Geschichtspolitik als politisches Handlungsfeld

„We publish while others perish", monierte Howard Zinn im ersten Kapitel seines 1970 erschienen Buches The Politics of History. „Let all social scientists work on modes of change instead of merely describing the world that is." Der 2010 verstorbene Doyen der systemkritischen politischen Geschichtsschreibung in den USA ließ keinen Zweifel offen, wen er mit dieser Form von Politik aufrütteln wollte. Es ging ihm um das politische Engagement der HistorikerInnen, um die bewusste Wahl machtkritischer Perspektiven und die Abkehr von einem Objektivismus, der doch nichts anderes sei als eine Camouflage der kapitalistischen Leitkultur. Er forderte die HistorikerInnen auf, in den Konflikten der Gegenwart Stellung zu beziehen und ihre Erkenntnisse in den Dienst einer gerechteren Welt zu stellen.

Diese Definition von Geschichtspolitik unterscheidet sich grundsätzlich von jenem Verständnis, das heute den Begriff prägt und stark von deutschsprachigen Theoriedebatten beeinflusst wurde. Der Terminus kam 1986 im Historikerstreit um die Deutung des Holocaust in der deutschen Geschichte auf und hatte damals ebenfalls normativen Charakter. Geschichtspolitik stand für die als unzulässig markierte Politisierung von Geschichtsforschung in einem „Streit zwischen Rechten und Linken". Doch wenige Jahre später, als die Geschichts- und Sozialwissenschaften im Zuge des sogenannten Memory Booms die öffentlichen Repräsentationen von Geschichte in den Blick nahmen, wurde auch Geschichtspolitik als analytisches Konzept neu definiert.

Heute bezeichnet der Begriff allgemein die Verbindungen zwischen den Feldern der Politik und der Geschichte. In einem engeren Sinne werden darunter öffentliche - kritische oder legitimatorische - Bezugnahmen auf Geschichte verstanden. Diese Verstrickung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stellt denn auch ein zentrales Charakteristikum von Geschichtspolitik dar. Politische Ideologien aller Art haben sich stets, wenn auch in höchst unterschiedlicher Weise, auf Geschichte berufen, um ihre jeweiligen Zukunftsentwürfe zu rechtfertigen. Somit kann Geschichtspolitik verstanden werden als jedwedes politische Handeln, das sich auf historische Argumente stützt oder die Deutung und Repräsentation von Geschichte zu beeinflussen versucht. Der Afrikanist Frederick Cooper hat die Relevanz dieser Agency in einen einfachen Merksatz gefasst: „How one does history shapes how one thinks about politics, and how one does politics affects how one thinks about history".

Die zentralen Fragen geschichtspolitischer Analyse beziehen sich also auf die Handlungsebene: Wer sind die AkteurInnen von Geschichtspolitik? In welchem Verhältnis stehen diese zueinander? Und welche Strukturbedingungen beeinflussen ihr Handeln? Wie jede soziale Praxis ist auch geschichtspolitische Agency nicht rein voluntaristischer Natur, sondern vollzieht sich innerhalb gesellschaftlicher Strukturrahmen, die gemeinhin als „Erinnerungskulturen" bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um gemeinsame historische Bezugssysteme wie Nationalstaaten, politisch-ideologische Gruppierungen oder Sprach- und Religionsgemeinschaften: etwa die österreichische Erinnerungskultur, die sozialdemokratische Erinnerungskultur, die Erinnerungskulturen der Kärntner SlowenInnen oder der Sudetendeutschen Landsmannschaften.

Solche Erinnerungskulturen - und insbesondere die weit gefassten nationalstaatlichen Konfigurationen - sind weder einförmig noch statisch, sondern heterogen und dynamisch, denn die verschiedenen geschichtspolitischen AkteurInnen verschieben die sozialen Rahmen des kollektiven Gedächtnisses in ihrem Bemühen, die Deutung und Repräsentation spezifischer Vergangenheiten immer wieder neu zu verhandeln. Die Arenen dieser Aushandlung sind öffentliche Debatten um historische Ereignisse und deren Deutung, wissenschaftliche Kontroversen oder künstlerische Interventionen.

Fasst man diesen Zusammenhang in Antonio Gramscis Kulturkonzept, dann wird deutlich, dass zu jeder Zeit und in jeder Gesellschaft Erinnerungsleitkulturen bestehen: hegemoniale Repräsentationen von Geschichte, die mehr oder minder verbindliche Deutungsmuster vorgeben. Diese koexistieren jedoch stets mit verschiedenen Erinnerungssubkulturen und werden immer wieder von streitbaren Gegengedächtnissen herausgefordert. Der Erfolg des einen oder anderen Geschichtsbildes ist abhängig von den wechselnden Kräfteverhältnissen innerhalb des jeweiligen Kollektivs. Erinnerungskulturelle Konjunkturverläufe sind also keine naturgegebenen Zyklen, sondern werden vom Durchsetzungsvermögen und der Mobilisierungskraft der geschichtspolitischen AkteurInnen bestimmt.

Demnach darf man sich diese Entwicklungen auch nicht als sauber trennbare Abfolge alleinherrschender Vergangenheitsdeutungen im Sinne einer dynastischen Reihe vorstellen. Die Zäsur, welche die Waldheimdebatte 1986 für die geschichtspolitische Landschaft Österreichs bedeutete, ist ein gutes Beispiel. Zwar wurde der bis dahin dominante „Opfermythos" durch ein Bekenntnis zur österreichischen Mitverantwortung am Holocaust und den Verbrechen des Zweiten Weltkrieges ersetzt. Mit dieser Veränderung ging aber eine Bekräftigung nationaler und xenophober Identitäten einher, die nicht zuletzt auf einer positiven oder „neutralen" Bewertung des Nationalsozialismus aufbauen. Wohl entschuldigte sich Franz Vranitzky in Jerusalem für Österreich, doch gleichzeitig führte Jörg Haider die FPÖ mit revisionistischen Parolen zu neuen Erfolgen und ebnete den Weg für eine neonazistisch verwickelte Parteiführung, die heute bis zu 40% der unter 30-Jährigen zu begeistern vermag.

Das neue, kritischere Geschichtsbild des offiziellen Österreich hatte also die apologetische Version nicht verdrängt, sondern lediglich partielle Diskurshoheit errungen. Zudem kam ihm in der Folge von 1989 - durchaus im Sinne mancher politischer Entscheidungseliten und entsprechend einer Tendenz in vielen Ländern Europas - die Funktion zu, Kommunismus und Nationalsozialismus bzw. Faschismus als Totalitarismen gleichzusetzen oder miteinander gegenzurechnen. Bezeichnend an dieser geschichtspolitischen Strategie ist die häufige Externalisierung historischer Verantwortung zugunsten kollektiver Opferschaft. Zudem bleibt wenig Platz für andere historische Narrative, wie die Geschichte des Kolonialismus und seiner Verbrechen. Auch die Einbindung migrantischer Gedächtnisse wird erschwert, weil ihre polyphonen Erinnerungskulturen die Vorstellung homogener Nationalgedächtnisse aufbrechen.

Begreifen wir Geschichtspolitik als komplexes Handlungsfeld, dann stehen die politischen AkteurInnen, ihre spezifischen Interessen und die verfügbaren Mittel zur Durchsetzung dieser Interessen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Eine solche Perspektive auf die überlappenden Felder Politik und Geschichte ist weniger an der Kategorie „historischer Wahrheit" interessiert als an den gesellschaftlichen Machtverhältnissen in der politischen Auseinandersetzung um Geschichte.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Frühjahr 2011, „smrt postnazismus".