Das »Sarrazin-Syndrom«

Ein Bestseller als Krisenindikator

Norbert Bolz sehnte im Berliner Tagesspiegel eine neue Rechtspartei herbei: In der politischen Kultur der Bundesrepublik existiere ein »Vakuum auf der Rechten«, weil die politische Korrektheit der »Medienlinken« sowie der »Kampf gegen Nazis« konservative bzw. rechte Auffassungen tabuisiere (13.8.2010). »Viele Akademiker, Journalisten und Intellektuelle« seien jedoch »gar nicht links, sondern maskieren sich nur so, um in ihren Institutionen überleben zu können.« Das sei »das Sarrazin- Syndrom: Du hast ja recht, aber das kann man doch nicht sagen«. Das »mächtige Tabu über einer politischen Rechten« könne »nur durch ein Coming-out der Starintellektuellen « gebrochen werden: »Ich bin gar nicht rot-grün. Ich bin konservativ - und das ist gut so!« (Ebd.)

Bezeichnenderweise war der »Starintellektuelle« im deutschen Bücherherbst 2010 kein konservativer Journalist oder Akademiker, sondern Thilo Sarrazin, der seit Jahrzehnten ein Repräsentant der deutschen Staatsklasse ist. Sein Buch, Anfang September 2010 erschienen, zirkulierte im Oktober bereits in einer Gesamtauflage von 1,1 Mio Exemplaren. Kaum eine politische Neuerscheinung war in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Anlass für derart heftige Debatten. Die reflexhafte Zurückweisung von Sarrazins Positionen zur Integrationsdebatte durch den offiziellen Berliner Politikbetrieb hatte zunächst erheblich dazu beigetragen, dass aus dem Buch ein Skandalon werden konnte. Zu virulent ist das Thema Migration in Medien- und Alltagsdiskursen, zu dramatisch waren die angekündigten beruflichen Konsequenzen für den damals noch im Vorstand der Bundesbank tätigen Autor. Verteidiger Sarrazins wie der Publizist Henryk M. Broder sprachen angesichts der anfänglichen Kritik von Bundeskanzlerin Angela Merkel sogar von einer Zensur in der »Tradition der Reichsschrifttumkammer« und polemisierten wider die meist namenlosen »politisch korrekten Gutmenschen«, die auch von anderen konservativen und rechtsliberalen Medien und Intellektuellen gegeißelt wurden. Berthold Kohler, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, erklärte Sarrazin zum »Märtyrer der Meinungsfreiheit« (FAZ, 3.9.2010); Norbert Bolz bemerkte zudem in der Talkshow »Anne Will«, Buch und Debatte seien ein »Geschichtszeichen«. Auch Frank Schirrmacher hält das Buch mit dem affirmativen Rekurs auf Vordenker der Sozialeugenik wie Francis Galton für eine »Zäsur und ein Geschichtszeichen dafür, dass wir Thesen nicht mehr dahingehend diskutieren, wohin sie historisch geführt haben« (2010, 35).

Tatsächlich ist das Ziel von Deutschland schafft sich ab eine Diskursverschiebung im Sinne der Enttabuierung sozio-genetischer Bevölkerungspolitikmodelle und Durchsetzung einer radikalen Beschränkung besonders der Einwanderung muslimischer Migranten. Die in zahlreichen Umfragen, Internetforen und Leserbriefen manifest werdende massenhafte Zustimmung zu Sarrazins Thesen deutet auf eine Krise der Repräsentation, in der breite Teile des Publikums der von Bundespräsident Christian Wulff ausgerufenen »bunten Republik« keinen Beifall zollen. Wulff steht für eine realpolitische Anerkennung des Ist-Zustands (»Der Islam gehört zu Deutschland«), sein Antipode Sarrazin verteidigt dagegen die Dystopie eines Elitestaates.

In der Debatte zeigt sich eine »Autoritätskrise«[1], in der die Kräfteverhältnisse neu justiert werden. Dieser in Feuilletons, Talkshows und Leserforen ausgefochtene Kampf um die kulturelle Hegemonie ist ein Streit um Deutungshoheit über die Zukunft des deutschen Sozialstaates; der »Fall Sarrazin« ist zudem ein Lehrstück über Wirkmechanismen in deutschen Abwehrkämpfen gegen die imaginierte Diktatur der political correctness. Dies wirft die Frage auf, welche konkreten Diskursverschiebungen sich aktuell in dieser Debatte manifestieren und inwieweit sie ein Krisensymptom für tiefer liegende »tektonische« soziale Verschiebungen ist. Die unterschiedlichen Positionen der FAZ-Herausgeber illustrieren dabei die Bruchlinien in der Debatte. Während Kohler Sarrazin affirmativ einen Opferstatus zuschreibt, vermerkt Schirrmacher kritisch die Bedeutung neo-eugenischer Argumentationslinien. Von Interesse sind deshalb nicht nur die im Buch formulierten Positionen, sondern auch die Gründe, warum diese »Propaganda der Ungleichheit« (Albrecht von Lucke) so viel öffentliche Zustimmung erhält. Denn Sarrazins Erfolg ist nicht nur die Konsequenz der effektvollen Präsentation seines anti-egalitären Pamphlets. Der Verkaufserfolg des Buches ist ein Krisensymptom der erodierenden gesellschaftlichen »Mitte«, für die der Verfasser - teilweise losgelöst von seinen konkreten Positionen - als Chiffre und Projektionsfläche eines schichtenübergreifenden Unbehagens an der modernen deutschen Einwanderungsgesellschaft fungiert.

