„Wir sind den Diktator losgeworden, aber nicht die Diktatur"

Repression im (nach)-revolutionären Ägypten

Am 7. März 2011, wenige Wochen nach der Abdankung des ägyptischen Diktators Hosni Mubarak, schrieb Maikel Nabil Sanad diesen Satz in einem ausführlichen Artikel auf seinem Blog1. In diesem Artikel analysierte er detailliert die Rolle des ägyptischen Militärs während und nach der Revolution und kam zu dem Schluss, dass das Volk und die Armee niemals „eine Hand waren" - wie es während der Revolution so oft hieß.

Maikel hatte daran immer seine Zweifel. So beschrieb er z.B., wie am 28. Januar 2011, als die Polizei auf die hunderttausende DemonstrantInnen im Tahrir-Platz schoss, das Militär die Po­lizei immer dann mit Nachschub an Munition versorgte, wenn diese verschossen war. Dies zeugt nicht gerade von Neutralität. Und auch Amnesty International berichtete, dass während der Revolution Akti­vistInnen vom Militär festgenommen und gefoltert wurden2. Auch Maikel Nabil Sanad wurde am 4. Februar von Soldaten festgenommen und gefoltert, kam aber nach 27 Stunden wie­der frei (siehe GWR 357, März 2011).

 

Die Fragwürdigkeit der Rolle des Militärs lässt sich aber auch an den Personen festmachen. So ist Mubaraks Vertei­digungsminister Muhammad Tantawi jetzt als Vorsitzender des „Supreme Council of the Armed Forces" Ägyptens de-facto Machthaber.

In den US-Dokumenten, die Wi­kileaks zugespielt wurden, beschreibt der US-Botschafter in Ägypten Tantawi als „in erster Linie um die nationale Einheit besorgt" und er „befürchte, Re­formen könnten politische und religiöse Gräben in der Gesellschaft vertiefen".

Es hieß, der Verteidigungsmi­nister habe sich stets gegen politische Änderungen gesperrt, weil er befürchtete, die Regierung könnte dadurch an Macht einbüßen3. Bezeichnend dafür ist auch, dass Tantawis Spitzname unter Mubarak „Mubaraks Pudel" war.

Das Militär ist in Ägypten ebenfalls ein wichtiger Wirt­schaftsfaktor. Viele Unternehmen, besonders solche im Wasser- und Olivenölgeschäft, in der Zement- und Bauindustrie oder im Tourismus, befinden sich in den Händen pensionier­ter Generäle. Und diese sollen nun die Revolution voranbrin­gen?

Repression nach der Revolution

Maikel Nabil Sanad beschreibt in seinem Bericht, dass die Armee schon kurz nach der Resignation das Ziel verfolgte, den Tahrir-Platz von Demonstran­tInnen zu befreien. Zunächst verbot das Militär am 12. Februar das Fotografieren am Tah­rir-Platz, wohl um leichtere Handhabe gegen Personen zu haben, die die Übergriffe des Militärs festhalten wollten.

In den folgenden Wochen kam es wiederholt zu gewaltsamen Angriffen der Polizei auf De­monstrantInnen, die auf dem Tahrir-Platz aushielten. Und am 9. März wurde der Tahrir-Platz nach einer Demonstration gegen die Vorschläge zur Verfas­sungsreform ebenfalls gewaltsam geräumt. Mehr als 190 Personen wurden vom Militär festgenommen und teilweise im na­he gelegenen ägyptischen Mu­seum oder in Militärgefängnissen gefoltert. Die Zeit berichtete, dass Schlägertrupps die Protestierenden unter den Augen des Militärs brutal verprügelten4.

Sie quälten mich mit Elektro­schockern an Beinen und Brüsten und sprachen mich mit obszönen Namen" an, berichtete die Aktivistin Salma al-Hus­seini Guda. In dem Militärgefängnis, in das sie gebracht wurde, mussten sich die weiblichen Gefangenen nackt ausziehen und eine Untersuchung ihrer „Jungfräulichkeit" über sich ergehen lassen. Wer als nicht unberührt eingeordnet wurde, dem wurde eine Anzeige wegen Prostitution angedroht. Während dieser Erniedrigungen seien die Opfer gefilmt worden5.

Ende März schließlich verabschiedete die Übergangsregie­rung ein neues Gesetz, das jede Art von Protest verbietet, wenn er das reibungslose Funktionieren von Institutionen oder der Wirtschaft beeinträchtigt.

Das Gesetz war keine vier Stunden alt, da wandte das Militär es bereits an und räumte die Besetzung der Kairoer Universität. Die Studierenden hatten mit Streiks die Absetzung der Dekane und Professoren gefordert, die vom alten Regime eingesetzt worden waren6.

