Libyen: Lizenz zum Töten?

In Libyen, dem Land mit den reichsten Ölvorkommen Afrikas, herrscht bis heute je nach Blickwinkel ein exaltierter Autokrat oder ein skrupelloser Diktator. Es ist derselbe, den die Regierungen Europas in ihren Hauptstädten mit protokollarischen Ehren hofierten, den sie an repräsentativen Stätten sein Beduinenzelt aufschlagen ließen, mit dem sie Handel trieben und Geschäfte schlossen und dessen modernste Waffen europäischer Produktion entstammen. Anders als in Tunesien und Ägypten hat die Aufstandsbewegung den alten Machthaber bislang nicht aus dem Amt zu drängen vermocht. Gaddafis Anhänger kontrollieren den bedeutenderen, die Oppositionellen den übrigen Teil des Landes. Um Größe und Grenzen der jeweiligen Besitzstände wird gekämpft.

Nach UN-Kriterien zählt Gaddafis Libyen zu den hochentwickelten Ländern der Erde. Der Human Development Index, eine Art Messlatte für Wohlstand und wirtschaftliche Entwicklung, erfasst die Lebenserwartung, den Bildungsgrad und das Jahreseinkommen eines durchschnittlichen Einwohners. Auf der globalen Länderliste belegt Libyen Platz 53. Damit überragt es alle anderen afrikanischen Staaten. Die Platzierung verrät zwar nichts über den Charakter des politischen Systems, nichts über Rechtsstaatlichkeit und persönliche Freiheiten. Aber sie gibt einen Hinweis darauf, dass es sich nicht um ein Stück Afrika handelt, dessen Reichtum notorisch in den Taschen der Mächtigen verschwindet. Was dieses Land, das sich auch in seinem Verzicht auf die Entwicklung eigener Massenvernichtungswaffen als kooperativ erwiesen hat, in den politischen Kanzleien wie in der öffentlichen Meinung des Westens binnen Tagen zum Schurkenstaat degradierte, bleibt ein noch aufzudeckendes Geheimnis.

Zum militärischen Eingreifen von außen, das am 19. März begann, gaben Nachrichten den Anstoß, Gaddafis Armee gehe mit Luftangriffen gegen friedliche Demonstranten vor. Was daran stimmt, ist bis heute unklar. Das UN-Generalsekretariat in New York, das Pentagon in Washington und sogar die westlichen Botschaften vor Ort in Tripolis sahen sich außerstande, die Schreckensmeldungen zu bestätigen. Gleichwohl erlaubt die einschlägige Libyen-Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats vom 17. März „alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um von Angriffen bedrohte Zivilpersonen und von der Zivilbevölkerung bewohnte Gebiete zu schützen“. In seiner Unbestimmtheit und Offenheit für denkbar weite Auslegungen gleicht der Text einer Blankovollmacht. Dennoch deckt er nicht jedes beliebige Vorgehen. 

Gemeint sind vielmehr die Durchsetzung des Waffenembargos gegenüber beiden Kontrahenten, das bereits die erste Libyen-Resolution vom 26. Februar verhängt hatte, und die Überwachung des Flugverbots über dem libyschen Staatsgebiet zum Schutz der Bevölkerung. Für weiter gehende Absichten, beispielsweise um einen politischen Regimewechsel zu erzwingen, bieten die Beschlüsse des Sicherheitsrats jedoch keine Handhabe. Dabei haben die maßgeblichen Fürsprecher der militärischen Intervention von Anfang an keinerlei Zweifel daran gelassen, dass der Schutz unschuldiger Zivilisten nicht den einzigen Zweck westlicher Kampfjets darstellen würde. Zugleich, wenn nicht vor allem, leisten sie Umsturzhilfe für die dem Westen genehmere der beiden Konfliktparteien im libyschen Stammes- und Bürgerkrieg.

Am 15. April war dann die Katze endgültig aus dem Sack. Die alliierte Führungstroika ließ in einem gemeinsamen Zeitungsbeitrag, der zeitgleich in der britischen „Times“, dem französische „Le Figaro“ und der „Washington Post“ erschien, wissen, wie sie sich den Kriegsausgang vorstellt.[1] Barack Obama, David Cameron und Nicolas Sarkozy verkündeten: „Laut der UN-Resolution 1973 ist es unsere Pflicht und unsere Aufgabe, die Zivilisten zu beschützen. Das ist es, was wir tun.“ Solange Gaddafi an der Macht sei, müssten die NATO und ihre Koalitionspartner die Operationen weiterführen. Würde Libyen seinem Schicksal überlassen, bestehe das Risiko, dass das Land zu einem „gescheiterten Staat“ werde, womit sich die Welt eines „skrupellosen Verrats“ schuldig mache.