Besondere Bedeutung gewinnt Sarrazins Intervention im Kontext der Sloterdijk- Debatte (»Aufstand der Leistungsträger«), der im Frühjahr 2010 Guido Westerwelles Polemik wider die »spätrömische Dekadenz« der Bezieher von Arbeitslosengeld II folgte. Teile der vielfach beschworenen, ihrem Selbstbild gemäß »entideologisierten« und pragmatischen »bürgerlichen Mitte« entdecken, so zeigt allein ein Blick in die Leserbriefspalten von FAZ bis Süddeutsche Zeitung, in Sarrazin einen Verteidiger ihres Wertekanons, der unter Rekurs auf einen elitären Leistungsfetisch einen Distinktionskampf gegen vermeintlich integrationsresistente muslimische Migranten und eine aufstiegsunwillige autochthone Unterschicht führt. Doch die bürgerliche Öffentlichkeit agiert nicht als monolithischer Block - aktiviert werden auch die linksliberalen Kritiker in Redaktionen und Feuilletons, die offensiv Widerspruch anmelden. Offenbar ist es Sarrazin gelungen, durch das Anknüpfen an ideologisch aufgeladene Medien- und Alltagsdiskurse über Migration und demographischen Wandel den Nerv des Publikums - ob links oder rechts - zu treffen. Zudem verläuft der islamkritische Diskurs, in den dieses Buch eingebettet ist, nicht entlang der klassischen links-rechts-Dichotomie: Sarrazins Plädoyer für einen säkularen Staat könnte auf den ersten Blick auch die Zustimmung von Linken und Liberalen finden. Insgesamt überwiegt jedoch ein Tonfall des Ressentiments, der jeden »aufklärerischen« und religionskritischen Gestus dementiert.

»Das wird man wohl noch sagen dürfen«

Das Buch wurde im Rahmen einer umfassenden Kampagne unmittelbar nach der Sommerpause des Berliner Politikbetriebs und während der Ausarbeitung der »Sparbeschlüsse« der Bundesregierung vorgestellt. Die Vorabdrucke in Spiegel und Bild konzentrierten sich dabei auf muslimische Einwanderer, die Sarrazin fast ausschließlich als Problemklientel deklariert: »Insbesondere unter den Arabern in Deutschland ist die Neigung weit verbreitet, Kinder zu zeugen, um mehr Sozialtransfers zu bekommen, und die in der Familie oft eingesperrten Frauen haben im Grunde ja kaum etwas anderes zu tun.« (150)

Sarrazin führt keinen reinen Integrations-, sondern einen umfassenden Selektionsdiskurs. Generalisierende anti-muslimische Ressentiments (»den Arabern«, »weit verbreitet«) werden verbunden mit einer klassisch neokonservativen Sozialstaatskritik, wonach die moderne »Unterschicht« durch die »Fehlanreize« des Wohlfahrtsstaates erst geschaffen werde. Höhepunkt des Buches ist schließlich ein Plädoyer für eine neo-eugenische Bevölkerungspolitik. Sarrazins »wertneutraler« Rekurs auf Darwin, »natürliche Zuchtwahl« und »negative Selektion« führt ein deterministisches Menschenbild in die Debatte ein. Der »Feminismus« des Autors, der vorgeblich die Freiheit des Individuums wider die Macht der fundamentalistischen Sippe verteidigen will, reduziert vorzugsweise Frauen aus akademischen Milieus auf ihre Gebärfunktion. Gerade die Erhöhung der Reproduktionsraten von Akademikerinnen soll die im Buchtitel zum Ausdruck kommende demographische Apokalypse abwenden. Der elitäre Neo-Rassismus des Autors, der im »Kopftuchmädchen«-Interview mit Lettre International noch dominant war (»Es ist ein Skandal, wenn türkische Jungen nicht auf weibliche Lehrer hören, weil ihre Kultur so ist«; 2009, 199; Hervorh. RG), wird hier biologistisch zugespitzt. Die Verdrängung der Individuen aus dem Lohnarbeitsprozess im hochtechnologischen Kapitalismus wird diesen selbst angelastet.

Bezeichnend ist, wie unter dem Banner der Meinungsfreiheit neo-eugenische Positionen in die Debatte eingeführt werden, die weit über die bisherigen bevölkerungspolitischen Maßnahmen (Elterngeld etc.) hinausgehen. Auch das im Buch vorgeschlagene Workfare-Regime knüpft an längst eingeführte Agenda- 2010-Praktiken an, wird aber nochmals durch einen Rekurs auf erbbiologische Argumentationsmuster radikalisiert. Sarrazin betreibt nicht nur eine Ethnisierung, sondern auch eine grundlegende Biologisierung der sozialen Frage.

