Japans 3/11

Der 11. März 2011, 3/11, ist für Japan, was 9/11 für Amerika war. In Zukunft, so ein politischer Kommentator, wird man die Geschichte Japans in die Zeit vor und nach diesem Beben einteilen.

Dabei scheint das Leben in den Regionen, die nicht von der doppelten Katastrophe des Tsunamis und des atomaren GAUs betroffen waren, zunehmend wieder seinen normalen Gang zu gehen. Die Kneipen sind wieder voll, und die Wäsche wird wieder zum Trocknen auf den Balkon gehängt, nachdem die Radioaktivität der Luft in Tokio etwas abgenommen hat. Nur die regelmäßig wiederkehrenden Erdbeben verstören die Menschen. Und dann brennen nach wie vor nicht alle Straßenlampen, ein Teil der Rolltreppen in den U-Bahnhöfen ist stillgelegt, und die Züge fahren in größeren Abständen. Der Grund: Man muss Strom sparen.

Das Selbstbewusstsein der japanischen Gesellschaft, in der Perfektion einen Stellenwert hat wie in keiner anderen hochentwickelten Gesellschaft, versinnbildlicht im Schnellzug „Shinkansen“, der im Fünf-Minuten-Takt und mit einer täglichen durchschnittlichen Verspätungsquote von unter einer Minute zwischen Tokio und Osaka verkehrt, hat einen gewaltigen Knacks bekommen. Im kommenden feuchtheißen Sommer werden der Strommangel und die daraus folgenden Einschränkungen im Leben der Japaner noch viel deutlicher zu spüren sein. Dann muss, in der Hochzeit des Klimaanlagengebrauchs, noch viel mehr Strom gespart werden. Tepco, Betreiber des Unglücksreaktors in Fukushima und alleiniger Stromversorger Tokios, geht davon aus, dann nur 46 der benötigten 55 Gigawatt Strom pro Tag liefern zu können. Große
Firmen haben Stromkürzungen bis zu 25 Prozent zu erwarten.[1] Die logische Konsequenz: Japans Wirtschaft droht eine Rezession.

Verfehlte Energiepolitik

Der Sommer wird auf fatale Weise zeigen, dass sich die ganze Region Tokio von einem einzigen Stromanbieter abhängig gemacht hat. Will die Politik nicht die Stromversorgung gefährden, muss sie Tepco am Leben erhalten – trotz der Entschädigungszahlungen, die auf den Konzern zukommen. „Too big to fail“ gilt eben auch hier.

Immer mehr wird deutlich, dass nicht, wie von Tepco behauptet, eine wirklich unvorhersehbare Katastrophe die Reaktoren von Fukushima 1 zerstört hat, sondern die Vorsorge des Konzerns gegenüber einem Tsunami völlig ungenügend war. Während das von einem anderen Stromproduzenten betriebene Atomkraftwerk Onagawa gegen neun Meter hohe Tsunamis geschützt ist, war Fukushima nur auf 5,4 Meter hohe Flutwellen ausgelegt. Tepco beruft sich bei seiner Risikoanalyse darauf, die Tsunamis bis ins 19. Jahrhundert berücksichtigt zu haben. Aber laut Ryohei Morimoto, einem emeritierten Vulkanologen, gab es 1611, 1896 und 1933 in derselben Gegend Tsunamis mit mehr als 20 Meter hohen Wellen.[2]

Im Jahr 2005 hatte der Erdbebenforscher Katsuhiko Ishibashi von der Universität Kobe vor einer Regierungskommission exakt den Verlauf der derzeitigen Atomkatastrophe von Fukushima vorausgesagt, allerdings für das Kernkraftwerk Hamaoka, das 200 Kilometer südlich von Tokio liegt und zudem noch direkt auf der Bruchlinie zweier tektonischer Platten gebaut ist. Eine nukleare Katastrophe dort würde, so Ishibashi, die Evakuierung Tokios erfordern, weil die Hauptstadt genau in der Hauptwindrichtung liege.[3]

