Linksreformismus

Das Wort steht sperrig im Raum. Das junge Bürschlein mit pickeligem Gesicht, Streichholzarmen („Um Himmels Willen keinen Sport!"), aber dem schwarzen T-Shirt mit Totenkopf und der Aufschrift: „Terror" bekundet, „links" zu sein. Aber darunter versteht es natürlich nicht Regieren, Staatshandeln, also „Reformismus", sondern eben „Terror": Autos abfackeln und so. Käme der richtige Terror, nämlich der Ausnahme-Zustand der real bewaffneten Rechten - „Wir beobachten Dich...", hatte ein KSK-Offizier einem linken, kritischen Bundeswehroffizier gedroht - verschwänden die „Terror"-Bürschlein bei Mutti unter dem Küchentisch. Kurzum: „Linksreformismus" steht bei bestimmten Gruppierungen sich „links" verstehender Menschen nicht hoch im Kurs. In der eher intellektuellen Variante heißt das dann: „Die Revolution!!!!", weil: „der Kapitalismus" sei ja „nicht reformierbar". Wann die kommt, wie, durch wen und so weiter, wird dabei nicht so genau nachgefragt. Es muss ja sein, eines Tages. „Das wissen wir doch!!!" In der anderen Richtung ist es ebenfalls sperrig. Die geborenen oder so zugerichteten „Reformer", die auf den langen Gängen durch die Institutionen grau, müde und weise geworden sind, nebst ihren jungen, beschlipsten Nachläufern, deren gegelte Haare nicht anders aussehen, als bei den Libaralen, die meinen beim Bier, sie seien ja „links", irgendwie gesinnungsmäßig, aber Reformen ergäben sich nur aus „Sachzwängen", und die Verhältnisse seien nun mal so, wie sie sind, und da hat es keinen Zweck, und eine „andere Gesellschaft" gibt es sowieso nicht, denn „wir wissen ja, wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen..."
So zeigt sich rasch, „Linksreformismus" ist eine Zumutung: Die „richtigen" Linken wollen keine Reformen und die „richtigen" Reformer nichts Linkes, zumindest nicht beim Reformen, nur beim Bier, sozusagen privat, „nach Dienst". Und nun hieß der Aufruf, mitzudenken und mitzudiskutieren, auch noch „Mit Linksreformismus aus der Krise?", allerdings am Ende mit einem Fragezeichen. Wer das liest, weiß aber, dass so eine Überschrift als Aussage gemeint ist, das Fragezeichen hat eine Alibifunktion. Aber auch hier steht das Wort wieder quer. „Was für eine Krise?" - fragen die Regierenden. Die Auftragsbücher der deutschen Wirtschaft sind doch voll, die Arbeitslosigkeit sinkt! Dass die Krise nur gewandert ist, aus der Finanz- in die Realwirtschaftssphäre, von dort in die öffentlichen Haushalte und schließlich in die sozialen Verhältnisse, wird da ausgeblendet. Auch hier aber keine Nachfrage nach „Linksreformismus". Reformismus? - Fehlanzeige, und links schon gar nicht. So stünde der Linksreformismus einsam und verlassen da, wären nicht einige Querdenker auf die Idee gekommen, dass die Verhältnisse, so wie sie sind, nicht bleiben können, und dass zugleich „die Revolution" hierzulande nicht auf der Tagesordnung steht, dass also Veränderung kommen muss, aber eben schrittweise, in dem Maße, wie die politischen Mehrheiten dies zulassen. Dafür braucht es Konzepte für Reformen, die diesseits der derzeitigen schwarz-gelben Regierungskräfte liegen, aber auch quer zum Alltagsgezänk der anderen Parteien, an deren Entwicklung Intellektuelle mittun müssen, aber auch Politiker und politische Aktivisten. Nachdenker sind gefragt, nicht „Vordenker", die immer schon alles wissen, Leute, die im Prozess des Denkens, Schreibens und Mitdiskutierens noch etwas Neues lernen wollen, nicht ihre Weisheiten verkünden - über die gewöhnlich immer nur die verfügen, die sie gerade verkünden.
Der Sozialwissenschaftler Rainer Land hatte mit Freunden aus Deutschland und Österreich begonnen, einen solchen Prozess zu initiieren. Der Call for Papers: „Mit Linksreformismus aus der Krise?", erschien vor einem Jahr in der Zeitschrift Berliner Debatte Initial. Es wurden Papiere eingereicht. Im September 2010 fand eine Auftaktdiskussion statt. Eine größere Konferenz wurde vorbereitet, an deren Unterstützung sich weitere Zeitschriften sowie die Friedrich-Ebert-Stiftung, die Heinrich-Böll-Stiftung und die Rosa-Luxemburg-Stiftung beteiligten, also die parteinahen Stiftungen der SPD, der Grünen und der Linken. Jetzt, vom 4. bis 6. Februar, fand im Gästehaus der Gewerkschaft Verdi in Berlin-Wannsee die Konferenz statt. Ungefähr 100 Kurzfassungen und 70 Langfassungen von Texten waren eingegangen, etwa einhundert Menschen nahmen an der Konferenz teil. Diskutiert wurde in acht Gruppen, die thematisch strukturiert waren, von „Arbeit & Integration" und „Sozial & Ökologisch" über „EU & International" bis „Solidarität & Differenz". Leonhard Dobusch, einer der Hauptanreger des Projekts, nannte das Ganze eine „paradoxe Intervention". Die mitdiskutiert hatten, waren mehrheitlich der Meinung, dass es der Intervention bedarf, um die Verhältnisse zu ändern, und dass die Intellektuellen die Politiker nicht allein lassen dürfen, wenn die dazu gebracht werden sollen, tatsächlich etwas Neues zu beginnen. Es geht, so Dobusch, um den „Versuch, den linken Reformdiskurs mit Hilfe von paradoxen Interventionen zumindest ein wenig zu irritieren und so neue Räume für linke Reformpolitik zu eröffnen beziehungsweise zu erschließen." Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.