Krisendiagnosen zum demographischen Ernstfall und Biopolitik

Ein zentrales Motiv lautet: »Das Muster des generativen Verhaltens in Deutschland seit Mitte der sechziger Jahre ist nicht nur keine Darwinsche natürliche Zuchtwahl im Sinne von survival of the fittest, sondern eine kulturell bedingte, vom Menschen selbst gesteuerte negative Selektion, die den einzigen nachwachsenden Rohstoff, den Deutschland hat, nämlich Intelligenz, relativ und absolut in hohem Tempo vermindert. « (353) Historisch informierte Kritik an der Renaissance dieses Gedankenguts (»Zuchtwahl«, »negative Selektion«) wird als lediglich moralisch motiviert zurückgewiesen: »Diese Attacken waren letztlich Ausdruck von Wertungen, die gewisse Fragen als unzulässig verwarfen. Aber sie waren nicht empirisch begründet.« (353) Diese Vorgaben der »politischen Korrektheit« müssten überwunden werden.

Zur Verminderung der Intelligenz in Deutschland hätten keineswegs nur muslimische Einwanderer beigetragen, sondern zudem breite Teile der autochthonen Unterschicht, denen aufgrund ihrer Lebensführung (Ernährung, Erziehung, Medien konsum) ein »Verhaltensproblem« (119; kursiv im Original) attestiert wird. Diese Unterschicht habe durch »Fehlanreize des deutschen Sozialstaats« (322) zugenommen: »Nicht Kinder produzieren Armut, sondern Transferempfänger produzieren Kinder.« (149) Einer progressiven Bildungspolitik setzt das kulturelle und genetisch festgelegte Entwicklungspotenzial des Nachwuchses der unteren Klassen enge Grenzen: »Für einen großen Teil dieser Kinder ist der Misserfolg mit ihrer Geburt bereits besiegelt: Sie erben (1) gemäß den Mendelschen Gesetzen die intellektuelle Ausstattung ihrer Eltern und werden (2) durch deren Bildungsferne und generelle Grunddisposition benachteiligt.« (175)

Der Status als Angehöriger der Unterschicht wird als quasi genetisch festgelegt deklariert; die sozioökonomisch und alltagskulturell bedingten Lebensweisen erhalten naturgesetzlichen Status. Da - wie Sarrazin mehrfach betont - Intelligenz »zu 50 bis 80 Prozent erblich« (91) sei, ist die politische Kernbotschaft: »Mehr Kinder von den Klugen, bevor es zu spät ist.« (331) Akademikerinnen könnten »bei abgeschlossenem Studium für jedes Kind, das vor Vollendung des 30. Lebensjahres der Mutter geboren wird, eine staatliche Prämie von 50 000 Euro« (389) bekommen. Gemäß des deterministischen Schlusses vom bildungsbürgerlichen Hintergrund der Eltern auf das intellektuelle Potenzial der Kinder dient diese Klassenpolitik der Optimierung des »Humankapitals«. Die demographische Gefahr sei folgende: »Bei höherer relativer Fruchtbarkeit der weniger Intelligenten sinkt die durchschnittliche Intelligenz der Grundgesamtheit.« (98f)

Auffällig ist die methodische Sorglosigkeit, mit der hier »wissenschaftliche Erkenntnisse« vorgelegt werden. Neben einer fragwürdigen Interpretation der Mendelschen Gesetze überrascht auch die mehrfach vorgenommene Zahlenangabe: Ist bei 50 Prozent vererbbarer Intelligenz die Situation für die Individuen noch offen, wird bei einer Festlegung von 80 Prozent die Situation schon ausweglos, ist das Individuum an sein minderes Genpotenzial gefesselt.[2] Schulische Förderung ist hier geradezu nutzlos. Als Gewährsleute für die Argumentation finden sich neben Darwin, Galton und dem schwedischen Sozialtechnologen Gunnar Myrdal der konservative Anthropologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt sowie der für die NPD als Experte in die Enquetekommission »Demographie« des Freistaates Sachsen berufene Intelligenzforscher Volkmar Weiss. Letzterer wird ohne quellenkritischen Verweis affirmativ angeführt.

Zustimmend zitiert Sarrazin auch die Psychologin Elsbeth Stern, wonach »die optimale Förderung eines jeden Schülers nicht zu mehr Gleichheit, sondern zu mehr Ungleichheit führt. Denn je größer die Chancengerechtigkeit, desto mehr schlagen die Gene durch. Eine gute Schule, das mag nicht jedem gefallen, produziert Leistungsunterschiede auf hohem Niveau« (in: Sarrazin 2010, 189). Der Autor folgert daraus, unter anderem, dass einer egalitären Pädagogik enge Grenzen gesetzt sind. Stern hat der Interpretation und Kontextualisierung ihrer Argumentation schon früh widersprochen (FAZ, 2.9.2010). In der Tat kann ihr Argument auch anders gewendet und weiterentwickelt werden: »Erst wenn die Füße aller gleich hoch stehen, kann entschieden werden, wer höher ragt als andere.« (Brecht, Me-ti, GW 12, 488)