Auch wenn hier kostengetriebene Ignoranz zu den an diesen Orten viel zu gefährlichen Atomkraftwerksbauten geführt hat: Das Beispiel des Kashiwazaki-Kariwa-AKWs in Niigata zeigt, dass in Japan aufgrund der geologischen Gegebenheiten prinzipiell jedes AKW hochgefährdet ist. Dort ereignete sich 2007 ein Erdbeben, das zu einem Transformatorenbrand und dem Ausfluss radioaktiv kontaminierten Wassers führte. Erst da bemerkte man, dass das Kernkraftwerk direkt auf einer Erdspalte steht, in der verschiedene tektonische Platten zusammenstoßen.[4]

In den 60er und 70er Jahren entschied sich das MITI – das legendäre Ministerium für Internationalen Handel und Industrie, das heute METI heißt – für die zunehmende Verwendung der Atomenergie. Die heimischen Kohlevorräte gingen zur Neige, und der Ölpreisschock von 1973 traf das fast völlig vom arabischen Öl abhängige Land hart. Dazu kommt, dass Japan aufgrund seiner insularen Lage keinen Strom aus dem Ausland beziehen kann, also auf absolut sichere Stromquellen angewiesen ist. Der Atomstrom schien eine solche stabile Versorgung durch die großen Stromerzeuger zu gewährleisten.

Doch einmal auf den Atomzug aufgesprungen, verhinderte die symbiotische Nähe von Kraftwerksindustrie, Politikern und MITI, dass über die Gefahren der Atomenergie gesprochen oder gar über Alternativen nachgedacht wurde. Manche sprechen daher auch von der Energiemafia, die hier bis heute am Werk ist. So verhinderten Tepco und MITI/METI die Entwicklung der Windenergie wie auch der Solarzellentechnologie. Zwar sind japanische Firmen Weltspitze in der Photovoltaik, aber die Stromkonzerne verhindern mit ihrer Preispolitik, dass diese Technologie in Japan Fuß fasst. Ähnlich verhält es sich mit der Geothermie, deren Ausbau, genau wie im Falle von Wasserkraftwerken, mit dem Argument des Landschaftschutzes verhindert wird.

Regierung in der Katastrophe

Immerhin hat gerade jetzt – ob zufällig oder auch nicht – der Maschinenbaukonzern Ishikawajima Heavy Industries spezielle Windkrafträder vorgestellt, die auf See installiert werden und den japanischen Verhältnissen angepasst sind. Taifune und die tiefe See um Japan erfordern andere Räder, als sie in Europa gebaut werden. Aus einem Artikel der der Atomindustrie ganz und gar nicht feindlich gesonnenen Wirtschaftszeitung „Nikkei“lässt sich schließen, dass Japans Industrie zu ihrer Fertigung längst in der Lage ist.[5] Was bisher fehlte, ist allein der politische Wille, einen anderen energiepolitischen Kurs einzuschlagen. Dabei hat die Entwicklung speziell im Westen bis heute eine Vorbildfunktion. Gelingt daher in Deutschland der baldige Ausstieg aus der Atomenergie, so kann das durchaus eine Signalwirkung für Japan haben.

Bei alledem darf man nicht vergessen, dass die japanische Regierung derzeit ganz nebenbei auch noch vollauf mit den verheerenden nichtatomaren Folgen des Erdbebens und des Tsunamis beschäftigt ist. Im Vergleich zum großen Erdbeben in Kobe von 1995 startete die Regierung ihre Katastrophenhilfe diesmal wesentlich schneller und ordnete sofort den Einsatz von 100000 Mann der japanischen Armee zur Katastrophenbewältigung an (wozu sie sich 1995 aus verfassungsrechtlichen Bedenken lange nicht entschließen konnte). Trotzdem fällt es auch diesmal sowohl der Regierung als auch untergeordneten Entscheidungsebenen schwer, notwendige Entscheidungen zügig zu treffen.

