen, welche Erfahrungen, auf Grundlage welcher Analyse kapitalistischer Entwicklung, den KollegInnen in China vermittelt werden...

 

* Wolfgang Schaumberg, ehemaliger BR und Mitglied der Opel-Betriebsgruppe GoG, arbeitet im »Forum Arbeitswelten – China und Deutschland« mit, das einen regelmäßigen Austausch mit KollegInnen, Aktiven und ForscherInnen aus China herstellt. (www.forumarbeitswelten.de)

 

 

erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/11

express im Netz unter: www.express-afp.info, www.labournet.de/express