Sarrazins »Methode« verbindet Ressentiments und statistisch belegte Scheinevidenzen; der Beifall für den Autor wird dabei immer enthemmter vorgetragen. Daniel Bax hat in der tageszeitung darauf hingewiesen, dass kaum je zuvor in den Internetforen der großen Tageszeitungen so viele Beiträge wegen eklatanten Verstoßes gegen die Netiquette gesperrt wurden (1.10.2010). Die Süddeutsche Zeitung berichtet von einer Diskussionsveranstaltung in München, in der Sarrazin auf den Journalisten Gabor Steingart und den Soziologen Armin Nassehi traf: »In der Münchner Reithalle herrschte ein Hauch von Sportpalast.« (SZ, 30.9.2010) Die differenzierte Kritik der Diskutanten ging im lautstarken Protest des Publikums unter.

Muslimische Des-Integration in Deutschland

Bezeichnend sind die Leerstellen der Argumentation. Im Buch findet sich kaum ein Hinweis auf strukturelle Lohnungleichheit bei erwerbstätigen Frauen, auf die systematische Nicht- bzw. Geringentlohnung der Care Economy oder die Defizite im Geschlechterverhältnis auch autochthoner bildungsbürgerlicher Schichten in Deutschland - ein Land, in dem der geringe Anteil weiblicher Akademikerinnen auf den Lehrstühlen Bände spricht. Sarrazins »Feminismus«, der die muslimischen Frauen vom Joch des Schleiers befreien will, kennt keine deutschen Anwältinnen, die mit Doppelbelastung durch Lohn- und Familienarbeit konfrontiert sind. Patriarchalische Strukturen scheinen ebenso exklusiv wie generell muslimischen Migrantenfamilien vorzugsweise aus der Türkei und dem Libanon vorbehalten - eine Differenzierung nach Bildungsstatus, politischer Zugehörigkeit und konkreter landesspezifischer Herkunft wird nicht vorgenommen. Übrig bleibt der verallgemeinerte Befund. Vermeintliche oder tatsächliche »Integrationsdefizite« werden ausschließlich den Betroffenen selbst angelastet: »Die mangelnde Integration liegt an den Attitüden der muslimischen Einwanderer.« (289; kursiv im Original) Dabei sei es »nicht der Migrationsstatus als solcher, der die ökonomischen Integrationsprobleme verursacht« (283), Inder und Vietnamesen seien erfolgreicher als Türken oder Araber. »Muslimische Migranten« (261) nennt Sarrazin Personen aus den Herkunftsgebieten Bosnien und Herzegowina, Türkei, Naher und Mittlerer Osten sowie Afrika. Wegen Unsicherheiten in der statistischen Zählweise des Mikrozensus liege deren Zahl nicht wie offiziell angegeben bei rund drei Millionen, sondern bei »rund 5,7 Millionen« (261). Die Anzahl könne aber »auch 6 bis 7 Millionen betragen« (262). Dass die Türkei in der Tradition des Kemalismus steht, iranische Einwanderer nicht notwendig Anhänger des islamischen Gottesstaats sein müssen - davon kein Wort. Im Gegensatz zu Italienern, Spaniern oder Polen gehe »von den muslimischen Migranten auch kaum einer in sein Heimatland zurück« (296). Die offiziellen Daten sprechen eine andere Sprache, wie Der Spiegel vermerkt: »Seit 2006 wandern mehr Türken aus Deutschland aus als nach Deutschland ein, allein im Jahr 2008 gut 8 000 Personen.« (36/2010) Und dass die »Attitüden« muslimischer Einwanderer in den USA vielfach andere sind - dort zählen die muslimischen Communities bei einem Bevölkerungsanteil von rund 2 Prozent mehrheitlich zur Mittelschicht -, stellt die Engführung zwischen Verhalten, Religionszugehörigkeit und Bildungsstand ebenfalls in Frage. Naika Foroutan hat vor diesem Hintergrund in der FAZ auf die »Outperformer iranischer, irakischer und afghanischer Herkunft« hingewiesen, »deren derzeitige (Fach-)Abiturquote mit fünfzig Prozent signifikant über derjenigen der Gesamtbevölkerung liegt« (15.9.2010). Umstritten ist auch der Hinweis, wonach gerade muslimische Familien exorbitant hohen Nachwuchs haben. Die Universität Rostock legte dazu jüngst eine Studie vor, wonach sich die Geburtenziffern der Frauen mit türkischem Migrationshintergrund denen der deutschen Frauen angleichen. - Diese Zahlen werfen ein anderes Licht auf den Sachverhalt und ermöglichen eine Perspektive für nicht-apokalyptische Deutungen, bedienen aber weniger Ressentiments.