Hier zeigt sich: Japans Just-in-Time-Gesellschaft ist ein perfektes Räderwerk, aber es verträgt keine Störung. Erst nach einer Woche hatte man sich auf die doppelte Katastrophe eingestellt, wurden die Hilfs- und Aufräumarbeiten in den betroffenen Gebieten effektiver und systematischer vorangetrieben. Vor allem begann die Versorgung mit Lebensmitteln und Benzin wieder zu funktionieren. Insbesondere Letztere war in den ersten Tagen ein großes Handicap, weil sie die Voraussetzung für die Versorgung der ganzen Region ist: Da keine Züge mehr fahren – die Bahngleise an der Küste existieren ja vielerorts gar nicht mehr – sind Autos teilweise die einzigen Verkehrsmittel.

Obwohl die Wirkung des Tsunamis für das Leben der Menschen viel gravierender war und noch immer ist, war die Regierung in den ersten Tagen so sehr mit dem AKW Fukushima 1 beschäftigt, dass sie die Tsunamiopfer fast aus dem Blick verlor. Nachdem sich die Lage nun wenigstens etwas beruhigt hat, wird die Informationspolitik hinsichtlich der Reaktorkatastrophe zunehmend kritisch gesehen. Die erst am 12. April erfolgte Anhebung von Gefahrenstufe 5 auf 7 ist in der Tat schwer nachzuvollziehen. Laut Tepco emittierte der Großteil des ausgetretenen radioaktiven Materials schon in den ersten Tagen nach der Katastrophe, man hätte also umgehend die Gefahrenstufe 7 ausrufen müssen. Bis heute behauptet die atomare Überwachungsbehörde, die Menge des ausgetretenen Materials betrage nur zehn Prozent des in Tschernobyl emittierten radioaktiven Materials. Ausgerechnet der Atomkraftwerksbetreiber hält es dagegen für möglich, dass die radioaktiven Emissionen der vier Reaktoren am Ende höher sein könnten als in Tschernobyl. Fest steht jedenfalls, dass noch immer radioaktives Material emittiert und ins Meer abgelassen wird. Zudem sind die Betonpumpen, mit denen man die Reaktorkerne und Abklingbecken kühlt, allenfalls halbtaugliche Hilfsmittel – und bis heute ist nicht abzusehen, wann man zu einer weniger behelfsmäßigen Kühlung übergehen kann, damit die Temperaturen in Kühlbecken und Reaktorkernen endlich einen Stand erreichen, bei dem keine Gefahr neuer Brände oder einer Kernschmelze besteht.

Ebenfalls sehr spät, um nicht zu sagen viel zu spät, nämlich erst am 11. April, also genau einen Monat nach dem Unglück, entschloss sich die Regierung auch zur Ausweitung der Evakuierungszone von 20 Kilometer um das AKW auf eine Zone stark kontaminierter Ortschaften außerhalb dieser Zone. Dabei hatten etwa Greenpeace und die Internationale Atomenergiebehörde IAEA längst eine Ausweitung der Zone gefordert. Die von Greenpeace geforderten 40 Kilometer würden die Evakuierung mehrerer Städte erfordern, in denen sich auch wichtige Industriebetriebe befinden. Davor scheut die Regierung bis heute zurück, auch angesichts der durch den Tsunami schon jetzt hervorgerufenen 160000 Obdachlosen.

Parteienlandschaft paradox

Für die Demokratische Partei Japans (DJP) und die Regierung von Ministerpräsident Naoto Kan schien die Katastrophe des 11. März die Rettung seiner Regierung zu bedeuten. Bis dahin war die Opposition, die im Oberhaus die Mehrheit besitzt, nicht bereit, dem Haushalt 2011 zuzustimmen. Sie verlangte den Rücktritt des Ministerpräsidenten bzw. Neuwahlen. Unter dem Eindruck der Katastrophe signalisierte die oppositionelle Liberaldemokratische Partei (LDP) aber Kooperationsbereitschaft. Dazu drohte der DPJ eine Parteispaltung, weil Kan und die Parteiführung die Mitgliedschaft des ehemaligen Vorsitzenden Ichiro Ozawas bis zur gerichtlichen Klärung seiner fragwürdigen Finanzgeschäfte ausgesetzt hatte.