Die Menschenrechtsorganisa­tion Human Rights Watch berichtet, dass General Etman, der Chef der Abteilung für moralische Angelegenheiten des Su­preme Council of the Armed Forces, am 22. März einen Brief an ägyptische Zeitungen schic­kte, in dem er diese anwies, „keine Artikel/Nachrichten/Presseerklärungen/Beschwerden/Anzeigen/Fotos mit Bezug zur Armee oder der Führung der Armee zu veröffentlichen, es sei denn nach Konsultation mit der Abteilung für moralische Angelegenheiten und dem militärischen Geheimdienst, da dies die kompetenten Organisationen für die Bewertung solcher Angelegenheiten sind, um die Sicherheit der Nation zu schützen".7

Eine weitere Eskalation folgte am 8. April. Es war die größte Demonstration seit der Abdankung Mubaraks, und die De­monstrantInnen forderten nicht nur, dass Mubarak vor Gericht gestellt werden soll, sowie dass die von ihm eingesetzten Pro­vinzgouverneure abgelöst werden sollten, sondern viele der DemonstrantInnen forderten ebenfalls den Abgang Tanta­wis sowie eine zivile Übergangsregierung.

In der Nacht vom 8. auf den 9. April stürmte das Militär erneut den Tahrir-Platz. Mindestens zwei Menschen wurden dabei erschossen, zahlreiche verletzt8. Am nächsten Tag wurde der symbolträchtige Platz erneut besetzt, doch am 12. April wie­derum geräumt. Und wieder wa­ren es Schlägertrupps, die das Militär dabei unterstützten und Menschen an das Militär auslieferten9. In den Straßen in der Nähe des Tahrir-Platzes wurden in den folgenden Stunden oft wahllos Menschen festgenommen10. Auch wenn Hosni Mubarak und seine Sohne am 13. April in Untersuchungshaft genommen wurden11, so kann dies nicht darüber hinweg täuschen, dass das Militär wenig Interesse an einem radikalen Wandel hat.

Der Fall Maikel Nabil Sanad

Vor diesem Hintergrund ist die Festnahme und Verurteilung des pazifistischen Bloggers und Kriegsdienstverweigerers Maikel Nabil Sanads zu drei Jahren Haft wegen „Beleidigung des Militärs" von besonderer Bedeutung. „Die Verurteilung Maikel Nabils ist eine klare Botschaft der Armee, dass jeder Zivilist, der sich negativ über das Militär äußert, verhaftet wird", sagt Adel Ramadan, Anwalt in der ägyptischen Initiative für Persönlich­keitsrechte, die Teil des Vertei­digungsteams des Bloggers war12.

Maikel wurde am 28. März von Militärpolizei in seiner Wohnung festgenommen, und zu­nächst wurde seine Inhaftierung für 15 Tage angeordnet, während ihm der Prozess gemacht wurde. Als Prozessbeo­bachter der War Resisters‘ International flog der Autor dieses Artikels am 2. April nach Kairo, doch wurde nicht nur ihm, sondern auch Maikels FreundInnen und Unterstüt­zerInnen die Teilnahme an den Verhandlungen im Militärgericht in Nasr City in Kairo verweigert. Auch wenn der Prozess fast zwei Wochen dauerte - normalerweise dauern Prozesse vor dem Militärgericht nur wenige Minuten - so kann trotzdem nicht von einem fairen Prozess gesprochen werden. Erstens fand der Prozess meist unter Ausschluss der interessierten Öffentlichkeit statt. Zweitens hatten Maikel und sein Verteidigungsteam kaum Zeit, eine effektive Verteidigung vorzubereiten. Drittens hätte Maikel als Zivilist nicht vor ein Militärgericht gestellt werden dürfen. Unerhört waren jedoch die Um­stände der Verurteilung selbst. Seiner Familie und den Anwäl­tInnen wurde am 10. April mitgeteilt, dass die Urteilsverkün­dung auf den 12. April vertagt wäre. Nachdem sie den Gerichtssaal verlassen hatten, wurde Maikel dann aber - in Abwesenheit seiner Familie und seiner AnwältInnen - zu drei Jahren Haft verurteilt. Nur über den Anruf einer anderen Person, die ihren ebenfalls inhaftierten Bruder im Gefängnis besuchte, erfuhr Maikels Familie von der Verurteilung. Doch selbst dann noch wurden sie weiter belogen. Ihnen wurde am nächsten Tag gesagt, dass Maikel ins Gefängnis von Toura gebracht worden sei. Ein ihn bewachender Soldat erlaubte ihm jedoch - heimlich - über sein Handy seinen Bruder anzurufen und ihm mitzuteilen, dass er sich im Gefängnis von El-Marg befindet. In einer Nachricht, die er aus dem Gefängnis schmuggeln konnte, teilte er seinen Freun­dInnen mit, dass er festgenommen wurde, um ihn zum Schweigen zu bringen. Und in einem herausgeschmuggelten Artikel schreibt er: „Ich spüre den Willen, mir nach der Verurteilung Schaden zuzufügen. Glaubt den wertlosen Behauptungen der Armee über Selbstmordversuche nicht. Der Military Council ist für meine Sicherheit und mein Wohlergehen bis zu meiner Freilassung verantwortlich."13

Nach der Revolution ist vor der Revolution

Die Ereignisse der letzten Wochen und seine eigene Festnahme und Verurteilung bestätigen, was Maikel in seinem Blog und auf seiner Facebook-Seite schrieb: dass die Revolution es bisher nicht geschafft hat, die Diktatur selbst zu beseitigen.