Während muslimische Einwanderer als Problemklientel gelten, hebt Sarrazin die durchschnittlich »höhere Intelligenz der Juden« (95) hervor, die er mit dem »außerordentlichen Selektionsdruck« (95) erklärt.[3] Dass die Mendelschen Gesetze hier plötzlich keine Rolle mehr spielen, sondern kulturelle Bedingungsfaktoren betont werden, problematisiert Sarrazin nicht. Beeindruckt zeigt er sich vom (behaupteten) Intelligenzvorsprung europäischer Juden, denen in Nordamerika auch heute noch ein »IQ von durchschnittlich 115« (96) attestiert würde. Als Quelle gibt er vor allem The Bell Curve von Richard Herrnstein und Charles Murray an (419, Fn. 74). Das Buch führte Mitte der 1990er zu heftigen Debatten in den USA, da die deklarierte niedrigere Intelligenz von Afro-Amerikanern ebenfalls erbbiologisch begründet wurde. Armin Nassehi hat darauf hingewiesen, dass sich das Buch heute wie eine »Blaupause zu Sarrazins Thesen« lese (FAZ, 13.10.2010). Während aber die Fachdiskussion seit den 90ern die »strikte Gegenüberstellung von Anlage und Umwelt, von Natur und Kultur« (ebd.) hinter sich gelassen habe, arbeite Sarrazin nach wie vor mit diesen anachronistischen Dichotomien.

Hinzu kommt der permanente Rekurs auf interessegeleitet interpretierte Daten. Fälschung, Lüge, Statistik - Reiner Klingholz, Direktor des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, hat laut SZ in einer Studie vermerkt, dass Sarrazins Zahlenangaben statistisch vielfach nicht belegbar seien. Von der SZ auf diesen Vorwurf angesprochen, erwiderte Sarrazin in aller Klarheit, wenn man keine Zahl habe, so müsse »man eine schöpfen, die in die richtige Richtung weist, und wenn sie keiner widerlegen kann, dann setze ich mich mit meiner Schätzung durch« (Klein 2010, 3).

Sarrazins methodisch begründete Willkür ist typisch für das scheinwissenschaftliche Verfahren: Die falschen empirischen Angaben werden solange wiederholt, bis sie sich durchsetzen - und Politik sowie eine empörungswillige Öffentlichkeit auf die »erfundene Realität« reagieren. Es handelt sich also nicht um einen bloßen Zahlenfetisch, sondern um eine taktische Festlegung; wohl wissend, dass auch kreativ »geschöpfte« Daten eine immense politische Relevanz haben können, wenn diese geschickt platziert werden.

Krise der Repräsentation und Kampf um die Gleichheit

Sarrazin schreibt die Geschichte der Migration von Muslimen nach Deutschland primär als Skandalgeschichte; das mag einen Teil seines Erfolges ausmachen. Von entscheidender Bedeutung für den »Fall Sarrazin« ist aber die neo-eugenische Stoßrichtung der Argumentation, die Teilen des deutschen Bürgertums die Weihen des Höheren verleiht. Für Angehörige der Unterklassen schlägt Sarrazin hingegen einen Arbeitsdienst vor: »jeder Arbeitsfähige muss sich an gesetzlichen Arbeitstagen zur festgesetzten Uhrzeit dort einfinden, wo er eingeteilt ist« (327f). Für Migranten ohne genügende Deutschkenntnisse sind statt »gemeinnütziger Arbeit« Sprachkurse vorgesehen (ebd.).

Die Analyse, wonach Sarrazin Vorbote einer neuen Rechtspartei sei, ist vor diesem Hintergrund unzureichend. Sein klischeehafter, auf Nobelpreisträger und Hochbegabte fixierter Philosemitismus wäre für die NPD kaum anschlussfähig. Seine Kritik »des Islam« beruft sich auf die Werte der Aufklärung, wobei »Gleichheit« hier der blinde Fleck ist. Zudem ist Sarrazin Anwalt der Professoren, nicht der Plebejer; damit fällt er als Bündnispartner jener extremen Rechten aus, die - wie die NPD in den neuen Bundesländern - mit sozialer Demagogie gegen »die da oben« agitieren. Zum »organischen Intellektuellen« einer »neuen Rechtspartei« taugt Sarrazin nur, indem deren potenzielle Protagonisten sich aus dem reichhaltigen Arsenal seiner Argumente und Affekte bedienen können. Für Bezieher von Arbeitslosengeld II hält sein politisches Programm - divide et impera - nur die Frontstellung gegen »unproduktive« muslimische Migranten bereit. Und für enttäuschte konservative Christdemokraten käme sein Szenario einer flächendeckenden Einführung der Ganztagsschulen einer Totalverstaatlichung der Kinderbetten gleich. Das Programm einer neuen Rechtspartei bleibt unter diesen Voraussetzungen ein Phantom. Es ist zudem kein Zufall, dass die leidenschaftlichsten Verteidiger seiner Positionen nicht in der NPD organisiert sind, die Sarrazin aus taktischen Gründen den Posten des Ausländerbeauftragten angeboten hat. Deutlichen Zuspruch findet er bei Liberalen, die wie Henryk M. Broder voller Spott über die Unterschicht schreiben.

Sarrazins Kritiker in den sogenannten Volksparteien handelten hingegen vielfach aus strategischen Motiven. Dass Politiker wie Christian Wulff oder Angela Merkel ohne gründliche Textkenntnis und im Wissen um die beruflichen Konsequenzen für den Verfasser faktisch Rücktrittsforderungen stellten, machte ihre Kritik angreifbar. Zudem reagierte dieser Teil der politischen Klasse gemäß einer durchsichtigen Taktik des situativen Opportunismus. Nachdem Angela Merkel sich zunächst distanziert hatte, unterstützte sie später - nachdem klar wurde, wie stark der Zuspruch für Sarrazins Positionen ist - den CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer und dessen Forderungen nach einer deutschen »Leitkultur« sowie einer Verschärfung der »Integrations politik«.