Mit anderen Worten: Bis zum Amtsverzicht (oder der physischen Liquidierung?) des Machthabers in Tripolis wird weiter gebombt. Damit brüskierte die Troika nicht zuletzt ihre eigenen Bündniskollegen, die erst am Vortag auf dem Berliner NATO-Ratstreffen als Voraussetzung, die militärischen Operationen zu beenden, ausschließlich solche Bedingungen genannt hatten, die mit dem UN-Mandat im Einklang stehen. Seit Ende April werden jedoch die Zielpläne der Luftoperationen verändert. Neben militärischen Einrichtungen rücken zunehmend zivile Liegenschaften ins Fadenkreuz, darunter Gebäude, die der Gaddafi-Familie als Arbeits- und Wohnräume dienen. Regierungsangaben aus Tripolis zufolge kamen bei einem Luftangriff am 1. Mai ein Sohn Gaddafis und drei seiner Enkel um. Die NATO hat die Meldung weder dementiert noch den Vorgang bedauert, so dass zu fragen ist: Hält sie das Töten von Kindern für ein Mittel, das ihrem Auftrag entspricht, von Angriffen bedrohte Zivilisten zu schützen? Oder lautet der Auftrag vielleicht ohnehin ganz anders? 

Die Sache wird also ausgeschossen. Doch ein durchschlagender Erfolg, gar das Ende des Unternehmens, ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Zunehmend lauter rufen die Militärs nach mehr Flugzeugen mit Präzisionswaffen gegen Bodenziele. Alle vorhandenen militärischen Mittel müssten jetzt zur Verfügung gestellt werden. Unübersehbar ist: Die Zeichen stehen auf Eskalation. Zu den Opfern, die schon Gaddafis Kampf gegen den doppelten Feind innerhalb und außerhalb seiner Landesgrenzen kostet, kommen jene, die als „Kollateralschäden“ der Luftattacken zu beklagen sind.

Präzedenzfall Kosovo ?

Nach der moralischen Rechtfertigung und der politischen Verantwortbarkeit der gewaltsamen Intervention gefragt, verweisen die Befürworter mit Vorliebe auf den zeitgeschichtlichen Präzedenzfall des Kosovokriegs. Allerdings lohnt da genaueres Hinsehen. 1998 war es die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright, die mit der Prognose irrte, ein paar energische Luftschläge würden genügen, den Kontrahenten in die Knie zu zwingen. Die NATO reagierte darauf, indem sie die Schraube anzog, die Angriffsfrequenz erhöhte, die Ziellisten erweiterte. Trotzdem brauchte sie, ehe ihr Kriegszweck erreicht war, 78 Tage Dauerfeuer in 37 000 Lufteinsätzen mit Bomben und Raketen auf Straßen, Eisenbahnlinien, Brücken, Fabriken, Raffinerien, Rundfunksender – sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag.

Dass schließlich in der elften Kriegswoche der serbische Potentat die weiße Fahne hisste, verlieh ihm noch nachträglich die Gloriole eines verantwortungsbewussten Staatsmanns. Denn „sonst hätte die NATO weitergebombt“, so der damalige Oberbefehlshaber General Wesley Clark, „seine Infrastruktur pulverisiert. Wir hätten die Nahrungsmittelindustrie zerstört, die Kraftwerke. Wir hätten alles getan, was nötig gewesen wäre.“ So sah es aus, das Kriegsbild, für das eigens ein neuer Name erfunden wurde: die humanitäre Intervention. Kein gutes Omen für die Menschen in Libyen.

In den USA hatten die militärischen Experten in Präsident Obamas Sicherheitskabinett – Robert Gates, der demnächst ausscheidende Verteidigungsminister, Michael Mullen, der ranghöchste Soldat, Tom Donilon und Denis McDonough, die Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrats – einhellig vor der Verstrickung in einen weiteren bewaffneten Konflikt mit ungewissem Ausgang gewarnt. Doch eine Phalanx einflussreicher Frauen in hohen Regierungsämtern setzte sich letztlich durch: Außenministerin Hillary Clinton, UN-Botschafterin Susan Rice und die Sicherheitsberaterin Samantha Power. Ihre vorwiegend humanitäre und menschenrechtliche Argumentation gab den Ausschlag für den abrupten Schwenk der amerikanischen Libyenpolitik Mitte März.