Die nächsten Tage und Wochen werden für die Zukunft der ägyptischen Revolution von besonderer Bedeutung sein. Es geht um die Frage, ob es dem Militär und den Kräften des alten Regimes gelingt, den Wandel - oder so wenig davon wie möglich - zu kontrollieren und zu manipulieren, oder ob es den Menschen Ägyptens, denen es - motiviert durch die Revolution in Tunesien - gelungen ist, Mubarak zum Abdanken zu zwingen, gelingen wird, die Macht des Militärs in die Schranken zu weisen.

Die Revolution ist bisher noch nicht erfolgreich - aber sie ist auch noch nicht gescheitert.

Doch die jetzige Phase der Revolution ist wesentlich komplizierter, und es stellt sich für die ägyptischen RevolutionärIn­nen die Frage, wie sie mit relativ schwach ausgeprägten Organisations- und Entschei­dungsstrukturen diese schwierige Phase der Revolution meistern können. Für uns ist es wichtig, jetzt nicht die Aufmerksamkeit zu verlieren, sondern in dieser schwierigen Phase die ägyptische Revolution mit internationalem Druck zu unterstützen. Eine Kampagne für die Freilassung von Maikel Nabil Sanad ist dafür ein gutes Mittel14.

Andreas Speck

Weitere Infos: http://www.graswurzel.net/news/sanad2.shtml

Andreas Speck war GWR-Koordinationsredak­teur und ist seit 1999 Mitarbeiter im Londoner Büro der War Resisters‘ International. Kairo besuchte er vom 2.-7. April.

Anmerkungen:

1 Eine überarbeitete englische Version des Artikels findet sich auf der Webseite der War Resis­ters' International unter http://wri-irg.org/node/12484. Eine deutsche Übersetzung ist in Arbeit

2 Amnesty International: Ägypten: Militär muss Folter endlich stoppen, www.amnesty.de/presse/2011/2/17/aegypten-militaer-muss-endlich-folter-stoppen, Zugriff am 13.4.2011

3 Tagesanzeiger: Der falsche Mann für ein modernes Ägypten, 16.2.2011, www.tagesanzeiger.ch/ausland/naher-osten-und-afrika/Der-falsche-Mann-fuer-ein-modernes-gypten/story/22268323

4 Die Zeit: Foltervorwürfe gegen Ägyptens Armee, 29.3.2011, www.zeit.de/politik/ausland/2011-03/aegypten-proteste-folter, Zugriff am 13. April 2011

5 N-TV: Ägyptens Revolution schlägt ihre Kinder, 16. März 2011, www.n-tv.de/politik/Demonstranten-Militaer-foltert-article2862156.html, Zugriff am 13. April 2011

6 taz: Das Ende der Küsse, 2. April 2011, http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=tz&dig=2011/04/02/a0024&cHash=697f0b5b1b, Zugriff am 13. April 2011

7 Human Rights Watch: Egypt: Blogger's 3-Year Sentence a Blow to Free Speech, 11. April 2011, www.hrw.org/en/news/2011/04/11/egypt-blogger-s-3-year-sentence-blow-free-speech, Zugriff am 13. April 2011

8 FAZ: Tote auf dem Tahrir-Platz, 9. April 2011, www.faz.net/s/Rub87AD10DD0AE246EF840 F23C9CBCBED2C/Doc~E7659B27821214D27878381BF70095A42~ATpl~Ecommon~Scontent.html, Zugriff am 13. April 2011; siehe auch: Kristin Jankowski: Ich kann nicht verstehen, warum sie Patronen gegen uns einsetzen. Linke Zeitung, 12. April 2011, www.linkezeitung.de/cms/index.php? option=com_content&task=view&id=10897&Itemid=1, Zugriff am 13.4.2011

9 Private Nachricht von Augenzeugen aus Ägypten an den Autor

10 Kristine Jankoswki: „Gehe nicht nach draußen. Es werden willkürlich Leute in Downtown festgenommen", Linke Zeitung, 13.4.2011, www.linkezeitung.de/cms/index.php?option=com_content&task=view&id=10903&Itemid=1, Zugriff am 13.4.2011

11Die Welt: Ägyptens Jugend feiert die Verhaftung der Mubaraks, 13. April 2011, www.welt.de/politik/ausland/article13165359/Aegyptens-Jugend-feiert-die-Verhaftung-der-Mubaraks.html, Zugriff am 13. April 2011

12 ebenda

13 Maikel Nabil Sanad: Fleeing thoughts from the military prison, 12. April 2011, http://wri-irg.org/node/12764, Zugriff am 13.4.2011

14 Mehr Infos dazu (auf Englisch) unter http://wri-irg.org/node/12750. Link zur deutschen Version von Maikels Text: http://wri-irg.org/de/node/12815

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 359, Mai 2011, www.graswurzel.net