Die Verteidigung Sarrazins durch prominente Intellektuelle zeigte auch, dass Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit kaum Einwände gegen eine erbbiologische Grundlegung der Bildungspolitik haben bzw. diese nicht als besondere Problemdimension erfassen. Nachdrücklich illustriert dies die Intervention des prominenten Sozialhistorikers Hans-Ulrich Wehler. Auch er kritisiert zunächst Sarrazins Positionen zur erbbiologischen Festlegung von Intelligenz (Die Zeit 41/2010). Dann aber hebt er »lobende Kritikpunkte« im »Reformplädoyer eines geradezu leidenschaftlichen Sozialdemokraten« hervor, etwa die Kapitel zur sozialen Ungleichheit und Bildung. Doch wenn Intelligenz, wie Sarrazin betont, gemäß der Mendelschen Gesetze in hohem Maße festgelegt wird - ist dann »soziale Ungleichheit« nicht ein fast naturwüchsiger Prozess? Wird die von Sarrazin nachdrücklich geforderte Ganztagsschule nicht zur bloßen Verwahranstalt? Würden Sarrazins Grundannahmen stimmen, wären auch die von Wehler unterstützten Bildungsreformen der 1970er Jahre zum Scheitern verurteilt gewesen. Jürgen Kaube schrieb in der FAZ über Wehlers Kommentar voller Pathos: »Es ist nicht untertrieben zu sagen, dass dieser Beitrag der Debatte eine völlig neue Wendung gibt. Sie wird die SPD in fast unlösbare Argumentationsschwierigkeiten bringen - von den nicht-lesenden Verfassungsorganen ganz zu schweigen.« (FAZ, 8.10.2010) Dass Wehler aber durch die emphatische Unterstützung Sarrazins sein entwicklungsoptimistisches Modell von Bildungsreform dementiert, übersieht Kaube.

Der Beststeller als Krisensymptom

Der Erfolg des Buchs ist nicht nur Ergebnis seiner medialen Inszenierung, er ist Resultat einer in den Leserbriefspalten und Internetforen vielfach artikulierten Abwehrhaltung: »Dem Islam« wird abgesprochen, Teil der westeuropäischen Kultur werden zu können. Der demographische Wandel, die zunehmende Präsenz von Migranten im öffentlichen Leben (die in der BRD verglichen etwa mit Großbritannien oder Frankreich immer noch marginal vertreten sind) sorgt hier für weitere Unruhe.

Es ist frappierend, dass der »Fall Sarrazin« mit der Verkündigung der Berliner Sparpolitik zusammenfiel: Während breite Bevölkerungsteile eine Politik der Zumutungen verordnet bekommt, debattiert die Öffentlichkeit über integrationswillige Ausländer. Im »muslimischen Migranten« (oder in den Diskursen über »gierige Banker« oder der Polemik der Bild gegen die »Pleite-Griechen«) findet das Alltagsbewusstsein einen konkreten Fluchtpunkt für die Komplexitätsreduktion. Kampagnen wie die des Springer-Verlags - der Sarrazins Positionen ein auflagenstarkes Forum bot - zeigen, dass diese Stimmungen auch bewusst gelenkt werden sollen. Denn obwohl Migranten zusätzlichen Vorschriften wie dem Deutschenprimat auf dem Arbeitsmarkt unterliegen, scheinen diese mehrheitlich als Konkurrenten, als »Fremdarbeiter« mit vermeintlich mehr Rechten, als dem autochthonen Teil der Bevölkerung zugestanden wird. Es scheint von Teilen der Unterklassen bis zu Teilen der Elite common sense zu sein, dass »Migranten« ein »Außen« der Gesellschaft darstellen, auf das in Krisensituationen der Unmut gelenkt wird.

Verkannt werden dabei elementare sozio-ökonomische Zusammenhänge: Einwanderungspolitik war immer an den Arbeitsmarkt gekoppelt. Noch Mitte der 1980er Jahre wurde Migranten sogenannte »Rückkehrprämien« ausgezahlt. Und gerade türkische Einwanderer wurden in jenem Bereich der industriellen Gesellschaft eingesetzt, in welchem der Anteil der lebendigen Arbeit durch Automation dramatisch verringert wurde: Fabriken und Werften entlassen massenhaft Arbeiter, Zechen wurden geschlossen. Vor 15 Jahren hatten Ausländer ein doppelt höheres Risiko, arbeitslos zu werden, als die Deutschen - heute ist es fast dreimal so hoch. Zudem produziert die Automation ganze Bevölkerungsteile, die - wie Sarrazin sagte - »ökonomisch nicht gebraucht werden« (2009, 198). In der Betonung von Verhaltensdefiziten liegt eine Entlastungsfunktion für staatliche Politik: Die »Überschussbevölkerung« erscheint so nicht als Konsequenz der Automatisierungsprozesse der hochtechnologischen Produktionsweise des transnationalen High-Tech-Kapitalismus. Der Ausschluss der modernen Unterklassen erscheint vielmehr als logische Folge selbstverschuldeter subjektiver Defizite.