Obgleich selbst am Schicksal des attackierten Landes nur mittelbar interessiert, hält Washington an seiner ungeschmälerten Führungsrolle fest. Dem widerspricht auch nicht notwendigerweise die Entscheidung, die militärischen Kampfeinsätze weitgehend den Verbündeten zu überlassen und sich auf unterstützende Maßnahmen zu beschränken. Im Gegenteil: Zum Markenzeichen amerikanischer Auslandsaktivitäten zählt seit geraumer Zeit der verdeckte Kampf mit Spezialkräften. Ob nun ein militärischer Gegner geschwächt oder „befreundete“ Gruppen gestärkt werden sollen, stellt lediglich die Kehrseite derselben Idee dar. Ein Gebiet, das sich wie der Ostteil Libyens unter Kontrolle des ausersehenen regionalen Kooperationspartners befindet, bietet dafür sogar besonders günstige Voraussetzungen.

Allerdings lässt der einschlägige Libyen-Beschluss des UN-Sicherheitsrats auch für diese Form der Bündnishilfe kein Schlupfloch. Die Resolution verbietet nicht nur die Lieferung von Waffen und militärischer Ausrüstung, sondern auch „die Bereitstellung technischer Hilfe, Ausbildung, finanzieller und anderer Hilfe im Zusammenhang mit militärischen Aktivitäten“ – und zwar auf dem gesamten Territorium des Staates, also auch Lieferungen und Dienstleistungen für die Aufständischen in Bengasi.

Waffenstillstand jetzt

Wie aber sonst kann die libysche Zivilbevölkerung ihrer Zwangslage entgehen, wie in den Genuss des bislang nur papiernen Schutzversprechens gelangen? Die Antwort ist so trivial wie plausibel: Die Waffen, und zwar alle, müssen zum Schweigen gebracht werden, besser heute als morgen, und nach Kräften flankiert durch die zupackende Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Eine politische Lösung, wie sie der NATO und der EU erklärtermaßen am Herzen liegt, verlangt nach politischen Impulsen. Wer hat denn bis heute denjenigen Libyern eine Stimme verliehen, die sich – allen Appellen zum Trotz, die Seiten zu wechseln – dem selbst ernannten Übergangsrat und dessen selbst ernannten Vorsitzenden noch immer nicht anzuschließen gedenken?

Zwei politische Initiativen für eine Verständigungslösung existieren, unterbreitet zum einen vom NATO-Mitglied Türkei, zum anderen von einer hochrangigen Abordnung der Afrikanischen Union. Sie gleichen sich in der vorgeschlagenen Schrittfolge: ein sofortiger Waffenstillstand, Beendigung der Belagerung eingeschlossener Städte, ungehinderte Bereitstellung humanitärer Hilfe und die Einleitung eines Verhandlungsprozesses zwischen den libyschen Konfliktparteien. Zusätzlich fordert der afrikanische Plan von der NATO, die Luftangriffe unverzüglich einzustellen. Hinter diesen Vermittlungsversuch haben sich die sogenannten BRICS-Länder gestellt: Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika. Das ist zwar optisch eine imposante Gruppierung, doch politisch offenbar zu leichtgewichtig, solange die Interventionsmächte keine Bereitschaft zeigen, ein anderes als ihr schlichtes Rezept, den Konflikt mit der Brechstange zu entscheiden, auch nur zu diskutieren.

Zum ersten Mal liegt einer Gewaltermächtigung des UN-Sicherheitsrats ausdrücklich das neue Prinzip der Schutzverantwortung (responsibility to protect) zugrunde. Die Idee dahinter ist: Versagen die nationalen Behörden beim Schutz der Bevölkerung vor Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord, so tritt subsidiär die internationale Gemeinschaft auf den Plan und ergreift geeignete Maßnahmen. Es liegt auf der Hand, dass die hehre Zielsetzung nur erreicht werden kann, wenn eigennützige Motive und Machtinteressen sie nicht überlagern. Deshalb warnen Skeptiker vor der immanenten Gefahr der als Völkerrechtsnorm erst im Entstehen begriffenen Schutzverantwortung, dem Missbrauch Tür und Tor zu öffnen. Der Libyenkrieg, so viel steht fest, hat sie nicht widerlegt.

 


[1] Dokumentiert auf www.blaetter.de.

(aus: »Blätter« 6/2011, Seite 53-56)
Themen: Krieg und Frieden und Naher & Mittlerer Osten