Auf dem Höhepunkt der Krise stieg die Zustimmung zur Regierung um 8,4 auf 28,3 Prozent. Bei den Gouverneurs- und Regionalparlamentswahlen am 10. April aber erlitt die DPJ hohe Stimmenverluste. Eine neue Wählerumfrage der Nachrichtenagentur Kyodo ergab gar, dass die DPJ im Falle einer Parlamentswahl auf 16 Prozent abstürzen würde, wogegen die LDP auf 31 Prozent der Stimmen käme.

Das sehen Ozawa und der LDP-Vorsitzende Tanigaki als Chance, den Ministerpräsidenten doch noch stürzen zu können. Statt sich um die Bewältigung der größten Katastrophe zu bemühen, die das Land seit dem Zweiten Weltkrieg getroffen hat, nimmt die LDP den Parteienstreit wieder auf, und Ozawa ergeht sich im Hahnenkampf mit Ministerpräsident Kan.

Angesichts dessen hofft eine Reihe von Beobachtern der japanischen Politik, dass die gegenwärtige Notsituation zu einer Neuformierung der Parteienlandschaft führen wird. So spekuliert etwa Yoshisuke Iinuma von der Monatszeitschrift „The Oriental Economist“, dass Pragmatiker aus der DPJ und der LDP, nachdem sie in der Krise zu einem gemeinsamen Handeln gefunden haben, eine neue Partei gründen könnten. LDP-Konservative und die Anhänger der Ex-Parteivorsitzenden Ozawa und Hatoyama würden sich dann in neuen, kleineren Parteien wiederfinden.[6] Eine solche Parteienkonstellation könnte das Ende der gegenwärtigen Blockade in der japanischen Politik bedeuten. Ja, mehr noch: Manche Beobachter setzen darauf, dass ein durch die gegenwärtige Notlage hervorgerufener wirtschaftlich-politischer Aufbruch auch zu einer mentalen Erneuerung und zum Ausbruch aus der Stagnation führt, die die japanische Gesellschaft seit 1990 kennzeichnet.[7]

Kleine Hoffnungsschimmer

Inwieweit es sich dabei um bloßen Zweckoptimismus handelt, müssen die nächsten, gewiss schweren Wochen und Monate zeigen. Japan ist heute keine junge, hungrige, nach Wohlstand strebende Gesellschaft mehr. Umso wichtiger ist es, dass das traumatisierte Land jetzt nicht in Selbstmitleid und in seine unheilvolle Neigung zur Nabelschau verfällt. Japan muss sich vielmehr seiner Stärken besinnen. So hat 3/11 immerhin die Erdbebensicherheit japanischer Häuser belegt: Fast alle zerstörten Häuser waren Opfer der ungeheuren Wassermassen der Tsunamis; Japans erdbebensicheres Bauen hat sich dagegen hervorragend bewährt. Deutlich geworden ist in den letzten Wochen auch, wie sehr die globale High-Tech-Industrie auf die Zulieferung japanischer Produkte angewiesen ist. Bis heute können viele Produkte nur von japanischen Firmen so gut und effizient hergestellt werden. Diese Technologie-Triumphe sind ein kleiner Hoffnungsschimmer in einer ziemlich trostlosen Lage. Daran gilt es anzuknüpfen. Schließlich hat das Land schon einmal beweisen müssen, wie man eine atomare Katastrophe bewältigen kann.

 

 


[1] Richard Katz, After the quake – Two scenarios for economic recovery, in: „Oriental Economist”, 4/2011.

 

[2] „Japan Times”, 12.4.2011.

 

[3] „Süddeutsche Zeitung“, 11.4.2011.

 

[4] „Nikkei“, 20.9.2007.

 

[5] „Nikkei”, 10.4.2011.

 

[6] Yoshisuke Iinuma, Aftershocks – 3/11 disaster requires big changes in society, in: „Oriental Economist”, 4/2011.

 

[7] Peter Ennis, Recovering Nation Battered Japan Searches for Bearings, in: „Brookings Northeast Commentary”, 4/2011.

 

 

(aus: »Blätter« 5/2011, Seite 11-14)
Themen: Atom, Globalisierung und Ökologie