Die Reaktionen im »Fall Sarrazin« zeigen: Teile der »bürgerlichen Mitte« verdrängen ihre eigene Krisenerfahrung; Abstiegsängste, unsichere Rentenerwartung und demographischer Wandel beflügeln eine »Panik im Mittelstand« (Theodor Geiger). Diese Sozialmilieus suchen nach stabilisierenden Interpretationsangeboten. Hier liegt der Kern der Zustimmung für Sarrazins Thesen: Massenentlassungen bei Rekordgewinnen stellen die soziale Selbstverortung als »Mitte« und ihre Leistungsideologie in Frage. Unter den Bedingungen der Krise folgt auf die hohe Motivation der Subjekte die immense Enttäuschung. Sarrazins Bestseller bietet hier ein Interpretationsangebot. Gerade Langzeitarbeitslose und muslimische Migranten erscheinen als durch die Fehlsteuerung des Sozialstaats und Konsequenzen der deutschen Ausländerpolitik (Familiennachzug etc.) begünstigte Problemklientel, die der Leistungsideologie willentlich nicht folgen wollen. Die Migrationspolitik erscheint als Policy-Feld, in dem bewusste Gegensteuerung noch möglich ist, während die Systemimperative der politischen Ökonomie des Kapitalismus den parlamentarischen Entscheidungsräumen starre Grenzen setzen. Dies zeugt von einer eigentümlichen Dialektik: Die von staatlicher Seite bewusst forcierte Förderung der Finanzmärkte führte seit 2008 zu einer rein reaktiven Handlungslogik, von der auch führende bürgerliche Politiker mit Unbehagen berichten. Christdemokrat Wolfgang Bosbach bemerkte: »Wenn wir nur noch alle paar Wochen zusammenkommen, um angeblich alternativlose Rettungspakete durchzuwinken, dann kann man das Parlament auch auflösen.« (Kölner Stadt-Anzeiger, 12.5.2010) In der Einwanderungspolitik hingegen wollen die Parteien Handlungsfähigkeit nicht nur simulieren, zumal Migranten im Gegensatz zu Derivaten kein undurchsichtiges Abstraktum sind, die (unterstellte) Problemdimension mangelnder Integrationsbereitschaft also sinnlich erfahrbar scheint.

»Sprechverbote« und Diskursverschiebungen

Was folgt aus dem »Fall Sarrazin«? Die Behauptung, es gebe in Deutschland »Opfer eines Tugendterrors, der in Universitäten, Redaktionen und Antidiskriminierungsämtern ausgebrütet wird« (Bolz in Focus 37/2010), ist keine bloß taktisch motivierte Dramatisierung eines ideosynkratischen Medien-Intellektuellen mit besonderem Gespür für Tendenzwenden und Meinungskonjunkturen, sondern - wie die Zahlenwillkür des kreativen Buchhalters Sarrazin - eine ideologische Verkehrung. Kaum eine andere Person des öffentlichen Lebens hat derart exzessiv von seiner Meinungsfreiheit Gebrauch machen können wie Sarrazin. Der Verdacht, man dürfe in Deutschland bestimmte »Tabus« nicht offen ansprechen, wurde zwar von der Berliner Politik genährt. Tatsächlich aber geht es um die Frage, inwieweit Repräsentanten staatlicher Ämter und Parteien diskriminierende Positionen formulieren dürfen. Eine Partei, deren Ex-Kanzler der Sohn einer Putzkraft ist, hätte großen Erklärungsbedarf, der eigenen Klientel zu erläutern, dass Intelligenz weitgehend erbbiologisch festgelegt sei. Und wie würde der Vorstand der us-amerikanischen Federal Reserve reagieren, wenn ein Repräsentant ihres Hauses über afro-amerikanische welfare queens mit den Worten spotten würde, diese würden nur ständig »kleine kraushaarige Kinder produzieren«?

Gekämpft wird gegen ein Phantom. In Deutschland war political correctness immer ein Kampfbegriff von rechts. Sarrazin beklagte schon im Lettre-Interview - das ihn bereits im Herbst 2009 auf die Titelseiten aller Medien brachte! -, man stoße in Deutschland an die »Mauern der politischen Korrektheit« (2009, 199). Gerade Intellektuelle mit Zugang zu sämtlichen hegemonialen Medien wie Norbert Bolz inszenieren sich als Angehörige einer verfemten Minderheit, die im Kampf gegen die sozialstaatlich flankierte Herrschaft der Minderwertigen Kritik als Tugendterror zurückweisen. Doch was zeigt ein Blick auf die Präsenz prominenter Kritiker der politischen Korrektheit wie den preisgekrönten Polemiker Henryk M. Broder, den Professor Norbert Bolz oder eben Sarrazin? - Leben diese Medien-Intellektuellen im Untergrund? Verbreiten sie ihre Meinungen durch illegale Kassiber oder in zensierten Zirkularen? Halten sie ihre Vorträge hinter verschlossenen Türen, wie weiland marxistische Akademiker im Spanien der Franco-Zeit? Atemberaubend ist die Diskrepanz zwischen Medienpräsenz, beruflicher Anerkennung und Honorarspiegel dieser Publizisten und Professoren und deren Selbststilisierung als Opfer der neuen »Jakobiner« (Bolz) in Feuilletons und Universitäten.

Das Ziel dieser ideologischen Desartikulation ist klar: die eigene Position soll als die eines Dissidenten in der Bundesrepublik erscheinen. Konformistische Rebellen, für die Sarrazin zur Leitfigur geworden ist, spekulieren durch ihre Selbstinszenierung auf den Mehrwert des ansonsten so verspotteten Opferstatus - und den Beifall derjenigen, die voller Ressentiment auf die moderne Einwanderungsgesellschaft blicken oder reale Problemlagen kulturalistisch deuten.

Durch Interventionen wie Deutschland schafft sich ab sollen die diskursiven Grenzen der politischen Kultur verschoben werden. Die Durchsetzung einer elitären Ideologie der Ungleichheit erfolgt unter dem Banner der Meinungsfreiheit, während die Kritik daran als »Jakobinerterror« denunziert wird. Diese emphatische Verteidigung der »Meinungsfreiheit« trägt repressive Züge, weil sie den Widerspruch als totalitär denunziert. Die wiederholte Verschärfung des Tonfalls in der Migrationsdebatte und die Ankündigung neuer Sanktionsmaßnahmen durch Politiker wie Sigmar Gabriel oder Horst Seehofer illustrieren dabei die Wirkungsmechanismen und Erfolge der Intervention. Dominant sind die Versuche, durch eine »Politik des Forderns« jene »großen Massen« zurückzugewinnen, die »sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben«. Die darin deutlich werdende »organische Krise« (Gramsci) zeigt, dass das »Neue« - welches nicht zuletzt die modernisierte Wiederkehr der alten eugenischen Bevölkerungspolitik wäre - vielleicht mehr ist als der Lärm eines Rückzugsgefechts der Konservativen und Rechtsliberalen, die eine stärkere Repräsentation gerade von muslimischen Migranten im öffentlichen Leben ablehnen. Trotz der anfänglichen Zurückweisung von Sarrazins Positionen bestimmen Forderungen nach einer Verschärfung von Integrationszumutungen den Diskurs. Jene Teile des Publikums, die sich zu Beginn der Debatte von den sogenannten Volksparteien abgewendet haben, sollen so wieder eingebunden werden. Ob dies nach der manifest werdenden Krise der Repräsentation wieder gelingt oder die wahlpolitische Apathie bzw. Fragmentierung des Parteienspektrums weiter zunimmt, ist keine tagespolitische Frage. Es ist ein zentrales Thema künftiger Debatten über politisch-kulturelle Hegemonie. Der vorzeitige Rückzug aus dem Amt des Vorstands der Deutschen Bundesbank ist keinesfalls das Schlusswort im »Fall Sarrazin«. Faktisch erlangte dieser einen vorläufigen Sieg, fungiert er doch als einflussreicher medialer Stichwortgeber der »Integrationsdebatte«.

Literatur

Bolz, Norbert, »Die politische Rechte steht für Bürgerlichkeit«, in: Der Tagesspiegel, 13.8.2010

Klein, Stefan, »Zartbitter«, in: Süddeutsche Zeitung, 1.3.2010, 3

Sarrazin, Thilo, »Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistungsempfänger zur Metropole der Eliten«, in: Lettre International 86, 2009, 197-201

ders., Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010

Schirrmacher, Frank, »Thilo Sarrazin: Die Zustimmung beunruhigt mich etwas«, in: FAZ, 1.10.2010, 33f

Die Printversion ist erschienen in:
Das Argument 289 (6/2010), »Die Stadt in der Revolte«



[1] »Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr ›führend‹, sondern einzig ›herrschend‹ ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, dass die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.« (Gramsci, Gef, H. 3, §34, 354)

[2] Vielfach ist argumentiert worden, dass diese Prozentrechnungen die Spezifik menschlicher Lernfähigkeit insgesamt verfehlen. Den Menschen kommt - als Gattung - die potenzielle Kompetenz zu, den gesellschaftlichen Stand von Wissen und Fähigkeiten anzueignen. Individuelle Unterschiede in dieser Aneignung können nicht plausibel durch genetische Disposition erklärt werden. Vgl. R.C. Lewontin, S. Rose u. L. Kamin, Biology, Ideology and Human Nature: Not In Our Genes (1984); Gisela Ulmann, Angeboren - Anerzogen? Antworten auf eine falsch gestellte Frage, Argument-Sonderband 175 (1991), 113-38; Klaus Holzkamp, »›Hochbegabung‹. Wissenschaftlich verantwortbares Konzept oder Alltagsvorstellung?«, in: Forum Kritische Psychologie 29 (1992), 5-22.

[3] Im Lettre-Interview sagte Sarrazin: »Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate. Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung.« (2009, 199)